Das eigentliche Geschehen
Die Umwandlung des Bewusstseins. Ein Beitrag aus der Zeitschrift "DieDrei".
Die illusionäre Welt der Wohlstandsgesellschaft zerbricht gerade vor unseren Augen. Corona-Krise, Umweltkrise, Bildungskrise, Wirtschaftskrise… Die Auswahl ist groß. Was geschieht da mit uns? Hat das alles eine Bedeutung? Ich behaupte: Ja. Das eigentliche Geschehen ist, dass die Umwandlung des menschlichen Bewusstseins durch innere Arbeit schon längst fällig ist, wir uns aber mit allem anderen beschäftigen, nur damit nicht.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Ausgangslage:[1]
- Der hellste Punkt unseres Bewusstseins ist das Denken; wir orientieren uns im Leben mit Hilfe des Denkens.
- Das Denken scheint aber unseren größten inneren Problemen nicht gewachsen zu sein. Unsere Gefühle, an erster Stelle eine allgemeine, unbestimmte Furcht, lassen sich nicht wegdenken oder wegdiskutieren. Die Gedanken lassen uns gleichgültig, die Gefühle reißen uns mit. Trotzdem können uns unsere Gefühle selten Orientierung geben, weil sie nicht hell, nicht verständlich sind. Sie sind nicht erkennend, sie offenbaren bloß sich selbst. Verstehen können wir – zunächst – nur mit dem Denken.
- Wir können auf unser Bewusstsein reflektieren, wir wissen, dass wir denken; wir wissen aber nicht, wie wir denken. Wenn ich versuche, mein Denken zu beobachten, komme ich immer zu spät. Das, was ich gerade denke, wird mir erst dann bewusst, wenn ich es zumindest innerlich in Worte gegossen habe. Der Sinn des Satzes muss in mir kurz zuvor noch wortlos, in einer »flüssigen« Form vorhanden gewesen sein. Diesen formlosen Sinn kann ich aber nicht unmittelbar erleben. Ich sehe immer nur den Leichnam, die Vergangenheit des Denkens; im aktuellen, lebendigen Denkprozess bin ich unbewusst, wie im Schlaf. Mein Bewusstsein lebt also zumindest auf zwei Ebenen: oben, auf der Ebene der Gegenwart, und unten, auf der Ebene der Vergangenheit. Bewusst wird mir zunächst nur die untere Ebene.
- Unser Bewusstsein ist ein Selbstbewusstsein; ich weiß, dass ich ein »Ich« bin. Wenn ich mich aber frage: »Wer bist du wirklich?«, so geht es mir wie Peer Gynt, der den Kern einer Zwiebel finden will und am Ende mit nichts in der Hand dasteht. Ich kann zwar meine Eigenschaften und Erfahrungen aufzählen, aber worauf ich auch hinzeige: Das bin ich nicht. Derjenige, der hinzeigt – der bin ich! Von diesem Ich habe ich zunächst keine unmittelbare Erfahrung. Wie der Sinn eines Satzes hinter den Worten verborgen bleibt, so bleibt mein wahres Ich vor mir verborgen.
- Wir haben ein dumpfes Selbstgefühl um den Körper herum, das uns den ganzen Tag begleitet. Wir identifizieren uns mit diesem Selbstgefühl, und dieses will immer bestätigt werden. Das macht uns egoistisch: Unser Alltag wird danach ausgerichtet, dass das Selbstgefühl möglichst intensiv gefühlt wird – wenn möglich in angenehmer Weise, wie durch Erfolgserlebnisse, Lob oder gar Selbstlob, und wenn es nicht anders geht, auch in negativer Form, wie durch Neid, Eifersucht, Hass usw. Alles ist wünschenswerter als die Angst vor der »tödlichen Langeweile« – wie Michael Ende in seinem Buch ›Momo‹ beschreibt.
- Im Kleinkind sind Wollen, Fühlen, Denken und Wahrnehmen noch nicht getrennt. Es hat eine einheitliche Erkenntnisfähigkeit, es ist »gestimmt auf Bedeutung«[2], auf Sinn. Es lebt auch in einer bewusstseinsmäßigen Einheit mit seiner sprechenden Umgebung. Sonst könnte es nicht eine beliebige Muttersprache (manchmal gleich mehrere) erlernen.
