Die Ki-Kraft in der japanischen Kultur und das Ätherische in der Anthroposophie
Ein Artikel aus der Zeitschrift „Anthroposophie“, Johanni 2021.
Was die Japaner «Ki» nennen, heißt bei den Chinesen «Chi», sprachlich richtiger «Qi», und ist als solches auch bei uns wenigstens begrifflich bekannt. Dass sich die westliche Kultur in die Teilung von Geist und Materie begeben hat, ist aus der Perspektive der asiatischen Kultur nicht nachvollziehbar. Hier geht es um das Ki. Ki ist eines der ersten und urältesten Begriffs-Schriftzeichen, die im chinesischen Kulturraum gefunden wurden. In dieser Kultur wird fundamental in den Kategorien von «wenig Ki» oder «viel Ki» gedacht. Rolf Elberfeld hat in seinem Buch «Sprache und Sprachen» (Freiburg/Br. 2012) auf sechs Seiten eine Zusammenstellung von japanischen Wörtern gemacht, in denen «Ki» vorkommt. Und wir sehen: Ki ist in sehr vielen substantivischen Begriffen als Schriftzeichen enthalten und in seinen verbalen Begriffs-Schriftzeichen geht es vielfach um Aktivitäten, die durch gestörtes Ki, frei fließendes Ki und emotional sicheres, starkes Ki charakterisiert sind. Ki ist der bedeutendste Begriff der chinesischen Kulturgeschichte und wird in unzähligen Funktionen verwendet. Vor der Gewaltigkeit dieser Bedeutungsvielfalt mag es wie ein kaum zulässiger Reduktionismus erscheinen, so von Ki zu sprechen, wie in diesem Beitrag.
Einer Demonstration der Ki-Kraft konnte ich bisher nur ein einziges Mal beiwohnen.[1] Es war Anfang der 1980er-Jahre in Todtmoos-Rütte, in der existenzialpsychologischen Bildungs- und Begegnungsstätte von Karlfried Graf Dürckheim. Graf Dürckheim selbst hatte eine Einführung in die Praxis des stillen Sitzens im Stile des Zen gegeben, hatte darauf hingewiesen, wie die Praxis sich eine Erd-Gründung des Menschen erschließt und wie damit einhergehend sich verborgene Kräfte im Menschen offenbaren können. Die Erd-Gründung ist in der japanischen Kultur durch den Begriff «Hara» gekennzeichnet. Hara ist zugleich eine Bezeichnung für «Bauch» und für ein spirituelles Kraftzentrum, das dort (genauer: etwas unterhalb des Bauchnabels) seinen Sitz hat. Dürckheim hatte in den 1940er-Jahren in Japan das stille Sitzen des Zen intensiv praktiziert und später erlebt, wie diese Praxis ihn durch schwierigste Lebensperioden in seelischer Integrität hindurchtragen konnte. Das hing damit zusammen, dass er sich den Zugang zu dieser Ki-Kraft erarbeitet hatte. Er gab uns eine Demonstration von Ki-Kraft, indem er seinen Arm hob, uns die Hand hinstreckte und die Kuppe seines Zeigefingers leicht auf den Daumen legte, wobei sich eine kleine Öse formte. Nun sprach er davon, dass er mit seiner Willenskraft – er war damals ein kleiner, zwar gesunder, aber doch mit Mitte Achtzig nicht mehr in der Kraft seiner Jugend stehender Mensch – diesen Zeigefinger an den Daumen pressen würde, und forderte uns auf, den Zeigefinger vom Daumen zu trennen. Das war uns jungen Leuten mit kräftigen Armen damals leicht möglich. Darauf legte er in derselben Art die Finger wieder aneinander und erklärte, nun würde er Ki-Energie aus seinem Hara in die Finger einleiten, und wir sollten erneut versuchen, sie zu trennen. Ich selbst ging hin, zunächst etwas zögerlich, da ich diesem alten Herrn ja keine Gewalt antun wollte, und versuchte es erneut. Die Finger waren jetzt wie angenietet. Es war nicht möglich sie zu trennen. Ein eindrückliches Erlebnis, ich hätte es mir sonst nicht über Jahrzehnte bewahren können.
