Zwischen Fundamentalismus und Relativismus
Bewegungsfreiheit im Umgang mit dem Werk Rudolf Steiners. Aus der Johanni-Ausgabe 2023 der Zeitschrift „Anthroposophie“.
Wissenschaft und Wissenschaftsfundamentalismus
Zur Gründungsgeschichte der neuzeitlichen Wissenschaft gehört die Verketzerung Galileis durch die Kirche des Mittelalters. Galilei wurde nicht nur vorgeworfen, dass er behauptet hatte, dass die Erde um die Sonne kreist. Auch die von ihm aufgestellten Bewegungsgesetze, die Inbegriff der neuzeitlichen Wissenschaft sind, widersprachen der Lehre der Kirche, weil sie die göttliche Ordnung des Kosmos in Frage stellten. Dieser zufolge streben das Feurige nach oben, das Feste aber nach unten, denn ein jeder Körper sucht den ihm zugehörenden Ort auf. Galilei setzt demgegenüber voraus, dass es keinen Unterschied zwischen himmlischen und irdischen Körpern gibt und dass alle Körper denselben Bewegungsgesetzen unterliegen. Das Neue der durch ihn begründeten Wissenschaft liegt keineswegs in der Entdeckung dieser «Tatsache», sondern im methodischen Aufstellen dieses Axioms. Axiome sind selbst keine Erkenntnisse, sondern unbeweisbare Voraus- Setzungen, die aber das Gewinnen von spezifischen neuen Erkenntnissen auf ihrer Basis ermöglichen.
Etwas Ähnliches hat sich in der Ausbildung der Evolutionstheorie durch Haeckel am Ende des 19. Jahrhunderts ereignet. So wie Galilei die Differenzierung in himmlische und irdische Körper durch Setzung von Axiomen fallengelassen hat, so hat Haeckel beispielsweise die ontologische (wesenhafte) Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch aufgehoben und die grundsätzliche Einheit aller Lebewesen behauptet. Auch ist die Voraussetzung, dass Entwicklung sich in der Vererbung vollzieht, den Axiomen Galileis vergleichbar. Dadurch kommt es zur neuen Abstammungslehre, die nicht nur der biblischen Schöpfungslehre, sondern auch der Sonderstellung des Menschen widerspricht. Und wiederum hat sich eine christliche Opposition gebildet, der Kreationismus. Eine vergleichbare Gegenbewegung gibt es bis heute zu den Axiomen Galileis nicht. Es bleibt zwischen Galilei und Haeckel ein wichtiger Unterschied: Während Galilei niemals der Weltanschaulichkeit oder des Wissenschaftsfundamentalismus bezichtigt wurde, wird dieser Vorwurf heute von wissenschaftlicher Seite aus gegen Haeckel erhoben. Die Kategorie «Fundamentalismus» ist gerade deshalb so produktiv, weil sie sowohl in Bezug auf die Wissenschaften als auch in Bezug auf die Religion eingesetzt werden kann. – Auch die Anthroposophie ist nicht vor der Gefahr einer Fundamentalisierung gefeit.