- Jede Sprache hat zwei Seiten: eine äußere, die in Erscheinung tritt (ein in Worte gefasster Satz), und eine innere, das Verstehen (der verborgene Sinn des Satzes). Während des Erlernens der Muttersprache passt sich unser Bewusstsein dieser Struktur an. Der Struktur der Sprache folgend, bildet sich ein Innen- und ein Außenleben der Seele. Die ursprünglich einheitliche Erkenntnisfähigkeit teilt sich in Denken und Wahrnehmen auf. Und ein anderer Teil des Innenlebens verliert fast jede Erkenntniskraft, wird selbstfühlend.
- Mit der Trennung von Denken und Wahrnehmen trennen sich auch Wahrheit und Wirklichkeit. Jede Wahrnehmung wird von einem Gefühl der Wirklichkeit und jedes Verstehen mit einem Gefühl der Wahrheit, der Evidenz begleitet.[3] Deshalb halten wir die Wahrnehmungswelt für die Wirklichkeit – und nur sie. Das »Was«, die »Deutung« der Wahrnehmungswelt, kommt aber aus dem Denken. Ich sehe nur das, was ich mithilfe eines Begriffs aus dem unendlichen Kontinuum der Wahrnehmungswelt herausgliedern kann. »Ein Wort bezeichnet kein Ding, sondern mein Verstehen von etwas«, pflegte Georg Kühlewind zu sagen. Das kleine Kind erblickt also den ersten Tisch in dem Augenblick, wo es den Begriff des Tisches erfasst.[4]
- Die schöpferischen Ideen der menschengemachten Gegenstände kennen wir (ich weiß, wozu eine Kaffeetasse oder eine Büroklammer da ist). Die schöpferischen Ideen hinter der Natur sind uns aber nicht zugänglich. Die Natur beschreiben wir deshalb nur durch äußerliche Begrifflichkeiten. Die Wahrnehmungswelt grenzt an unsere Verständniswelt. Sie fängt dort an, wo unser Verstehen aufhört. Deshalb erleben wir sie als außen und real.
- Durch die Ausbildung des Selbstgefühls befestigt sich die dualistische Struktur. Wir haften immer mehr an ihr, und es entstehen weitere »Spaltungen« in uns.
- Nach dem Erlernen der Muttersprache trennen sich auch Denken und Sprechen – obgleich nicht vollständig. Das Kleinkind versteht die Sprache anfangs noch unmittelbar. Es kommt nicht von den einzelnen Worten zum Sinn, sondern umgekehrt: Es versteht zuerst den Sinn eines Satzes und erst nachher die einzelnen Worte. Durch die Routine im Sprechen entsteht aber die Möglichkeit, die Worte auch ohne oder mit verminderter Bedeutung (als »Worthülse«) zu benutzen. Das ist die Grundlage der Fähigkeit zum Lügen, d.h. etwas anderes zu sagen, als man denkt.
- Die Trennung von Denken und Sprechen ist aber auch die Grundlage der zeitgemäßen Meditation. Das ist die Fähigkeit, die denkende Aufmerksamkeit dermaßen zu erstarken, dass sie auch ohne gegebene Formen, ohne Worte, in sich besteht. In der zeitgemäßen Meditation kann der Erwachsene so werden »wie die Kinder«[5], kann den flüssigen und lebendigen Sinn unmittelbar, allerdings nun bewusst – wie die »Kinder Gottes« – erleben.
- Das sind die Hauptmerkmale unseres heutigen Bewusstseins. Rudolf Steiner nennt diese Art des Bewusstseins, die sich im Laufe der »fünften nachatlantischen Epoche« ausbildet, die Bewusstseinsseele.[6] Das Bewusstsein des Menschen war nicht immer so, und das des kleinen Kindes ist auch heute noch ganz anders.