Die Ki-Kraft und die Lotosblumen
Wer Erfahrung in der Praxis des Stillen Sitzens hat, weiß, dass in dieser Praxis die Bewusstseinstiefe enorm gesteigert werden kann, weiß, dass die Menschen des Ostens an der Ausgestaltung ihres Haras arbeiten, indem sie die Wege der Blumensteckkunst, des Bogenschießens oder der Kampfkünste beschreiten. Wer die berühmten Sumo-Ringer kämpfen sieht, mag sich darüber wundern, warum ihr seelischer Ausdruck des Gesichts so wenig lebhaft ist, warum ihre Augen so wenig aktiv zu sein scheinen. Tatsächlich ist das Sumo-Ringen ein Paradebeispiel für das Handeln aus dem Hara heraus, und wir sehen, wie ein blitzschnelles Handeln zum Sieg führt, ohne dass augenscheinlich der Sehsinn und die Gedankenkalkulation die Grundlage dafür bilden würden. Sumo ist die Kunst, die Bodenhaftung nicht zu verlieren, denn wer die Bodenhaftung verliert, wird augenblicklich aus dem Kreis gedrängt und hat damit verloren. Dass die Verankerung im Hara mit Stabilität und einem prinzipiellen Wohlgefühl verbunden ist, aus dem auch die Kräfte des Ki herrühren, scheint ohne Zweifel zu sein. Aber es wäre falsch, Ki lediglich mit «Kraft» zu übersetzen, schließlich war es nicht die bloße körperliche Kraft, die die damalige Demonstration veranschaulichte sondern eher etwas, das aus etwas Übernatürlichem, aus etwas Geistigem heraus geschehen war, weshalb Ki in der deutschen Übersetzung auch «Geist», «Seele», «Energie» heißt und im Japanischen mehrdeutig vorkommt. So heißt das japanische Wort «Ten Ki» auf Deutsch wörtlich «Himmel-Geist» und bedeutet im Alltäglichen «das Wetter». Wenn ich auf Japanisch frage «Gen Ki wa», heißt das verdeutscht «Wie geht es?», wortwörtlich jedoch «Ursprung-Geist, wie ist er», es geht also nicht etwa um eine Kraft, über die ich willkürlich verfügen kann, sondern um eine Verfassung, die mich ursprünglich bewegt, antreibt, belebt, mein Wohlsein begründen kann oder auch nicht.
Dürckheim war nicht daran gelegen, kleine magische Wunder zu vollbringen – das Erscheinen derartiger Fähigkeiten war lediglich das genuine Zeichen und die unwillkürliche Verfügbarkeit solcher Erscheinungen infolge langer Übung und vor allem auch persönlicher Begabung – nein, Dürckheim war in seinem Lebenswerk daran gelegen zu zeigen, dass die reine Kopfgedankentätigkeit keine stabile Gründung der Persönlichkeit bewirken kann, sondern dass es für eine wahre Gründung des Verankertseins in den vitalen Zentren des Unterleibs bedarf. Erst aus der Gewecktheit dieser beiden Bereiche kann der Aufbruch in das Übernatürliche gelingen.
Der anthroposophisch Belesene erkennt in den vitalen Zentren des Unterleibes die sog. Lotosblumen in der Nabel-Gegend. Rudolf Steiner beschreibt sie folgendermaßen: «Schwieriger als die Ausbildung der beschriebenen Lotosblumen [des Kopfes, Halses, Herzens etc.; J. H.] ist diejenige der Sechsblättrigen, welche sich in der Körpermitte befindet. Denn zu dieser Ausbildung muss die vollkommene Beherrschung des ganzen Menschen durch das Selbstbewusstsein angestrebt werden, so dass bei ihm Leib, Seele und Geist in einer vollkommenen Harmonie sind.»[2]
Es scheint nun die Eigenart der ostasiatischen Kultur zu sein, die spirituelle Entwicklung aus der Entwicklung dieses Kraftzentrums heraus zu leisten. Wäre diese Herangehensweise nur zu verstehen aus der Tradition der Kampfkünste und als spiritueller Entwicklungspfad gebaut auf der Grundlage des Willenspols, uns Westlern wäre das weniger vertraut. Wir stehen mit Descartes in der Tradition des denkenden Ringens und finden unseren Einstieg in die spirituelle Entwicklung im Denken. Entsprechend schreibt Rudolf Steiner: «Dieses Denken […] Es wird gewissermaßen in einen Punkt zusammengefasst, welchen der Mensch ganz in seiner Gewalt hat. Dadurch wird ein vorläufiger Mittelpunkt geschaffen für die Strömungen des Ätherleibes. Dieser Mittelpunkt ist zunächst noch nicht in der Herzgegend, sondern im Kopfe. […] – Nur eine solche Geheimschulung hat den vollen Erfolg, welche zuerst diesen Mittelpunkt schafft.»3
Die spirituellen Praxen in der japanischen Kultur
Die geistigen Entwicklungspraxen der japanischen Kultur sind niedergelegt in den
Disziplinen der «Wege», japanisch «Do». Beispiele sind der Weg des Bogenschützen «Kyo Do», des Schwertkämpfers «Ken Do», der Tee-Zeremonie «Cha Do», der Blumenarrangements «Ikebana» oder des Stillen Sitzens «Zen». Diese Wege werden so verstanden, dass sie die Auseinandersetzung des Übenden mit einer konkreten Tätigkeit zum Inhalt haben, wobei diese Tätigkeit im Lauf der Jahre oder Jahrzehnte gemeistert werden muss. Hier werden vom Bewusstsein des Übenden die sinnlich-technischen und persönlich-seelischen Aspekte der jeweiligen Übung durchlebt und durchlitten, selbstverständlich unter der Anleitung und Obhut eines Erfahrenen/ Meisters.