Wissenschaftsfundamentalismus liegt beispielsweise dort vor, wo das, was nicht «wissenschaftlich» bewiesen werden kann, als nichtexistent oder unwahr erklärt wird. So behauptet der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, dass Religion eine Illusion sei und es keinen Gott gebe. Die Wissenschaft könne alles durch natürliche Prozesse erklären.[1] Man muss weder Christ noch Anthroposoph sein, um dagegen einzuwenden, dass dies keine wissenschaftliche Aussage ist und dass der Verfasser hier performativ seine eigene Unwissenschaftlichkeit offenbart. Würde Dawkins darlegen, dass Gott in seiner Weltanschauung keinen Platz hat, wäre das keine unwissenschaftliche Aussage. Aber wer behauptet, dass seine Weltanschauung nach wissenschaftlicher Methode gewonnen und gesichert ist, setzt sich heute massiver philosophischer und wissenschaftlicher Kritik aus. Weltanschauungen werden nicht durch Forschung gewonnen, sondern sie werden konzipiert. Sie entstehen vom Ganzen her, bilden sich in der Voraussetzung von Axiomen und Sinndeutungen und treten meist unterschwellig auf. Schelling spricht von einer Handlung der Intelligenz, wenngleich einer bewusstlos produktiven Handlung der Intelligenz. Von ganz unterschiedlichen Seiten aus wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts der Unterschied zwischen Einzel-Forschung und einer Konzeption des Ganzen ins philosophische und wissenschaftliche Bewusstsein gerückt: Heidegger spricht in den späten 20er-Jahren von einem vorgängigen Seinsverständnis, der Mediziner, Forscher und Philosoph Ludwik Fleck beschreibt 1934 die «Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache». Karl R. Poppers «Logik der Forschung» von 1934 ist zu nennen und Thomas S. Kuhns «Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» von 1962. Alle genannten Autoren zusammen arbeiten von sehr unterschiedlichen Seiten her an der grundlegenden Veränderung des Wissenschaftsverständnisses, die zur Folge hat, dass Fundamentalismus zu einer Kategorie wird, die ebenso innerhalb der Theologie wie innerhalb der Wissenschaften eine unverzichtbare selbstkritische Bedeutung bekommt. Rudolf Steiners erkenntnistheoretische Schriften ebenso wie seine theosophische Anknüpfung gehören in eine ganz andere Wissenschaftsepoche, in die Epoche, in der Haeckel zur Avantgarde gehörte.
Naturwissenschaft, so hatten Olaf Breidbach und Uwe Hoßfeld aber 2008 gerade am Beispiel Haeckels dargelegt, droht immer wieder ihren methodisch-hypothetischen Rahmen zu verlassen, wenn sie beansprucht, neue weltanschauliche Maßstäbe mit einer angemaßten Autorität zu setzen, die popularisierend über die Grenzen bestimmter Fachgebiete und die naturwissenschaftliche Methode hinausgeht.[2] Harald Seubert bezog das 2015 nicht nur auf den Darwinismus, sondern auch auf die Hirnforschung. Er spricht von einem «wissenschaftlichen Fundamentalismus», der leugnet, was nicht in seinen Erklärungsmöglichkeiten liegt, und damit die Grenzen der Falsifizierbarkeit überschreitet. Darwinismus und biblizistischer Kreationismus gelten ihm beide als Erscheinungen einer Fundamentalisierung.[3] Der Soziologe Werner Huth hatte 1995 den Fundamentalismus dahingehend beschrieben, dass Begründungen unbefragbar werden und deshalb erstarren. Das Bedürfnis nach und das Erlebnis von Gewissheit wuchert, bordet über und führt zur Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden, zum Vergessen der eigenen Fehlbarkeit.[4]
Damit wird zuletzt noch eine weitere Besonderheit des Fundamentalismus sichtbar: Er steht grundsätzlich in einer Beziehung zu seinem Gegenpol, dem des Relativismus. Relativismus und Fundamentalismus erzeugen sich gegenseitig, schaukeln sich auf, sind beide unfrei. Die Minderung des Wahrheitsanspruchs durch die Rede von einem aller Forschung vorgängigen Seinsverständnis (Heidegger), die Rede von vielfältigen Weltanschauungen (Jaspers), von Denkstilen und der «Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen» (Fleck), vom Wechsel wissenschaftlicher Paradigmen (Kuhn) wirkten auf den wissenschaftlich wahrheitssuchenden Laien ähnlich wie die liberale Theologie und die historisch-kritische Methode auf den Bibelgläubigen wirkt. In beiden Bereichen bilden sich fundamentalisierender Gewissheitsanspruch und Relativierung antagonistisch heraus. In der Wahrnehmung dieses Sachverhaltes liegt aber nun auch eine Chance. Die Anthroposophie ist dazu disponiert, sie zu ergreifen, denn die Idee einer dritten Kraft zwischen den Polen der luziferischen Selbstüberhebung und der ahrimanischen Relativierung der Wahrheit ist ihr vertraut.