Die Entwicklung von unten und von oben betrachtet
Die Entwicklung der Menschheit und der Welt wird von der Naturwissenschaft vom Standpunkt dieser gegebenen, dualistischen Bewusstseinsstruktur aus erzählt – meist ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie erklärt die Welt von »unten«: Im Anfang war die Materie (woher sie kommt, wissen wir nicht). Sie hat sich dann so strukturiert, dass sie zunächst lebendig wurde, dann beseelt, schließlich selbstbewusst. Warum, wissen wir auch nicht. Damit widerspricht die Naturwissenschaft sich selbst, da die Thermodynamik lehrt, dass die physische Welt stets nach der wahrscheinlichsten Struktur strebt, und das ist die Strukturlosigkeit. Wenn ein Lebewesen stirbt, zerfällt deshalb der Körper zu Staub, weil dies ein viel stabilerer Zustand und viel wahrscheinlicher ist als eine Mücke oder ein Elefant. Schon das Leben ist extrem unwahrscheinlich; der menschliche Geist, der darüber und sogar über sich selbst nachdenkt, ist noch viel unwahrscheinlicher. Dieser Widerspruch – und noch manch anderer – wird meist gar nicht bemerkt oder, wenn doch, dann wird er weggeschoben. Warum? Aus Bosheit? Wohl kaum. Aus Dummheit? Sicherlich auch nicht. Paradoxerweise eher aus der Sehnsucht nach Ehrlichkeit.
Die naturwissenschaftliche Denkweise, ausgehend von der Scholastik und ihren ersten Höhepunkt in der Zeit in und nach der Renaissance erreichend, war zunächst eine echte Befreiung des menschlichen Geistes. Man wollte sich von der Last einer Religion befreien, welche für die Menschen nicht mehr als Wirklichkeit gegeben war. Dieser Befreiungsschlag war bedeutend; er ist der wichtigste Wegbereiter für die nächste Stufe des Bewusstseins. Die naturwissenschaftliche Denkweise hat den Menschen und seine Erfahrungen zum Maß aller Dinge gesetzt und sich vom Zwang einer geistigen oder himmlischen Welt, von der man keine Erfahrung mehr hatte, befreit. Die zahlreichen Widersprüche dieser Denkweise entstehen dadurch, dass sie sich selbst nicht begründen kann. Deshalb wird die geistige Welt, aus der unsere geistigen Fähigkeiten zu uns strömen, für nicht-existent erklärt. Die Möglichkeit, dass wir unser Bewusstsein weiterentwickeln könnten, sodass es neue Realitäten, vor allem das Quellgebiet der eigenen geistigen Fähigkeiten, entdecken könnte, wird nicht einmal in Betracht gezogen.
Es gibt auch andere Erzählungen der gleichen Entwicklungsgeschichte, vor allem die von Rudolf Steiner. Er spricht nicht von einer sinnlosen, zufälligen, vielleicht von manchen Trieben (woher kommen die?) geleiteten Entwicklung. Vielmehr sieht er einen Sinn in der Entwicklung der Erde und des Menschen. Diese Entwicklung stellt er in seinen Werken sehr ausführlich, wenn auch für den heutigen Leser oft sehr schwer verständlich dar. Wir heben nur einen zentralen Aspekt heraus: Es handelt sich um eine Entwicklung des Menschen zur Freiheit. Im Anfang war nicht die Materie, sondern das Wort, der Logos, wie es im Prolog des Johannes-Evangeliums steht. Die ganze Schöpfung hat einen zentralen Sinn: dass das Geschöpf Mensch einst selbst Schöpferwesen und Gesprächspartner der Götter wird. Die Erde wurde aus dieser Idee heraus durch verschiedene Entwicklungsstufen hindurch erschaffen, und auch die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins wurde lange von oben geführt.