Diese Praxen sind insofern keine Religion, als man Religion als Anbetung aus einer Innerlichkeit heraus oder als zeremonielle Tätigkeit und Einbeziehung von transzendentalen Qualitäten (Gott), auf die hin eine innere Ausrichtung erfolgt, verstehen möchte. Die japanische Praxis ist ein bewusstes Ergreifen einer bestimmten Disziplin des Lebens selbst und hat das entschiedene Ziel der Intensivierung, Verdichtung des Lebens. Niemandem muss vermittelt werden, dass diese Wege langwierig, unüberschaubar und nicht schmerzfrei sind. Religiös zu nennen sind diese Wege insofern, als sie in der Heiligung des Lebens selbst, respektive in der Form und Essenz der jeweiligen Übung selbst bestehen. Und religiös sind sie auch, wenn man unter Religion die eigene innere seelische Entwicklung und Vervollkommnung betrachten möchte, eben das Eingeständnis, dass der allgemeine Status quo des Unreflektiert-dahin-gelebt-Habens nicht die Krone der Schöpfung und die Bestimmung des Lebens sein kann. Keine der japanischen Disziplinen bleibt bei dem schematischen Repetieren von Bewegungslinien oder dem kognitiven Verstehen stehen. Alles Mechanistische und bloß Verstandesgewohnte muss transzendiert werden. In der anthroposophischen Diktion formulieren wir es so, dass alles daraufhin angelegt ist, den Sprung in die Bewusstseinsseele anzulegen.
Beispiele für japanische Weg-Künste
Bogenschützen-Künste sind in der kulturellen Wertschätzung der Japaner ganz hoch angesiedelt. Beim Bogenschießen, dem «Kyo Do», ist der zugrundeliegende Gedanke nicht, eine Technik zu erlernen, um eine Maximalzahl an Ringen zu treffen, sondern jener Umstand, dass der Schütze, der Bogen, der Pfeil und das Ziel nicht nur in einem bloßen physisch-ortsgebundenen Zusammenhang stehen, vielmehr eine ideelle Einheit bilden, eine Einheit, in die sich die Bewusstseinskraft des Schützen ergießen muss. So ist es dann nicht mehr nur der Schütze, der aus dem Leistungsanspruch oder seinem Ehrgeiz heraus möglichst genau ins Innere der Zielscheibe zu treffen versteht, sondern es ist (zugleich) das Ziel selbst, das sich dem Pfeil verbunden findet und so dem Schützen die Richtung gibt, wohin er sich selbst und damit den Bogen auszurichten hat. Für die Gesamtkomposition dieses Ensembles, für die Stimmigkeit der einzelnen Bezüge untereinander, von denen die Bestimmtheit des Pfeils auf das Ziel nur eines ist, die tragende Kraft jedoch die innere Reife des Schützen darstellt, spielt es dann keine Rolle mehr, ob die Zielscheibe im Tageslicht, im Licht einer Kerze oder sogar in völliger Dunkelheit steht: Der Pfeil trifft ins Zentrum der Scheibe.[3] Die prosaischste, fast abstrakte Übung in diesem Zusammenhang ist die Praxis des Zen, des stillen Sitzens. Auch dieses Zen ist eine Weg-Kunst. Man fragt sich: Worin besteht diese Kunst? Was tut ein so bloß dasitzender Mensch als Praktizierender? Zur Antwort erhält man gewohnheitsmäßig von Zen-Praktizierenden, das «Sitzen» würde praktiziert. Das ist natürlich keine befriedigende Antwort. Gewiss, öffnete ich die Tür zu einem Raum, in dem solcherweise Praktizierende ihren Zen trainieren, würde man die Sitzenden als «Sitzende» erblicken. Aus der eigenen Perspektive der Sitzenden als in einem reglosen Zustand bloß Verharrenden wäre auch die Antwort möglich: Ich atme oder ich lasse mein Herz schlagen oder ich vergeude die Zeit in der Verweigerung, nützliche Dinge zu erledigen. Die Frage ist durchaus erlaubt, in welcher Form solches eine Praxis sein kann, die das Essenzielle des Lebens in den Blickpunkt rücken möchte. Die einzig mögliche Antwort, insofern es sich um eine dynamische, seelen-initiierte Tätigkeit handelt, kann also nur heißen: Ich praktiziere die Selbstreflexion meines Bewusstseinsfeldes. In