Die beiden Anziehungspole im Spiegel anthroposophischer Autoren
Jost Schierens Versuch, die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie und seines Umgangs mit dem Werk Steiners zu konkretisieren, ist heftig diskutiert worden. Ausgangspunkt war die Behauptung, dass es im Werk Steiners weniger um die Mitteilung von inhaltlichen Entdeckungen als um heuristische, zur Überprüfung angebotene Thesen gehe. Der in der Kritik schnell vergessene Kontext dieser Aussage bildete die Abwehr der Rassismusvorwürfe und die Behauptung der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie gegen deren Bestreitung.[5] Später hat Schieren dann davon gesprochen, dass die Esoterik der Anthroposophie nicht in fixierbaren Inhalten bestehe, sondern in einer Bewusstseinshaltung, dass sie nicht als Vorstellungen zu fassen und mitzuteilen sei, dass diese Esoterik statt dessen eine «Schulungsleistung» des einzeln Menschen sei und nur als Vollzugsform des Denkens erfahren werden könne.[6] Er hat versucht, das durch die Abgrenzung vom sogenannten «naiven Realismus» verständlich zu machen. Steiner charakterisiert diesen in «Die Philosophie der Freiheit» dadurch, dass er sich alles Wirkliche am Muster der Sinnlichkeit vorstellt, beispielsweise die unsterbliche Seele als ein feinstoffliches Gebilde. Schierens Alternative zur Gefahr einer naiv-realistischen Entnahme von vorstellungshaften Inhalten aus dem Werk Steiners ist das «Vollzugsbewusstsein».[7]
Neben Schierens Auffassung halten wir nun eine Veröffentlichung von Josef F. Justen, die grundlegende «Erkenntnisse» Rudolf Steiners als kommunizierbare Inhalte anbietet. Unter dem Titel «Das Götterprojekt ‹Mensch›. Entstehung, Wesen und Ziel des Menschen. Einführung in die grundlegenden Erkenntnisse der Anthroposophie Rudolf Steiners« verspricht er seinem Leser Antworten auf alle existenziellen Fragen. Nicht nur das: Er behauptet, dass diese Fragen «wirklich seriös und umfassend» nur im Licht der Anthroposophie beantwortet werden können. Hier werde der «Schleier, der die Erdenwelt von den übersinnlichen Welten trennt» gelüftet.[8] Durchaus ähnlich drückt sich auch Axel Burkart aus, der in «Das große Rudolf Steiner Buch» thematisch geordnet und kommentiert ebenfalls auf grundlegende Fragen nach der Seele, nach der Liebe und nach Gott Antwort gibt. Ähnlich wie Justen spricht er pauschal und undifferenziert allen Theologen und Naturwissenschaftlern die Kompetenz zur Beantwortung dieser Fragen ab.[9]
Die Anziehungskraft der beiden Pole des Fundamentalisierens und des Relativierens lässt sich in dieser Gegenüberstellung jeweils deutlich erkennen. Justen und Burkart stellen Steiner als Einzig-Wissenden gegen die ganze Welt. So wie fundamentalisierende Christen die Bibel als «Zeugnis der Wahrheit» geltend machen, so präsentieren auch diese beiden Autoren das Werk Steiners. Freilich präsentieren sie es nicht als göttliche Offenbarung oder Glaubensinhalt, sondern als Sammlung von fragmentarisierten Erkenntnissen, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang, aus der Situation ihrer Darstellung in einem Buch oder Vortrag abgelöst und als zeitloser Wissensinhalt dargeboten werden. Dass andere Autoren vielleicht eine ganz andere Idee vom Ganzen des steinerschen Werks haben könnten, wird nicht erwogen. Zwischen Steiners Forschen und dem Niederschlag seiner Forschungen in seinen Büchern gibt es hier keinen nennenswerten Unterschied, ebenso wenig wie es unterschiedliche Interpretationen dieser uns von Steiner überlieferten Texte gibt. Die beiden Autoren befriedigen das Bedürfnis nach konkreten esoterischen Inhalten bei denen, die für solche Literatur empfänglich sind, und kümmern sich nicht darum, dass wissenschaftlich arbeitende Menschen daraufhin davon abgehalten werden, auch nur einen Blick in ein Werk Steiners zu werfen. Sie haben kein Bewusstsein dafür, dass andere Anthroposophen, die in einer wissenschaftlichen Bildungslandschaft sozialisiert sind, durch solche Veröffentlichungen massiv diskreditiert werden. Schieren hingegen enttäuscht das inhaltliche Bedürfnis und stimuliert einfach nur (wenig) dazu, es mit einem Buch Steiners zu probieren. Aber er scheint mir deutlich weiter vom Relativismuspol entfernt als Justen und Burkart vom Fundamentalismuspol.
