Karma – Schicksalsfatalismus oder Sozial-Kunst?
Michael Schmock im Interview zum anthroposophischen Karmabegriff, der individuellen Freiheit und dem menschlichen Lernweg.
Sebastian Knust: Die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland hat in diesem Jahr die Initiative, den Karma-Gedanken Rudolf Steiners zum Forschungsthema zu machen. Eine öffentliche Tagung in Kassel ist in Planung. Das geschieht in einer Zeit, in der die anthroposophische Esoterik immer wieder als „abwegig“ abgewertet wird. Warum gerade jetzt das Thema „Karma“ auf die Agenda stellen?
Michael Schmock: Gerade in Krisenzeiten können anthroposophische Ideen sehr hilfreich sein, um die Ereignisse in der Welt tiefer zu verstehen. Sie betrachten unkonventionelle Zusammenhänge, die für das Leben außerordentlich relevant sein können und machen Mut, sich selbst und die Welt neu zu erkennen – einfach als Ergänzung zu rein reduktionistisch-naturwissenschaftlichen Ansätzen. Der Karma-Gedanke ist so alt wie die Menschheit und kann vieles aufschließen, was in der alltäglichen Betrachtung eher unbemerkt bleibt. Er stellt die grundsätzlichen Fragen: Wie bin ich an dem Zustandekommen meiner jetzigen Situation beteiligt und wie wirkt sich mein Agieren auf meine individuelle und unsere gemeinsame Zukunft aus? Die sozialen Probleme, die wirtschaftlichen Vernetzungen, die lebensbedrohlichen Klima-Krisen, all das hat auch eine karmische Dimension.
SK: Gerade in der Pandemie kritisieren Außenstehende, dass eine angebliche „Schicksalsergebenheit“ gegenüber Infektionen höchst problematisch, sogar „sozialdarwinistisch“ sei. Wie kann man das aus dem anthroposophischen Karma-Begriff besser verstehen?
MS: Der Begriff „Karma“ wird heute oft als Schicksalsfatalismus, als unabänderliche Determination aller Lebensereignisse missverstanden. Noch konkreter: Ob ich eine Krankheit habe, widrige Lebensumstände, eine gescheiterte Ehe oder Armut erlebe, durch eine Flutkatastrophe mein Haus verliere oder eben reich und „begnadet“ bin, das alles ist angeblich Karma. Das ist eine Sichtweise, die wesentliche Elemente auslässt.
Der anthroposophische Karma-Begriff schaut die Sache von der anderen Seite her an: Es geht um die Verantwortung, die ich als Mensch jetzt für meine eigenen Taten und deren Folgen übernehme, um das, was ich selbst durch mein Denken, mein Sprechen und mein Handeln hervorbringe und bewirke. Das führt zur Anerkennung meiner Selbst als „Mitverursacher“ unserer gemeinsamen Zukunft – an der ich selbstverständlich mitbeteiligt bin. Karma lässt sich daher nur als eine achtsame Bewusstseinserweiterung für die Folgen meines Handelns erfassen – sozial, ökologisch und wirtschaftlich. Es geht um die tiefe Erkenntnis, dass ich zum Beispiel Mitverursacher der Armut in anderen Ländern bin, der ökologischen Katastrophen auf unserem Planeten und letztlich, dass ich mich aus den menschlichen Konflikten nicht herausreden oder reinwaschen kann, sei es bei Ausgrenzungen, Kriegshandlungen oder auch beim Völkermord.
Ich erlebe es so, dass mein individuelles Karma mit dem Schicksal der Menschheit zusammenhängt. Dies führt zu der Erkenntnis, dass auch ich selbst Teil der globalen Herausforderung bin. Der Karma-Gedanke ist letztlich ein Kultur-Erneuerungs-Impuls, den die Menschheit dringend zur Umwandlung der zivilisatorischen Katastrophen braucht – für eine soziale, ökologische und wirtschaftliche Zukunft.
SK: Das bedeutet, dass mein Leben nicht durch Karma vorbestimmt ist. Ist das nicht doch so, wenn die Ursachen in der Vergangenheit, möglicherweise in einem früheren Leben zu finden sind?
MS: Man kann sich das so vorstellen: Wenn ich morgens wieder aufwache, sind meine Taten des gestrigen Tages wieder gegenwärtig. Der Streit ist nicht erledigt, meine Schulden sind nicht getilgt, ein schönes Erlebnis klingt immer noch nach. Das Bewusstsein knüpft an das an, was in der Vergangenheit durch uns verursacht wurde. Ich kann das nicht „wegzaubern“, ich kann es nicht übergehen. Selbst wenn ich in ein anderes Land umsiedle, ich nehme mich selbst immer mit. Alle meine Fehler, Unzulänglichkeiten, Fähigkeiten, freudige Ereignisse trage ich in mir mit, auch durch mehrere Inkarnationen. Es wäre meiner Meinung nach auch absurd, wenn das nicht so wäre. Manchmal wird das sehr klischeehaft ausgedrückt. Als ich in Indien war und ein Vogelreservat besuchte, stand da ein Schild: „Schütze die Vögel – möglicherweise bist Du im nächsten Leben einer von ihnen.“ Anthroposophisch gesehen ist das ein Unsinn, weil ich immer wieder an eine eigene, menschliche Identität anschließe. Aber kindlich-bildhaft kann man das verstehen: Karma ist eben die „Weiterarbeit“ an meiner Menschwerdung und allem, was ich anderen – auch der Natur – antue. Wenn man das einmal erlebt hat, wird einem deutlich: Es braucht einen Ausgleich, eine Verwandlung, weil wir Menschen uns nur mit der Natur und den anderen weiterentwickeln. Das menschliche Wesen wird schöner und gütiger durch eigene, aktive Mitgestaltung und der Übernahme von Verantwortung für die Welt.