diesem Feld regt sich einerseits der physisch-sinnliche Leib. Er lässt von sich hören in der Gestalt, dass sich der Rücken verspannt oder der Nacken, dass die Knie oder Füße die Ruhestellung nicht gewohnt sind und ausbrechen wollen. Es regt sich genauso der Gedankenfluss, sei es, dass unkontrolliert Gedanken hochkommen, um sich zur Schau zu stellen, sei es, dass es sich um unsere Lieblingsideen handelt oder dass Gedankenstränge gezielt verfolgt werden, die mit den augenblicklichen Lebensumständen zusammenhängen und auf eine Lösung drängen. Es können sich auch die Gefühlsebene manifestieren, Ärger einstellen, Trauer oder Depressionen, die von einer tiefen Unzufriedenheit und Sinnlosigkeits-Gefühlen herrühren. Dies sind Stationen auf dem Weg. Doch wie geht es weiter, wohin mag der Weg führen? Führt die Meditation uns dahin, die Tiefenschau vorzubereiten? Ist diese Art der stillen Meditation, verstanden als die Praxis der Vergegenwärtigung des Logos, nicht überhaupt die Mutter aller Meditationen, jener Bemühung, die uns den Blick öffnet für dasjenige, was am tiefsten wesenhaftig in uns ist, von dem Rudolf Steiner schreibt «Es kann durch nichts überrascht, von keinem Missgeschick befallen werden; es kann nicht in Verwirrung gebracht und nicht überwunden werden»[4]?
Die Japaner verweisen im Verlaufe ihrer Weg-Künste-Übungen immer wieder auf ihr Kraftzentrum im unteren Leib, das sie «Hara» oder auch «Tanden» nennen. Es verkörpert den Sitz des eigentlichen Schwerpunkts und den Mittelpunkt der Vitalität und ist die Voraussetzung für unbedingte Wachheit, Präsenz, also «im Augenblick sein», jenem Augenblick, in den sich kein verirrter Gedanke hineingeschoben hat, sondern der der Augenblick einer Tat ist, in deren Vollzug man nicht mehr zerfällt in ein inneres Kommentieren: Hier ist mein Leib und ich bewege mich gerade als Folge willensgesteuerter Gedanken.
Die Ausbildung von Hara als Fähigkeit, sich von dem Wahrgenommenen unmittelbar durchdringen zu lassen, es von innen zu schauen, es in seinem Wesen zu erkennen, findet seine Anwendung in den Kampfkünsten als durchschlagende Zielgerichtetheit.
Indem das persönliche Bewusstseinsfeld in dieser leibbezogenen Region als Anker erwacht ist, entsteht die Kraft des Ki und findet ihren Weg ins Weben des allgemeinen Lebens und natürlich in die Gestaltungen der Weg-Künste. Wir bewundern sie, wie erwähnt, in den oft geradezu atemberaubend gestalteten Blumengestecken der Ikebana, in der unglaublichen Schnelligkeit der Schwertkampfduelle oder in den raffinierten Abläufen der Sumo-Ringkämpfe, in denen diese äußerst beleibten Ringer sich mit kaum nachzuvollziehender Geschicklichkeit aus der engen Wettkampffläche hinaus zu befördern wissen.
Wie begreifen wir dagegen das Ätherische in der Anthroposophie?
Tatsächlich scheint der Terminus «Äther» (und damit zusammenhängend des «Ätherleib») mit seiner Ausdifferenzierung in die Unterarten Wärmeäther, Lichtäther, Chemischer Äther und Lebensäther eine weitgehend anthroposophische Thematik zu sein. Ich kenne sie aus keiner anderen Tradition derart ausformuliert. Wir lernen im anthroposophischen Grundstudium, dass wir einen physischen Leib besitzen, einen Ätherleib, einen Astralleib usw. Merksatzhaft beschreibt Steiner den Ätherleib (synonym «Lebensleib»): «Der Lebensleib ist eine Wesenheit, durch welche in jedem Augenblicke während des Lebens der physische Leib vor dem Zerfall bewahrt wird.»[5] Das Wort«Wesenheit» klingt in diesem Zusammenhang merkwürdigerweise nach einer eigenständigen Entität, die mir gegebenenfalls gegenüberstehen könnte, jedenfalls von mir völlig unabhängig agieren kann; dazu übernimmt diese Wesenheit noch so fundamentale Verantwortlichkeiten wie den Unterhalt meines Leibes.