Dieser Prozess verläuft aber nicht ohne Störung. Aus einer verfrühten Sehnsucht nach Freiheit heraus haben sich manche Schöpferwesen von den anderen abgesondert. Damit haben sie aber gerade ihre Möglichkeit zur Freiheit verloren, und seitdem hängen sie sich an die Menschenseelen an, in der Hoffnung, dadurch ihre Freiheit zurückzugewinnen. Sie verleiten uns einerseits zu einer Art – mit einem Ausdruck von Georg Kühlewind – »kosmischer Faulheit«. Etwa nach dem Motto: Ich bin schon vollkommen, wie ich bin (höchstens die anderen sind nicht in Ordnung). Oder sie verleiten uns zu einem krampfhaften Eifer, die großen Ideale der Menschheit ohne entsprechende Vorbereitung, meist in technisierter Form, zu verwirklichen.[7] Rudolf Steiner nennt die erste Art der Versuchung luziferisch, die zweite ahrimanisch. Beide Kräfte leben in uns und wirken durch uns, zumeist gleichzeitig, aber nicht im Gleichgewicht. Trotz aller Widerstände konnte die Menschheit der Neuzeit bis zur Ebene der Bewusstseinsseele geführt werden. Entscheidend in dieser Geschichte war die Erlösung. Christus, der Träger des Logos, hat dessen Samen in uns, in unsere schwache Seele (unser »Fleisch«) gesät.[8] Darum können wir uns heute auf uns selbst besinnen und uns für einen Neuanfang entscheiden.
Mit der Stufe der Bewusstseinsseele haben wir einen Wendepunkt erreicht. Dadurch, dass der Mensch fähig wird, auf sein Bewusstsein – wenn auch nur auf dessen Vergangenheit – zu reflektieren, kann er die Verantwortung für dasselbe zu übernehmen. Er wird mündig. Die Götter haben sich aus unserer Welt zurückgezogen, um dem Menschen für die Erlangung seiner Freiheit Raum zu geben. Die Welt ist mit Steiners Ausdruck »götterleer«[9] geworden. Die materialistische Denkweise interpretiert das so, dass es gar keine Götter gibt. Solange das Bewusstsein nur auf seine Vergangenheit zu schauen vermag, kann man es auch nicht anders sehen. Gefühlsmystik und verworrene Esoterik helfen uns aus dieser Patsche nicht heraus.
Man kann sich allerdings auf Folgendes besinnen: Ich kenne nur die Vergangenheit meines Denkens. Es muss aber auch eine Gegenwart haben, und die zu erkennen, kann für mich nicht unmöglich sein. Warum ist es mir nicht gegeben, die eigene Gegenwart zu erfahren? Weil diese Fähigkeit in Freiheit erlangt werden soll. Die Erfahrung des Alltags-Ich, des Stellvertreter- Ich ist gegeben. Das wahre Ich sollte aber aus eigener Initiative erfahren werden. Diesen Schritt muss der mündige Mensch selbst tun. Er kann einen inneren Schulungsweg antreten. In den Übungen der Konzentration und Meditation[10] wird unsere Aufmerksamkeit so stark und rein, dass sie ohne Objekt in sich bestehen kann. Dies ist die Erfahrung des wahren Ich, in ständiger Erneuerung, in kontinuierlicher Neugeburt. Und diese Erfahrung wäre der Eintritt in die nächste Epoche der Menschheit, in die des Geistselbst[11], in die sechste nachatlantische Epoche. Das müsste heute das eigentliche Geschehen sein.
Streit und Frieden
In seinem Vortrag vom 30. Mai 1908 sagte Rudolf Steiner:
Heute ist mit der Individualität, mit der Persönlichkeit des Menschen noch im hohen Grade verknüpft, dass die Menschen sich streiten, dass die Menschen verschiedene Meinungen haben und behaupten: Wenn man nicht verschiedener Meinung sein dürfte, würde man ja kein selbständiger Mensch sein. Gerade weil sie selbständige Menschen sein wollen, müssen sie zu verschiedenen Meinungen kommen.[12]
Nie war diese Beobachtung so gültig wie heute. Nie wurde so viel gestritten – die aktuellen Streitigkeiten über die Corona-Krise zeigen das deutlich. Das dualistische, egoistische Bewusstsein kann nicht anders. Es hat Angst, vernichtet zu werden, wenn es seine Grenzen nicht verteidigt. In gewisser Hinsicht zu recht. Das dualistische Bewusstsein ist nur ein Übergangszustand. Es schattet uns von der sonnenhaften Quelle des Bewusstseins ab, und in diesem Schatten, in der Schwäche des am Gehirn abgeschwächten Denkprozesses, kann der Keim der Freiheit in der Seele aufgehen. Wenn aber die Seele sich dieser Lage bewusst wird, dann müsste sie sich aus dem Schatten herauswagen. Gerade durch das Hinopfern des egoistischen Bewusstseins wacht das wahre Ich auf.