Ulrich Kaiser und das Verstehen der Erzählung
Im April 2022, also fast zeitgleich mit Schierens erstem hier genannten Artikel, erschien im «Korrespondenzblatt» ein Artikel von Ulrich Kaiser. Günter Röschert, einer der beiden Herausgeber der Zeitschrift, hatte Kaisers Buch «Der Erzähler Rudolf Steiner»[10] gelesen und den Autor gebeten, einen Aufsatz über die Interpretation des steinerschen Werks zu verfassen. Als Erzählung aufgefasst, benötige das Werk ja ganz besonders eine «Deutung» durch den Leser und die könne nicht «primitiv wort-wörtlich» sein. Kaiser entwickelt dann in seinem Beitrag den Unterschied zwischen einem eher subjektiv verfassten «Deuten» zu einem «Verstehen», das erheblich mehr enthält als den logischen Nachvollzug der Gedankenbewegung oder die Einfühlung in die Intention des Autors. Er sieht im Verstehen eine Aktivität des Lesers, die durchaus Berührungspunkte mit der «Vollzugsform des Denkens» bei Schieren besitzt, die aber über die Grenzen des Denkens hinausgeht, ohne in das Vorstellungshafte zurückzufallen. Das «Verstehen» im Sinne Kaisers richtet sich primär auf die gestaltende Arbeit Rudolf Steiners, die mit fixen «Strukturelementen» (Wesensglieder, Hierarchien, Zeitstrukturen etc.) umgeht. Es geht also nicht um das Lehrbare von Wissensinhalten, sondern um das Ereignishafte des jeweiligen Vortrags oder Texts.[11] Die Darstellungsform der Erzählung ist auf das Verstehen eines Erzählzusammenhangs angelegt, der über den logischen Zusammenhang immer wieder durch dramatische Elemente, durch unerwartete Wendungen, ja Brüche hinausgehen kann. Der hermeneutische Ansatz des Verstehens unterscheidet sich damit vom «Erkennen» der naturwissenschaftlichen Forschung. Die Literaturgattung der Erzählung ist als solche weniger auf Überprüfung angelegt als auf das Miterleben. Das Inhaltliche nimmt Kaiser deshalb – so hatte er es zuvor in seinem Buch dargestellt – nicht als wissenschaftliche Hypothese, sondern als «Lebenshypothese» und beruft sich dabei auf eine Empfehlung Steiners, deren Kontext interessanterweise die Problematisierung der in der Esoterik drohenden Autoritätshörigkeit ist.[12]
Kaiser spricht im Korrespondenzblatt kritisch von der anthroposophischen Gewohnheit einer naturwissenschaftlichen «Rahmung» des Umgangs mit dem Werk Steiners, die nicht zwischen Erkennen und Verstehen unterscheidet und deshalb an der Frage der «Überprüfbarkeit» hängenbleibt. Das ist oft zu beobachten, so auch noch im jüngsten Beitrag zur Debatte. Markus von Schwanenflügel sucht die Relativierung, die mit Schierens These von dem hypothetischen Stellenwert der steinerschen Aussagen verbunden ist, dadurch abzuschwächen, dass er die «Hypothese» zwar nicht dem Selbstverständnis Steiners zurechnet, aber dennoch als angemessene Auffassung des Lesers rechtfertigt: Weil wir Steiners Schauungen nicht direkt durch eigene Schauungen überprüfen können, nehmen wir sie inhaltlich als Arbeitshypothesen und prüfen sie auf Widerspruchsfreiheit.[13] Am Schluss von Schwanenflügels Beitrag steht die sehr plausible Vermutung, dass das Eingeständnis, dass wir die Methoden Steiners auch nach 100 Jahren nicht selbst realisieren können, dem Dialog mit der Öffentlichkeit einen anderen Charakter geben könnte.