Der Mensch hat einen Ätherleib, heißt es oft prosaisch in anthroposophischen Kreisen. Dieses «hat» klingt problematisch, denn etwas, das wir haben, darüber können wir frei verfügen, so, wie wir über unser Leben verfügen, indem wir essend und trinkend, Leib und Leben erhalten, bei Bedarf auch mit warmer Kleidung. Aber können wir über unseren Ätherleib wirklich verfügen? Können wir über etwas verfügen, dessen Zustandekommen, Existenz, Tätigkeitsbereich uns gänzlich unbekannt ist? Frage ich dagegen, ob ich ein Ätherleib «bin», so kann ich in ein operierendes Benehmen mit dem Ätherleib einsteigen: Ich kann mich fragen, ob und wie mein Ätherleib sich mir zum Spüren offenbart. Rudolf Steiner nennt den Ätherleib bekanntlich auch «Zeitenleib», vermutlich im Gegensatz zum physischen Leib, den man in diesem Zusammenhang wohl als einen Raumesleib bezeichnen könnte. Natürlich besteht der Zeitenleib nicht aus Zeit, sondern er ist die Ursache dafür, dass sich im Verlauf der Zeit im Lebendigen etwas gestaltet. Gestaltung aber hat mit Kräften zu tun, Kräfte, die den Wandel zustande bringen. Insofern nennt ihn Rudolf Steiner synonym «Bildekräfteleib».Dies ist die Bedingung, die die Grundlage für die gesamte Bildekräfte-Arbeit schafft. Ich wende den Blick ab von den sinnlichen Eindrücken, die mir die gewohnte Welt offenbart, und richte meine Aufmerksamkeit auf ein Spürbewusstsein, das sich über die Ausdehnung meines physischen Leibes hinaus erstreckt und das mich zu Beginn von Übungen in Verwunderung versetzt, dass es überhaupt existiert. In die Schulung genommen, erweitert sich die Wahrnehmungssphäre und konkretisiert sich in immer klareren inneren Erlebnissen, die zwar einen Bezug zur sinnlichen Welt haben, aber nicht sinnlich wahrzunehmen sind. Wir können deutlich erlebnishafte Wahrnehmungen empfinden, die wie hell sind oder wie wässrig, luftig, warm usw. Das feine Nachverfolgen dieser Wahrnehmungen unterscheidet im Lichthaften Nuancen wie strahlend, sphärisch hell, Funken sprühend, milchig und vieles mehr.
Ich möchte im Folgenden in die konkreten Erlebnisse der ätherischen Qualitäten beschreibend einsteigen, weniger in die Äther selbst, da die ersteren leichter für die Wahrnehmung verfügbar gemacht werden können, indem sie sich durch Betrachtung von Gegenständlichkeiten vermitteln lassen, während die Äther, der Chemische Äther und insbesondere der Lebensäther als solche schwerer zu fassen sind. Ein Rückgriff auf Hinweise Steiners aus grundlegenden Schriften, die eine Orientierung für ätherische Qualitäten ermöglichen, ist nicht unbedingt einfach zu erhalten. Wir finden zwar eine Darstellung eines ätherischen Seelenerlebnisses in einer Fundamentalschrift mit der Kapitelüberschrift «Der Meditierende versucht eine wahre Vorstellung von dem elementarischen oder ätherischen Leib zu gewinnen», wo er eine Erlebnis- Situation aus einem Traum heraus beschreibt mit den Worten: «Man fühlt sich etwa allseitig von Gewitterstürmen umgeben. Man hört Donner und vernimmt Blitze. Man weiß sich in einem Zimmer eines Hauses. Man fühlt sich durchsetzt von einer Kraft, von welcher man vorher nichts gewusst hat. Dann vermeint man Risse um sich her in den Mauern zu sehen. Man ist veranlasst, sich oder einer Person, die man neben sich zu haben glaubt, zu sagen: Jetzt handelt es sich um Schweres; der Blitz geht durch das Haus, er erfasst mich; ich fühle mich von ihm ergriffen. Er löst mich auf.»[6] Die hier geschilderte Situation ist schwierig einzuschätzen, wenn es darum geht, sich durch beispielhafte Erlebnisse belehren zu lassen, wie und als was Ätherisches in das Bewusstsein tritt. Suchen wir ein Übungsfeld für die ätherische Wahrnehmung, so sind ein beliebtes, weil äußerst lohnendes Studienobjekt die sieben Planetenmetalle.