Die »eigenen Meinungen«, die wir so heftig verteidigen, haben ein interessantes Merkmal: So unterschiedlich sind sie nämlich gar nicht. Sie folgen gewissen Mustern, es bilden sich Gemeinschaften, innerhalb derer man anscheinend gleicher Meinung ist. Es bilden sich Lager, Meinungsgemeinschaften (um nicht zu sagen, Lügen-Gemeinschaften), die einander mit Argumenten bekämpfen, die meistens weder stichhaltig noch vollständig sind. Das Denken ist dabei nicht rein, wie z.B. in der Mathematik, sondern es mischen sich von Interessen, von Wünschen und von Emotionen geleitete Störungen hinein.
Die Bildung solcher Meinungsgemeinschaften zeigt aber noch etwas: Die Sehnsucht nach Gemeinschaft lebt sehr stark in uns. Es entstehen Gruppierungen, die einen eigenen »Dialekt« an Meinungen und Argumentationen bilden, und alle, die sich ihnen anschließen, müssen sich an die Regeln halten. Wer das nicht tut und rebellische Meinungen vertritt oder unerlaubte Fragen stellt, wird ausgestoßen. Eine wahre Gemeinschaft würde aber anders funktionieren. Sie würde aus geistig freien Menschen bestehen, die sich an keine Regel, kein Schema halten –, aber dafür sich tatsächlich rein geistig begegnen können.
»Am friedlichsten und harmonischsten werden die Menschen sein, wenn der einzelne Mensch am individuellsten sein wird«[13], sagte Rudolf Steiner in dem zitierten Vortrag. Das klingt nach Widerspruch. Sind wir mit unseren starken Meinungen nicht »am individuellsten«? Eben nicht. »Am individuellsten« ist jemand, der die oben skizzierte Ich-Erfahrung erleben kann. Das Alltagsbewusstsein, das dualistische Bewusstsein kann das nicht, es ist ein in sich geschlossenes Ersatz-Ich-Bewusstsein. Ein Schatten des sonnenhaften Ich-Bewusstseins.
Die Quelle des Bewusstseins ist eine gemeinsame für alle Menschen – sonst könnten wir uns nicht einmal auf der Ebene des alltäglichen Denkens verständigen. Wir könnten auch nicht streiten – denn dazu muss man einander schon weitgehend verstehen. In der konzentrierten Aufmerksamkeit, in der Meditation können wir die lebendigen Quellen unserer geistigen Fähigkeiten bewusst erfahren. Darin erleben wir eine Einheit von Wahrheit und Wirklichkeit, Innen und Außen, Oben und Unten.[14] Auch eine Einheit mit den Menschen, die sich ebenfalls in diesem Bewusstseinsbereich aufhalten können. Und ein Verständnis für jene, die das vielleicht noch nicht können. Wenn wir lernen, uns auf dieser höheren Ebene des Bewusstseins zu bewegen, dann hören die Streitigkeiten von selbst auf.
Dann trifft die Wahrheit, die in der einen Seele gefunden ist, genau zusammen mit der Wahrheit in der anderen Seele; dann streitet man nicht mehr. Und das ist die Gewähr des wahren Friedens und der wahren Brüderlichkeit, weil es nur eine Wahrheit gibt, und diese Wahrheit hat wirklich etwas zu tun mit der geistigen Sonne.[15]
Jeder, der regelmäßig in einer Meditationsgruppe mitarbeitet, kennt das. In der Besprechung der Übungen entstehen keine Streitigkeiten, auch keine Diskussionen. Nicht, weil man sich wohlerzogen benimmt, sondern weil kein Bedarf da ist. Das »genaue Zusammenstimmen« bedeutet nicht, dass alle die gleichen Sätze sagen. Aber alle, die in der Übung eine gewisse Intensität der Aufmerksamkeit erreicht haben, berichten aus dem gleichen Erfahrungsbereich. Man versteht einander auch, wenn sich jemand ungeschickt, bruchstückhaft ausdrückt. Man freut sich, wenn jemand etwas sagt, was man selbst nicht gesehen hat. Eifersucht, Neid, alle egoistischen Gefühle schweigen. Freude, Frieden und Liebe übernehmen ihre Plätze.
