Die Begeisterung lockt das Ich herbei
Interview von Stefanie Benke mit dem Sprachgestalter Oliver Avianus über den befreienden Charakter der Sprache. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Osterausgabe 2023 der Zeitschrift „Anthroposophie“.
Stefanie Benke: Du arbeitest als Sprachgestalter in Berlin. Kannst du deine Arbeit beschreiben?
Oliver Avianus: Ich arbeite an verschiedenen Orten, zum Beispiel im Hiram- Haus. Das ist eine Einrichtung für die Wiedereingliederung von Suchtkranken in ein normales Leben mit Wohnung und Arbeit. Mein zweites Standbein ist das Krankenhaus Havelhöhe mit einer Tätigkeit in der Psychosomatik, der Geriatrie, Pneumologie und Palliativmedizin. Da habe ich eine kleine Stelle von zwei Tagen. Verbunden damit ist meine Arbeit an der Waldorfschule Havelhöhe, wo ich nachmittags mit Lehrern und Schülern arbeite, die Sprachgestaltung mit mir machen. Alle zwei Monate bin ich als Dozent für Sprachgestaltung in Leipzig am Campus Mitte-Ost zur Waldorflehrerausbildung.
SB: Das sind ja alles ganz unterschiedliche Bereiche. Was für Themen bearbeitest du in der Sprachgestaltung?
OA: Das sind verschiedene Welten, die sich ergänzen durch ihren Abwechslungsreichtum. Im Hiram-Haus habe ich als Sprachgestalter angefangen, aber da bin ich auf dem Bauch gelandet, als es hieß: «Ick bin Berliner, ick will berlinern. Wollen Sie mir beibringen, wie ick sprechen soll?» Ich musste also erst mal begreifen, was da meine Aufgabe ist, nämlich nicht Sprachgestalter, sondern Beziehungsarbeiter zu sein. Vermittelt über den Berliner Bezirk, finden Menschen, die durch Alkohol und Drogen aus der Kurve geflogen sind bis hin zur Obdachlosigkeit, zum Hiram-Haus, um wieder auf die Spur zu kommen. Beziehungsdienstleistung heißt, dass ich zunächst verschiedene Gruppen anbiete, eine Bewegungsgruppe, eine Lese- und Rhythmusgruppe und eine Sprachspielegruppe. Selten gibt es auch eine Gruppe, wo Bewohner an der anthroposophischen Sprachgestaltung teilhaben wollen. Das macht besonders Freude, wenn Wachheit und ein Interesse für die Sprache an sich da sind. Wir versuchen dort auch, die Anthroposophie für Mitarbeiter wachzuhalten durch die anthroposophische Menschenkunde, indem wir zum Beispiel Wesensgliederbetrachtungen durchführen.
SB: Wie gehst du in der Sprachgestaltung vor?
OA: Meine Ausbildung zum Sprachgestalter musste sich erweitern in eine Beziehungsarbeit, im Hiram-Haus, aber auch im Krankenhaus. Sonst fragt sich der Patient: Warum soll ich «Abracadabra» sprechen? Das erschließt sich NichtAnthroposophen nicht. Die anthroposophische Therapie muss sich so geschmeidig machen, dass sie spielerisch aufgegriffen wird. Ich muss abspüren, was angesagt ist, und da geht zunächst sehr viel über Bewegung. Sprache beginnt mit Bewegung. Der griechische Fünfkampf beziehungsweise gymnastische Übungen wie die Bothmergymnastik, die ich zugrunde lege, stellen den Menschen in den Raum hinein und erwärmen ihn, bevor man ein Wort spricht. Ich selbst muss auch zuerst die Mitte über Kreislauf und Atmung finden.
SB: Hast du die Sprachgestaltung umgearbeitet und dir zu eigen gemacht?
OA: Ja, das kann man so sagen. Ich würde zum Beispiel nicht direkt eine Sprachübung im Sprechchor nachsprechen lassen. Das ist für mich nicht zeitgemäß. Ich habe aber Übungen aus dem Impro-Theater übernommen. Da geht es um Begegnung, um ein Sich-Anschauen und Wahrnehmen. Es muss erst einmal das Ich über die innere Erwärmung angesprochen werden. Gehübungen sind wunderbar, um das Ich herauszulocken. Ich gehe durch den Raum und im Gehen erlebe ich mich als Willenswesen, je nachdem, wie ich gehe. Ich kann vor mich hinschlendern oder richtungsweisend gehen. Da erwecke ich den inneren Sprachimpuls. Nach der Bewegung, der Begegnung, der Wachheit, der Präsenz kommt die Stimme dazu, die als Ausruf zunächst gepflegt wird durch ein gut gegründetes «Hey!», das im Kreis herumgegeben wird und unterhalb der Zwerchfellregion entstehen soll. Ich erlebe dann Freude an der Äußerung, weil ich mich lebendig fühle. Und ich denke nicht darüber nach, was ich tue oder sage, sondern mache es einfach und bringe das Innen nach Außen zum Klingen. Nach diesem Anfang geht man an die Sprechwerkzeuge und holt die Sprache nach vorne, kann mit Zungenbrechern arbeiten bis zu Übungen von Steiner. So lande ich zum Schluss in der Sprachgestaltung, aber lasse mir Zeit dabei.