Wie geht die Meditation auf Ätherisches vonstatten?
Wir nähern uns den Metallen in meditativer Absicht. Jedoch nicht in der Art, wie etwas zu Lesendes im betrachtenden Denken nachvollzogen und verstanden werden muss, sondern in der Art, dass wir in guter Sammlung auf etwas hinschauen und dabei zugleich in uns selbst hineinschauen. Intensives Schauen, ein In-die-Hand-Nehmen der Metalle, sich innerlich mit der Wesenhaftigkeit, der Idee des Metalls verbinden. Das betrachtete Objekt in die Seele einladen, bis man damit durch und durch getränkt ist. Daraus die Qualität des Durch-und-durch-getränkt-Seins erforschen und zu beschreiben versuchen, mit sich selbst über diese Art des «Getränkt-Seins» zu reflektieren. Aus diesem Prozess bilden sich geistige Inhaltselemente, bei denen nicht ganz entschieden ist: Spricht hier etwas Gefühltes oder etwas Gedachtes? Ein Fühlen, das ein Denken ist. Auf jeden Fall stellt sich das Erlebnis ein: Das habe ich so gar nicht gewusst! Wo kommt das her? Wo bin ich überhaupt hier, insofern ich einen Zugang habe, der offensichtlich ist und tief beeindruckend und über mein gewohnheitsmäßiges Erleben weit hinausreicht? Die Frage erscheint, ob da etwas gefühlt oder lediglich gewusst wird. Doch die Antwort lautet: Du kannst alles in der Welt wissen über die Metalle, aber im Kontakt doch nichts spüren, nichts erleben! So sind diese Meditationen zugleich eine Vergewisserung, ob man in der Lage war, in Unvoreingenommenheits-Übungen wirkliche Unvoreingenommenheit zustande zu bringen. Denn je mehr man sich im Vorfeld mit eventuell zutreffenden Erlebnis-Möglichkeiten beschäftigt, um so schwieriger wird es, ein späteres authentisches Erlebnis zu bekommen.[7]
Beispielhafte innere Erlebnisse beim Blick auf die ätherischen Eigenschaften der Planetenmetalle
Im Folgenden sollen beispielhaft innere Erlebnisse gegeben werden, wie sie sich aus der Meditation über die Planetenmetalle ergeben haben.[8]
Zinn in der Gestalt von kleinen, frisch geschmolzenen und erkalteten Placken: Sehr hell, klar, Dur, ausstrahlend, sonnenverwandt, klare Struktur, gerade Linien, nicht die Sonne, aber helles Licht, trockenes, helles Strahlen, geht auf die Knochen, hat aber auch kleine unabhängige Strahlenzentren, alles wird leicht und hell, Aufrichte und oben-und-unten-Orientierung, festlich freudige Jupiterstimmung geht auf. Wenn Zinnstangen abrupt gebogen werden, entsteht ein «Zinnschrei» genanntes merkwürdiges Geräusch. Dieses Geräusch wird wie ein Knochenbrechen erlebt.
Quecksilber als Metall in Fläschchen: Viel Information, aber alles ist nicht sicher, man kommt dort nicht hinein (es gibt dort keinen Ort!), es ist eine ständige Aufforderung zur Bewegung wie Bewegungszwang, unangenehm vibrierende innere Hülle, Zappelphilipp-Charaktereigenschaft, innere Beweglichkeit um das Herz, spritziges Glücksempfinden beim Musik-Machen als Kind, es bildet sich ein äußerer Kranz um den Leib herum, von dem eine Unruhe ausgeht. Diese Unruhe stimuliert den Atem.
Eisen als plattgeschlagene Nägel: Kraft strömt ein, überall im Körper gekräftigt, aktiviert, man möchte aufstehen und reden über das, was man für wichtig hält, starke Bluterfahrung, Zirkulationskraft des Blutes mit starker Kopf-Erfahrung, Kronenerfahrung, innere Stärke wie ein Ritter, rauschendes belebendes Ballen in den Gliedmaßen, ballend hinten an Nacken, Oberarme und Oberschenkel, Festigkeit im Unterleib.