In der konzentrierten geistigen Aktivität erfahren wir uns selbst wie neu geboren, als ein selbstständiges, sich in fortwährendem Werden befindliches Wesen – weil hier »der einzelne Mensch am individuellsten sein« kann. Und dann kann er auch mit anderen Menschen eine Gemeinschaft bilden. Eine, die nicht auf gemeinsamen Regeln und Schemata beruht, sondern auf neuen Erfahrungsbereichen. Dann erfahren wir den Frieden: »Noch nie war Friede – er wird aber sein. Friede! / Ihr ersehnt ihn bloß … aber nicht genug. / FRIEDE IST DIE NEUE SCHWINGUNG, DIE NICHTS ALTEM GLEICHT«[16] – sagt der Engel der kleinen Gruppe von Menschen, die ihm zuhören. Der Frieden ist etwas Neues, das der Mensch in die Welt bringen muss. Frieden ist keine Pause zwischen den Kriegen und auch nicht der Zustand vor der Entstehung des Krieges, sondern die Überwindung des Krieges – in uns. Frieden können nur Menschen schaffen, die auch den Krieg – den Krieg des dualistischen Bewusstseins – erfahren haben. Wenn das dualistische Bewusstsein sich ins Geistselbst verwandelt, braucht es keine Kriege mehr.[17] Und darauf warten auch die höheren Wesen, dass der Mensch diese neue Qualität, den sich ständig erneuernden Frieden in die Welt bringt. Den neuen Atem, den neuen Herzschlag des Geistes, die »neue Schwingung, die nichts Altem gleicht«.
Angst und Freude
Der Schutz des Schattens des egoistischen Bewusstseins ist eine Weile notwendig; ohne diese Abschottung würde der Mensch fortwährend in direkter Verbindung mit den geistigen Wesen stehen, deren Inspirationen ihm keinen Raum für Freiheit lassen würden. So war es in der frühen Menschheit, und so ist es noch immer bei den kleinen Kindern. Sobald aber der Mensch seiner bewusstseinsmäßigen Lage bewusst werden kann, braucht er diesen Schutz nicht mehr. Wie das Küken durch die Eierschale eine Weile geschützt wird, aber sie mit seinem zarten Schnabel durchbricht, wenn es dazu reif wird, so müssen wir die gegebene Grenze des Bewusstseins durchbrechen und die Verantwortung für seine Fortentwicklung selbst in die Hand nehmen. Wenn wir nach alten Mustern weiterleben, wird die Eierschale immer härter und dicker und wir laufen Gefahr, sie nie mehr durchbrechen zu können. Die Häufung der Krisen zeigt deutlich, dass die Dramatik dieser Lage ständig wächst. Was unsere seelische Gesundheit betrifft, sind wir alle mehr oder weniger ein Fall für ein »seelisches Beatmungsgerät«. Und der Name dieses »Beatmungsgeräts« ist: Üben.