Wahrheit jenseits des Abbildlichen
Die Rede von der «Lebenshypothese» ist eine Entdeckung im Werk Rudolf Steiners und passt ganz hervorragend zu dem großen und wichtigen Komplex der Darstellungen über das Leben nach dem Tod. Wenn heutige Wissenschaftsfundamentalisten zu wissen meinen, dass es kein nachtodliches Dasein geben könne, weil es wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann, so hat die Reaktion «Lebenshypothese» in Verbindung mit der Kritik der Unwissenschaftlichkeit solcher Aussagen einen ganz anderen Charakter als ihn die Behauptung hätte, dass es mit den wissenschaftlichen Methoden Rudolf Steiners sehr wohl beweisbar sei. Mit dieser Reaktion würden wir dem einen Fundamentalismus nur einen anderen gegenüberstellen. Wenn wir darauf verzichten, enthalten wir uns des Urteils über die «Wissenschaftlichkeit» Rudolf Steiners, können aber vielleicht andere gute Gründe dafür anführen, dass wir die Bewahrheitung solcher Aussagen erwarten.
Aber nun nehmen wir ein anderes Beispiel: Aus einem Vortrag vom 31. Oktober 1911 in Berlin ist uns überliefert, dass Rudolf Steiner seine Zuhörer mit der Aussage konfrontiert, dass äußere Wärme nur eine Illusion ist, dass es sich bei allen Wärmeerscheinungen in Wahrheit um das Opfer der Hierarchie der Throne gegenüber den Cherubim handelt: «Wo wir Feuer sehen, wo wir Wärme empfinden, sollten wir nicht so materialistisch denken, wie es dem heutigen Menschen natürlich und gewöhnlich ist, sondern wo wir Wärme auftreten sehen und fühlen, da ist auch heute noch in unserer Umgebung unsichtbar vorhanden, geistig zugrunde liegend, das Opfer von den Geistern des Willens gegenüber den Cherubim. Dadurch gewinnt die Welt erst ihre Wahrheit, dass wir wissen, dass hinter jeder Wärmeentwickelung ein Opfer ist.»[14]
Was sagt dieser Satz eigentlich? Wie verstehen wir ihn? Wörtlich genommen könnte er als Korrektur der materialistischen Theorie der Wärme wiedergegeben werden: Wärme ist nicht, wie Helmholtz entdeckt hat, gesteigerte Molekülbewegung, sondern das Opfer der Throne. Handelt es sich um die Aufforderung, die klassische Physik zu korrigieren oder als Irrtum anzusehen? Oder entwickelt Steiner hier neue post-galileische Axiome zu einer Erneuerung der Naturwissenschaft? Oder heißt das: Was in der Welt der Erscheinung als Wärme auftritt, ist in der Welt des wahren Seins das Opfer der Throne? Innerhalb der platonischen Höhle erleben die Menschen Wärme, wer sich aus der Höhle zur Oberwelt emporarbeiten kann, der «schaut« das Opfer der Throne. Oder: Steiner spricht hier von einem aller ontischen Forschung vorausgehenden neuen Seinsverständnis. Was Heidegger die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden nennt, ist bei Steiner die Schwelle zwischen der physischen und der geistigen Welt.