Blei als Blech: Warmes Empfinden, unter den Füßen ein dunkler Schacht, tiefe Ruhe und Dauerhaftigkeit, will dort bleiben in Dunkelheit, aber auch: «Geh da nicht rein! Dem bist du nicht gewachsen!» Alles wird schwer und leblos, sackt nach unten. Was bleibt zurück? Ein Bewusstsein in der Stille, allein bezuglos, in der Stille hört die Zeit auf, alles sinkt nach unten, alles verlangsamt sich, alles wird ruhiger, Ohren wie zugestopft, wie in einem tiefen Brunnen bleiben, Umkreis ist jedoch hell, wach, warm, Gegensatz zwischen innen und außen.
Silber, frisch geschmolzene und erkaltete Placken: Magisch anziehend, man möchte folgen ins Geheimnisvolle, «Irgendwoher kenne ich das!» – drückt das schwer zu Beschreibende aus, schalenartige Formen, an die man trotz intensiver Bemühung kaum herankommt, eine Hülle, in der ein Gestaltungsraum gebildet wird, wie eine große Erwartung, eine Empfängnisgeste, – aber was wird empfangen, der Mond gibt sein Geheimnis nicht preis: wie schwarzes Wasser, unwirkliche Welt, kühl, fremd, einsam, verloren, Sonnenstrahlung strahlt ab auf anderes, Silber strahlt auf sich selbst.
Kupfer als natürliches vorkommendes Metall: Feine Wärme, zart, weich, man möchte nicht wieder aussteigen (aus der Meditation über das Kupfer), Schalenform im Beckenbereich, fordert auf, einen Klang zu hören, mütterlich gehüllt, in feine Sphären gehüllt, stark im Herzen angesprochen und gelagert, in einen Zustand kommend, in dem wunderbares wohliges Verweilen ist.
Gold als Barren: Freudige Stimmung, voller Unbeschwertheit, wohlig wärmend, lebendig, komplett, die Ganzheit ansprechend, die Ganzheit meiner selbst meinend, der Jubel des Goldrauschs, etwas Erhabenes, ein Licht, das alle Regenbogenfarben enthält und dadurch ein besonders erfülltes Licht ist, Wärme und Helligkeit, alles wird weit und fühlt sich großartig an, warm, lichtvoll aus dem Brustbereich ausstrahlend; so entsteht ein Kreis, der immer größer wird, lebendig pulsierend.
Ausblick
Während in Japan die Ki-Kräfte seit Jahrhunderten in die Kultur integriert worden sind, stehen wir mit den ätherischen Wirksamkeiten noch in der Anfangsphase, und es geht darum, die Kräfte für unsere innere Wahrnehmung zu entdecken. Es versteht sich von selbst, dass auch die Anwendungen in heilenden, heilpädagogischen und erzieherischen Bereichen noch erst im Entstehen begriffen sind.
Vielfach kann man lesen, dass der Äther in seinem anthroposophischen Verständnis dem Ki der Japaner, dem Qi/Chi der Chinesen entspräche und wohl auch dem «Prana» der Inder. Ich habe versucht, in diesem Artikel Unterschiede herauszuarbeiten.[9] Das Hara und das Ki führen in die Intensivierung der Gegenwärtigkeitskräfte, in die Verstärkung der Seinskräfte. Dieser Aspekt ist in der anthroposophischen Welt wenig geläufig, da er mit den verborgenen Kräften der unteren Chakras zusammenhängt. Das Ätherische in seiner Ausbildung als ein Organ eröffnet dagegen die Wahrnehmung der Ätherwelten. Wenn wir uns diesen Ätherkräften öffnen, spricht die Welt zu uns auf eine neue Weise, angeregt aus Aktivitäten, die mit den eher oberen Chakras gesteuert werden. Das eine schließt nicht zwingend das andere aus.
Ich habe Beispiele für die Wirksamkeiten der sieben Planetenmetalle gegeben. Wenn wir mit den Wesenheiten dieser sieben Metalle vertraut werden, erschließen sich uns im Weiteren die Qualitäten der damit verbundenen Planetenbäume Esche, Ulme, Kirsche, Eiche, Buche, Birke und Ahorn. Im Pantheon in Rom, einem der fantastischsten Gebäude aller Zeiten, verehrten die Römer alle Götter, d. h. alle sieben Planetengötter. Die archäologische Forschung ist sich heute nicht sicher, wie viele und welche der römischen Götter ihren Altar im Pantheon fanden. Ich bin der festen Überzeugung, dass am Horizont eine erweiterte Qualität von Forschung aufzieht, in der die hier angedeuteten ätherischen Wahrnehmungen eine wichtige Rolle spielen werden. Wir werden dann nach Rom fahren, um zu meditieren, ob und wo wir diese Planetengötter in den Altarnischen jenseits historischer Quellen entdecken können. Ebenso fahren wir nach Griechenland, nach Süditalien, um die ätherischen Qualitäten der griechischen und römischen Tempel in den Kategorien der Planetenqualitäten direkt zu erleben. Wir können uns auch fragen, wie wir die sieben Wochentage als Wirksamkeiten der sieben Planetengeister spüren können. Denn da ist sie wirksam, unsere ätherische Welt! Und die Planetenqualitäten sind geradezu ein Alphabet der Ätherwirkungen. Ein Alphabet unter mehreren möglichen.