SK: Und worin besteht dann die menschliche Freiheit?
MS: Die Freiheit besteht darin, dass ich die Möglichkeit dieser Weiterentwicklung aktiv aufgreifen oder es sein lassen kann. Da lassen sich die verschiedensten Wege finden. Jeder kann sich sagen: Ich will nicht genau dasselbe noch einmal tun. Ich will es besser tun, und die Menschen, die ich verletzt habe, die geben mir sogar noch eine Chance, es beim nächsten Mal zu korrigieren. Wie allerdings die Korrektur aussieht, kann ganz verschieden sein.
Meine Freiheit ist auch, den individuellen Weg zu finden, der jetzt und hier für mich und den anderen Menschen der weiterführende ist, der uns beiden wirklich hilft. Das ist manchmal ein schweigendes Zuhören oder ein verständnisvolles Mitfühlen. Ein anderes Mal ist es auch eine liebevolle Begleitung oder aber auch eine deutliche Zurückweisung.
Karma ist eben „Sozialkunst“ und jeder Mensch ist in seinem eigenen Leben sein individueller „Karma-Künstler“. Er entwickelt sich zur Freiheit und Freiheit ist das Ergebnis eines gelungenen Lernens, einer verantwortungsvollen, schöpferischen Tat. Ich befreie mich selbst aus meinen Unvollkommenheiten, aus den „Bruchstücken“ meiner vorhergehenden Versuche, „Mensch zu werden“. Das „Neue“, der nächste Schritt – das ist Karma-Praxis.
SK: An welchen Stellen ist denn für Dich persönlich der Karma-Begriff wichtig oder plausibel geworden?
MS: Karma ist aus meiner Sicht zunächst ein wesentlicher Schritt in der Selbsterkenntnis. Dazu gehört die oft leidvolle Erfahrung, dass ich durch mein Verhalten Vorgänge verkompliziere, dass ich Recht haben will, dass ich andere aus Stolz verletze usw. Ich schaue in den Spiegel und sehe meine Eigenarten. Die Anerkennung, dass ich in einem Konflikt Mitverursacher bin, ist der erste Schritt. Ich bin ebenso Teil dessen, was einen Vorgang, ein Geschehen positiv weiterbringt. Ich bin aber auch der Verhinderer. Das ist die Erfahrung der sogenannten Schatten- oder Doppelgänger-Wesens. Meine mitgebrachte Wesensart, mein Charakter, aber auch meine Begabungen zeigen sich mir.
Dann gibt es eine zweite Schicht. Das ist die Erfahrung, dass andere Menschen an meiner Entwicklung einen wesentlichen Anteil haben. Man könnte sagen, meine Erkenntnisse und Entwicklungsschritte verdanke ich anderen Menschen. Sie kommen von außen auf mich zu. Sie sind aber trotzdem Teil meines Selbst. Dieser real erweiterte Ich-Begriff ist eine wesentliche Grundlage der Karma-Erkenntnis im anthroposophischen Denken. Wenn ich ehrlich bin, bin ich zum großen Teil das, was ich durch andere Menschen geworden bin.
Eine dritte Ebene ist aus meiner Erfahrung ein wachsender Sinn für soziale Konstellationen. Ich habe in meinem Leben in vielen Gemeinschaften gelebt, habe mit anderen Menschen zusammenwirken können. Das ist für mich ein „Geschenk“ und in mir lebt immer öfter eine Ahnung dessen, was durch Menschenkonstellationen entstehen kann. Im Laufe der Zeit entsteht ein Sinn dafür, mit wem was möglich wird. Ich werde wach für ein „Miteinander“, für Ergänzungen, für zukunftsfähige Optionen. Karma-Erkenntnis heißt für mich, einen „Sinn entwickeln“ für das, was durch das Soziale hindurch Kräftepotenziale freisetzt. Manchmal ist es eine „Verwerfung“, eine gegenseitige „Verhinderung“ – je nachdem, was gerade gebraucht wird, um etwas Neues zu ermöglichen. Ich habe gelernt dankbar zu sein für jede zukunftsfähige Menschenkonstellation – so oder so. In diesem Sinne gibt mir der Karma-Gedanke oder der Karma-Sinn eine innere Kraft.
SK: Die Karma-Tagung eröffnet ja ein Üb-Feld in diese Richtung. Gestaltet ihr damit ein einmaliges „Event“ oder sucht ihr einen „Lernweg“ im Umgang mit der Karma-Erkenntnis?
MS: Ich würde mir wünschen, dass das oben beschriebene Lernfeld „Karma“ in der anthroposophischen Bewegung „gelebte Praxis“ wird. Dazu bilden die vielen Erkenntnisbemühungen in den Zweigen eine wesentliche Grundlage. Jetzt aber brauchen wir einen neuen Schritt, um die „Karma-Praxis“, also das konkreten Leben, als Übfeld zu begreifen und mit Hilfe von "Übungsansätzen" dafür und daran aufzuwachen. Das versuchen wir auf der Tagung anzuregen: eine lernende Gesellschaft zu werden, die einen Beitrag zu einer künftigen „spirituellen Sozialkompetenz“ leistet. Das würde die Bewältigung vieler Herausforderungen dieses Planeten für alle Menschen greifbarer werden lassen und Zukunftshoffnung geben.
SK: Ich danke Dir für das Interview!