Wer wortwörtlich liest, der interpretiert bewusstlos und droht zum Trabanten des Fundamentalismuspols zu werden.[15] Ich habe den Eindruck, dass diese Gefahr besonders dann naheliegt, wenn man zwischen dem sSteinerschen Forschen ( «Erkennen») und dem von Steiner gestalteten Werk (Vortrag oder Buch) nicht genügend unterscheidet. Werke gilt es grundsätzlich nicht zu erkennen, sondern zu verstehen. Die Gefahr des Fundamentalisierens droht aber, wenn wir die Brücke des Werks und seines Verstehens überspringen, weil wir meinen, es sei möglich, Erkenntnisse direkt, ohne ihre Darstellung in einem Werk, aufzufassen oder mitzuteilen. Wer freilich umgekehrt die Vielfalt der Werke und Interpretationen gegeneinander ausspielt und daraus ableitet, dass es keine Wahrheit gibt, kreist um den Relativismuspol. Aus der Fehlbarkeit, aus der Möglichkeit des Irrtums, die es ebenso im Verstehen wie auch im Erkennen gibt, leitet er dann vielleicht die Wahrheitsunfähigkeit ab. Aber das Eingeständnis der Irrtumsmöglichkeit ist umgekehrt gerade ein Zeichen dafür, dass es Wahrheit gibt. Es gilt, die möglichen Interpretationen miteinander abwägend zu vergleichen, den anderen Autoren ebenfalls mögliche Irrtümer zuzugestehen und nach ihrer jeweiligen (Teil-)Wahrheit zu suchen. Wer so das Wagnis des Irrtums eingeht, anstelle sich in der Illusion absoluter Wahrheit zu wähnen, der wird von der dritten Kraft gehalten und inspiriert, die ihm Bewegungsfreiheit zwischen den beiden alten Antipoden ermöglicht.
Jörg Ewertowski | geb. 1957, studierte nach einer Ausbildung zum Goldschmied Philosophie, Germanistik und evangelische Theologie in Frankfurt/Main. Seit 1994 leitet er die Zentralbibliothek der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (www. rudolf-steiner-bibliothek.de) und ist im Anthroposophischen Umfeld mit Vorträgen und Seminaren tätig.
[1] Richard Dawkins: Der Gotteswahn. Boston 2006.
[2] «Hier wird die Naturwissenschaft zum Träger von Werturteilen. Diese Naturwissenschaft wurde aber nicht als ein Hypothesengefüge oder gar als ein experimentelles Programm wahrgenommen. Die hier relevante Naturwissenschaft war das von den Zeitgenossen wahrgenommene Gefüge von Aussagen dieser Wissenschaft. Die Naturwissenschaft reklamierte für diese Zeitgenossen in diesen Aussagen Maßstäbe.» Olaf Breidbach, Uwe Hoßfeld: Glaube und Biologie im Werk von Ernst Haeckel. In Ernst Haeckel: Gott- Natur (Theophysis). Kommentierter Nachdruck herausgegeben von Olaf Breidbach und Uwe Hoßfeld, Stuttgart 2008, S. 15.
[3] «Eine immanente Grenze wird immer dort überschritten, wo Wissenschaften den Bereich ihrer eigenen Falsifizierbarkeit verlassen und ‹überschwänglich› werden, also selbst den Charakter eines Weltbildes annehmen. […] Der wissenschaftliche Fundamentalismus wird leugnen, was nicht in seinen Erklärungsmöglichkeiten liegt.» Harald Seubert: Fundamentalismus im wissenschaftlichen Kontext. In «Spektrum Iran. Zeitschrift für islamisch-iranische Kultur. Kultur – Wissenschaft – Forschung» Nr. 2/2015, 28. Jahrgang, S. 74.