Würde die nächste Bewusstseinsstufe aber ohne Schulungsweg, ohne unser Zutun in unsere Seele einbrechen, dann würde sie uns vernichten. Wenn die Eierschale von außen, zu früh aufgebrochen wird, ist auch das Küken nicht lebensfähig. Es ist eine Gnade, dass der Schritt auf die nächste Stufe uns selbst überlassen wird. Wenn wir ihn nicht tun oder ihn verfrüht herbeizwingen, dann haben wir diese Gnade verspielt. »Verfrüht« bezieht sich nicht auf das Datum. Es bezieht sich auf den Reifegrad unserer Seele: Daran zu arbeiten, ist schon längst fällig. Das Alltagsbewusstsein lebt in ständiger Angst – zu Recht, weil es keine wahre Existenz hat. So haben manche Angst vor der Krankheit, manche vor der Impfung, manche vor ... das Angebot an »Angst-Gründen« ist riesig. Das sind nur Erscheinungsformen der gleichen Furcht – die vor der Vernichtung des Alltagsbewusstseins. Dank des Logos-Keimes in uns können wir aber schon in diesem Bewusstsein einen Anfang setzen. Das Alltagsbewusstsein kann seine existenzielle Angst durch den Entschluss: »Ich fürchte mich nicht mehr« nicht ablegen. Es kann aber den Entschluss fassen, sich selbst umzuwandeln. Dann wandelt sich auch die Angst um: in Freude und in Liebe: »Freust du dich zehnmal, so sind neun Lücken zwischen den zehn Freuden. / In unendlicher Freude wurdest du zu Beginn der Welten gezeugt. / Die EINE Freude ist dir möglich.«[18]
Der Mensch wurde in unendlicher Freude erschaffen. Die Freude ist eine Urfähigkeit in uns. Kleine Kinder können sich freuen, noch bevor sie sprechen und bevor sie lieben können. In der Welt der Angst verlieren wir die »EINE Freude« und versuchen diesen Mangel durch Spaß und Genuss (die »zehn Freuden«) zu ersetzen. Die neue Welt, welche durch die Erlangung eines neuen Bewusstseins entsteht, bringt aber die Urfreude zurück. Jeder, der regelmäßig Konzentrations- und Meditationsübungen macht, kennt das. Die Erfahrung des Neuen im Bewusstsein ist immer von Freude begleitet. Nicht Jubel über den Erfolg, darum geht es nicht. Aber stille Freude am Tun und am Erfahren des sich fortwährend erneuernden Seins. Diese Freude »ist dir möglich «. Wir müssen sie erlangen. Und dann weitergeben. Man hat nur so viel Freude, wie man weitergibt. Der Engel sagt:
Das ist die Freude: Die Bewegung beginnt … strömt aus … gibt sich hin … und kehrt zurück, wie der Atemzug. / Im Herzen ist der Anfang, das Ende und die Freude. / DIE FREUDE IST DIE LUFT DER NEUEN WELT. [...] Mein Friede ist dein Friede. / Meine Freude deine Freude.[19]
Der Logos erklingt im Urbeginne aus Freude am Tun, an der Kommunikation. Zunächst unter den Schöpferwesen, dann zwischen Schöpfer und Menschen. Das egoistische Bewusstsein vertreibt diese Freude. Nun müsste sie unter den Menschen auferstehen, die selbst zu Schöpferwesen werden. Kann es eine schönere Aufgabe geben als diese?
DEIN WEGWEISER SEI DIE FREUDE.[20]
LASZLO BÖSZÖRMENYI | geb. 1949 in Budapest, hat in seiner 45-jährigen Laufbahn als Informatiker über 200 wissenschaftliche Schriften veröffentlicht und zahlreiche Forschungsprojekte geleitet. 1992 bis 2017 war er Professor für Informatik an der Universität Klagenfurt und stand dort dem Institut für Informationstechnologie vor. Parallel zu akademischer Forschung und Lehre lernte er die Anthroposophie und im Jahr 1978 Georg Kühlewind kennen, woraus sich eine lebensprägende Begegnung entwickelte. Er ist heute als Vortragsredner und Seminarleiter zu anthroposophischen Themen, vornehmlich zu Fragen des Übungsweges, tätig. Zuletzt erschienen von ihm: ›Mondenlicht – Sonnenlicht. Die Umkehr zur Quelle der wissenschaftlichen Denkweise ‹, Frankfurt a.M. 2020, und: ›Georg Kühlewind – Ein Diener des Logos‹, Stuttgart 2022.