Ich habe es gewagt, eine gewissermaßen esoterische Abgrenzung von Ki und Äther zu entwerfen. Mit «esoterisch» meine ich in diesem Zusammenhang die Unterschiedlichkeit, die darin begründet ist, wenn wir das Ki und den Äther in die Hand, d. h. in die meditative Übung nehmen und was sich dabei für uns als sich geistig entwickelnde Personen ergibt. Schaute man dagegen auf Ki in seiner Gestaltung der Welterscheinungen (z. B. der Bildung und Gestaltung von Wolken) und auf den Äther ebenfalls in seiner Gestaltung der weltlichen Zusammenhänge, würden die beiden Begriffe in eine große Nähe zusammenrücken.
Jörn Heinlein, *1955, ist freiberuflicher Dipl.-Chemiker und arbeitet an Forschungsprojekten und kommerziellen Aufträgen im eigenen Institut. Das Insistieren Rudolf Steiners, es sei Zeit, ein neues Hellsehen zu entwickeln, ernst nehmend, hat er eine meditative Praxis aufgenommen. Er hat ab den 1980er-Jahren in verschiedenen Zenzentren und Klöstern an diversen, auch mehrmonatigen Übungseinheiten teilgenommen. Seitdem beschäftigt ihn die Möglichkeit, den meditativen Erfahrungskontext mit anthroposophischer Geisterkenntnis zu durchdringen und auch in der sogenannten Bildekräfteforschung Gestalt werden zu lassen.
[1] Ich habe lange über die Unterschiede von anthroposophischem Äther und asiatischem Ki gerätselt und mich nicht an eine Differenzierung herangetraut. Der vorliegende Beitrag ist entstanden, als die Aufforderung von Ulrike Wendt (Eurythmistin) an mich herangetragen wurde, geplant als ein Beitrag zu einem Kompendium über den anthroposophischen Äther. Ihr sei hier ein besonderer Dank ausgesprochen.
[2] Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten. (GA 10), Dornach 1972, S. 96. 3 Ebd., S. 101.
[3] Einen schönen, frei verfügbaren Artikel über die Wege der Künste und im Besonderen jene der Bogenschützen hat Matthias Obereisenbuchner gegeben, zu finden unter www.m-obereisenbuchner.de publikation.
[4] Rudolf Steiner: Mantrische Sprüche. Seelenübungen II, 1903–1925. (GA 268), Dornach 1999, S. 107. Die Sinnhaftigkeit meditativer Übung muss in Japan genauso wie bei uns erst erkannt werden, bevor sie absichtsvoll in die tägliche Praxis genommen werden kann. Dies dokumentiert z. B. die berühmte Provokations-Frage eines Schülers an einen Zen-Meister: «Was passiert, wenn alle Blätter vom Baum runter sind?», d. h. bildlich gesprochen, wenn sämtliche die Seele vordergründig belastenden Alltagsquälereien, alle Träumereien und konzeptionellen Ideen über Welt und Leben transzendiert wurden? Warum sollen wir daran arbeiten? Worauf der Meister schlagfertig antwortet: «Goldener Hauch!» Mit anderen Worten: Die Seele erlebt endlich die Fülle des Lebens.
[5] Rudolf Steiner: Theosophie. (GA 9), S. 31.
[6] Rudolf Steiner: Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen. (GA 16), S. 15.
[7] Vielfältige Übungsanweisungen und Studien zu den ätherischen Kräften finden sich in den Publikationen der Gesellschaft für Bildekräfteforschung e. V., www.bildekraefte.de.
[8] Hier sei ein Dank an die Hamburger Äther-Studiengruppe ausgesprochen, an GH, EB, MK, MS u. a. m.
[9] Das Prana der indischen Kultur müsste meines Erachtens an anderer Stelle und noch auf ganz eigene Art gegriffen werden.