[4] «Beispielsweise geht selbst ein totaler Skeptiker von einem festen Fundament aus, nämlich von der für ihn fraglosen Gewissheit, daß seine Skepsis und seine Nichtfestgelegtheit die einzig angemessenen Wege sind, sich der Wirklichkeit zu nähern. Dass dies letztlich ein Widerspruch zu seiner Skepsis ist, ahnt zwar sein Gegenüber, nur ihm selber ist es nicht klar. Der totale Skeptiker und der Fundamentalist gleichen sich sogar noch in weiteren Punkten: ihre Haltung gründet in einer bestimmten Ichfunktion: der Negation, die zur Starrheit prädestiniert.» Werner Huth: Flucht in die Gewissheit. Fundamentalismus und Moderne. München 1995, S. 13f.
[5] «Seine [Steiners] esoterischen Aussagen erheben keinen Wahrheitsanspruch, sondern sind heuristisch als Annahmen zu verstehen. Alle seine Darstellungen harren, auch in seinem Selbstverständnis, darauf, einer rational-wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen zu werden.» Jost Schieren: Anthroposophie in der Kritik. In «Anthroposophie» 299, Ostern 2022, S. 3f.
[6] «Die Esoterik der Anthroposophie ist nicht in Inhalten erfassbar. Sie eignet sich nicht der Vorstellungsform zu. Esoterik ist eine Schulungsleistung des Individuums und kann nur als Vollzugsform des Denkens erfahren werden. Sie ist prozessual und keine gewordene geronnene Erkenntnis. Daher ist sie unverfügbar. Sie kann nicht für Argumentationen, Schlussfolgerungen, Urteilsmuster oder als Wissensbestand einfachhin verwendet werden. Dies wäre ein naiv realistischer Irrtum. Sie ist die geistige Lebensform der Anthroposophie, die nur im meditativen Vollzugsbewusstsein erfahrbar ist. Alle sogenannten Esoterischen Mitteilungen können und sollen daher nicht allein als Inhalte aufgefasst (und verbreitet) werden, sondern sie dienen vor allem der Schulung.» Jost Schieren: Anthroposophie als Bewusstseinsform. In «Anthroposophie» 302, Weihnachten 2022, S. 299.
[7] Schieren erklärt das Vollzugsbewusstsein folgendermaßen: «Es ist die (mystische und zugleich nachaufklärerisch besonnene) Erfahrung, dass das vom Subjekt hervorgebrachte Objekt zugleich das Subjekt in neuer Gestalt hervorbringt. Es ist also weniger die Inhaltsseite, sondern eher die Form- und Kraftseite, die die Ichform des Vollzugs auch im Übersinnlichen kennzeichnet.» Jost Schieren: Anthroposophie als Bewusstseinsform. In «Anthroposophie» 302, Weihnachten 2022, S. 295.
[8] «In diesem Buch geht es also um nichts Geringeres, als ein Licht auf die größten und wichtigsten Mysterien des Weltgeschehens zu werfen. Wir wollen in die tiefsten Untergründe des menschlichen und kosmischen Daseins eintauchen und Antworten auf existenzielle Fragen finden, die sich immer mehr Menschen stellen. Wirklich seriös und umfassend können solche Fragen heute nur beantwortet werden, wenn man sie mit dem Licht der ANTHROPOSOPHIE, der Geisteswissenschaft, die der große Eingeweihte, Geisteslehrer und Menschheitsführer Dr. Rudolf Steiner, den wir in Kapitel 3 (S. 113ff.) näher vorstellen werden, vor rund 100 Jahren im Auftrage der göttlich-geistigen Welt den Menschen geschenkt hat, beleuchtet. Die unfassbar tiefen Erkenntnisse, die er aufgrund seiner jahrzehntelangen geistigen Forschungen gewinnen konnte, lüfteten den Schleier, der die Erdenwelt von den übersinnlichen Welten trennt.» Josef F. Justen: Das Götterprojekt «Mensch», Entstehung, Wesen und Ziel des Menschen. Einführung in die grundlegenden Erkenntnisse der Anthroposophie Rudolf Steiners. Norderstedt 2021 S. 17.