[1] Ich stütze mich in dieser stark komprimierten Bestandsaufnahme neben meinen eigenen inneren Erfahrungen auf mehrere grundlegende Werke von Rudolf Steiner: ›Die Philosophie der Freiheit‹ (GA 4); ›Die Geheimwissenschaft im Umriß‹ (GA 13); und von Georg Kühlewind: ›Bewußtseinsstufen‹, Stuttgart 1976; ›Das Leben der Seele zwischen Überbewußtsein und Unterbewußtsein‹, Stuttgart 1982; ›Vom Normalen zum Gesunden‹, Stuttgart 1983 (Neuauflage 2017).
[2] Vgl. Georg Kühlewind: ›Meditationen über Zen-Buddhismus, Thomas von Aquin und Anthroposophie‹, Stuttgart 1992, S. 20ff. Die andere »Grundgestimmtheit« in dieser Darstellung ist die »zum Guten«, vgl. a.a.O., S. 32ff.
[3] Diese »Gefühle« sind Ausnahmen, keine selbstfühlenden, egoistischen Gefühle. Wir nennen sie deshalb oft gar nicht Gefühle, obwohl gerade sie die »richtigen« Gefühlen sind; sie fühlen etwas anderes, wie die Qualität von Wahrheit.
[4] Das ist eines der unlösbaren Probleme des maschinellen »Sehens«. Eine Computersoftware vermag keine Begriffe zu erfassen, und deshalb kann sie die Gegenstände nicht erkennen. Eine sogenannte »machine learning software« kann das allerdings recht gut nachahmen, wenn sie mit vielen visuellen Beispielen »trainiert« wird. Der Mensch sieht aber ganz anders – weil er die Funktion des Gegenstands versteht. So kann er einen Gegenstand auch dann erkennen, wenn er ganz anders aussieht als üblich. Das kann keine Maschine. Vgl. Laszlo Böszörmenyi: ›Mondenlicht – Sonnenlicht‹, Frankfurt a.M. 2020
[5] »Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, dass ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« Mt 18,3.
[6] Vgl. Rudolf Steiner: ›Die Geheimwissenschaft im Umriß‹ (GA 13), Dornach 1989, S. 69f.
[7] Die moderne Informatik ist voll von solchen Ideen, wie z.B. die Unsterblichkeit des Menschen durch ein Ersetzen seiner Körperzellen durch widerstandsfähige Kunststoffteilchen zu erreichen. Vgl. Laszlo Böszörmenyi: op. cit.
[8] Vgl. Georg Kühlewind: ›Das Gewahrwerden des Logos‹, Stuttgart 1979 und ders.: ›Das Reich Gottes‹, Stuttgart 1994 (Neuausgabe 2021).
[9] Vgl. Rudolf Steiner: ›Anthroposophische Leitsätze‹ (GA 26), Dornach 1998, S. 103.
[10] Vgl. ders.: ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ (GA 10), und Georg Kühlewind: ›Vom Normalen zum Gesunden‹ sowie ders.: ›Licht und Freiheit‹, Stuttgart 2004. Eigentlich sind alle Bücher von Kühlewind und viele von Steiner diesem Thema gewidmet.
[11] GA 13, S.71ff.
[12] Ders.: ›Das Johannes- Evangelium‹ (GA 103), Dornach 1995, S. 174.
[13] Ebd.
[14] Vgl. Georg Kühlewind: ›Weihnachten – Die drei Geburten des Menschen‹, Stuttgart 1989.
[15] GA 103, S. 175.
[16] Gitta Mallasz: ›Die Antwort der Engel‹, Einsiedeln 1981, S. 163 (28. Gespräch mit Lili). Diese Gespräche zwischen Engeln und Menschen haben während der schlimmsten Zeiten des Zweiten Weltkriegs in Budapest stattgefunden. Viele Menschen glauben an so etwas nicht. Ich auch nicht. Aber die Qualität der Texte überzeugt von ihrer absoluten Authentizität.
[17] Vgl. Laszlo Böszörmenyi: ›Über die Freundschaft‹ – http://www.itec.aau.at/~laszlo/Antro/Freundschaft.pdf
[18] Gitta Mallasz: op. cit., S. 84 (17. Gespräch mit Lili).
[19] A.a.O., S. 162f. (28. Gespräch mit Lili).
[20] A.a.O., S. 100 (19. Gesprächmit Lili).