[9] «Es geht bei dem Werk Rudolf Steiners um all die Fragen nach den Geheimnissen des Lebens und den Rätseln der Natur: Was ist Leben und wie entsteht es? Was ist Geist, was Seele? Was ist Liebe? Gibt es Gott? Welche ist die wahre Bedeutung des Christus? Gibt es ein Leben nach dem Tod? – und viele andere. Dann müssen wir uns fragen, wer die Kompetenz besitzt, diese Fragen zu beantworten. Sind es die Physiker oder die Biologen, die Psychologen oder Theologen, die Philosophen oder Soziologen? Nun sollten wir meinen, die Theologen müssten die Frage nach Gott und Christus beantworten können. Wenn dem so wäre, würden die Menschen nicht in Scharen den Kirchen davonlaufen. Zudem gibt es massive Widersprüche innerhalb der Theologie und zu den Wissenschaften, die wir nicht verleugnen können.» Axel Burkart: Das große Rudolf Steiner Buch. Texte aus seinen wichtigsten Werken. München 2003, S. 31f.
[10] Ulrich Kaiser: Der Erzähler Rudolf Steiner. Studien zur Hermeneutik der Anthroposophie. Frankfurt/M. 2020.
[11] «Also wie Steiner mit den Strukturelementen arbeitet, ist entscheidend, aber es ist vorderhand nicht sichtbar. Es bedarf der Kunst des Verstehens, in diesem Sinn über den Text hinaus zu deuten, sich von der Oberfläche abzulösen und in die Tiefe zu bewegen oder vom Äußerlichen ins Innerliche. Es ist die eigentliche esoterische Lesart.» Ulrich Kaiser: Empfinden können, was die Seele selbst zersprengen will. In Günter Röschert, Elisabeth Wutte (Hg): Korrespondenzblatt […] Ausgabe 4. Neukirchen 2022, S. 7.
[12] «Das Wahre wirkt einleuchtend und aufklärend, das Falsche stößt zurück und klärt nichts auf. Vom Wahren sagt sich der Zuhörer oder Leser: Ja, durch das, was mir da mitgeteilt wird, kann ich die Tatsachen der Natur und des Lebens begreifen; wenn das aber nicht wahr wäre, was da gesagt wird, bleiben mir diese Tatsachen unverständlich. Dieses Verhalten zu einer Lehre kennt auch die anerkannteste Wissenschaft; man nennt da solche Lehren brauchbare Arbeitshypothesen. Nur dass der Okkultist nicht Hypothesen mitteilt, sondern Tatsachen, die er selbst gesehen hat. Aber das hindert ja niemand, solange er nicht selbst prüfen kann, die Dinge als brauchbare Lebenshypothesen anzunehmen.» Rudolf Steiner: Lucifer-Gnosis 1903–1908. (GA24), Dornach 1987, S. 386f.
[13] «Im Wesentlichen prüfen wir also die Darstellungen Steiners auf Widerspruchsfreiheit, benutzen sie als Arbeitshypothesen und machen sie uns, je plausibler sie uns auf die Dauer erscheinen, umso mehr zu eigen. Widerspruchsfreiheit ist aber – wie wir wissen – zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass eine Aussage richtig ist. Sie ist kein Ersatz für die Wahrheitsprüfung, sondern nur ein Indiz dafür, dass es sich lohnt, weiter in der entsprechenden Richtung zu forschen.» Markus von Schwanenflügel: Dialog über Anthroposophie. In «Anthroposophie» 303, Ostern 2023, S. 68.
[14] Rudolf Steiner: Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen. (GA 132), Berlin 1999, S. 19f., Vortrag vom 31.10.1911.
[15] Vgl. zur Frage der Wörtlichkeit auch Jörg Ewertowski: Gibt es Wahrheitsautorität? Zwischen Fundamentalismus und Relativismus. In «Die Christengemeinschaft», Juni 2023.