SB: Es geht dir also um das Ich und die Freude an der Äußerung und du meinst, dass man z. B. durch Sprechchöre da erst mal nicht rankommt?
OA: Das ist zumindest nicht mein Ding. Ich habe das selber als eher leidvoll erlebt, außer wenn es sehr gut gemacht wird. Es kommen auch Kinder zu mir, die sollen ihren Zeugnisspruch sagen. Dann ist es manchmal, als ob etwas erstirbt im Blick und der Sprache. Der Spruch wird einfach heruntergeredet, das ist traurig. Ich mache immer darauf aufmerksam: Sprache muss einen weckenden Charakter haben, sie darf nie dazu führen, dass man im Chor verlorengeht und den Anschluss ans Ich verliert, sonst ist es kontraproduktiv. Ich pflege – auch am Waldorflehrerseminar – das erweckte Sprechen durch Kontaktvorübungen und kurze, gemeinsam gesprochene Sequenzen. Ansonsten arbeite ich eher mit Einzelleistungen oder auch kleinen Zweier- und Dreier-Gruppen, damit man beim Sprechen nicht einschlafen kann.
SB: Hast du etwas gegen Zeugnissprüche?
OA: Nein, aber die Aufgabe des Lehrers oder der Lehrerin wäre, sanft und vorsichtig, sie zur Erweckung zu bringen. Das gelingt mir durch einen kleinen Trick: Ich lasse mir von den Schülern den Zeugnisspruch beibringen. Ich will ihn verstehen und nachsprechen und durch das Umdrehen wird etwas Neues im Kind angeregt, das im Gegensatz zum Nachsprechen steht. Da sollte Kreativität reingesteckt werden. Sprache muss begeistern, sonst ist es keine Sprachgestaltung.
SB: Warum ist die Begeisterung so wichtig?
OA: Weil sie das Ich herbeilockt. Sonst ist das ein Vorgang, wo das Ich nicht anwesend sein muss. Bei jüngeren Schülern ist das Ich zwar noch nicht ganz erwacht, aber die verborgenen Seiten des Ichs sollten durch die Lehrenden impulsiert werden, durch deren durchichte Sprache. Daran erwachsen die Kinder und richten sich auf. Begeisterung ist die Grundlage, dass wir Schöpfer werden. Woher sollten wir sonst Motivation haben? Wir müssen uns ja an etwas entzünden.
SB: Beschreibe mal einen schöpferischen Vorgang in der Sprache.
OA: Es geht über die lange Vorbereitungsphase: Ich beginne oft mit einer Meditation als Weitung in den Umkreis durch den Hörsinn. Dabei erfolgt gleichzeitig ein Zentrieren in der Mitte durch die Atmung. Danach kommt noch das Erlebnis des Raumes, das Oben/Unten, Vorne/Hinten, Rechts/Links, in dem wir uns sortieren. Dann geht es über Bewegungs- und Begegnungsübungen, übers Tönen, Klingen und Atmen bis zum Artikulieren. Kreativwerden heißt dann, etwas Eigenes mit Sprache zu produzieren. Das ist ein Vorgang, der geheimnisvoll aus dem Nichts kommt, weil wir vorher gar nicht wissen, was wir sagen werden. Wir können uns da nur tastend hineinbewegen und uns dann überraschen lassen von dem, was wir dann sagen. Da gibt es zum Beispiel die Übung des «Dreisatzes» aus dem ImproTheater, in der sich eine Geschichte mit drei Sätzen, wo jeder nur ein Wort sagt, entspinnt. Ich sage das erste Wort des ersten Satzes, die Nachbarin das zweite Wort, ein weiterer Nachbar das dritte Wort: «Anna geht in …» Daran knüpft man den zweiten Satz an usw. Keiner weiß vorher, welche Geschichte dabei herauskommt. Wenn man sich gut konzentriert, dann entsteht eine Kurzgeschichte wie z. B. heute: «Da ist das Licht von der Decke gefallen. Dann kam Peter in das Kinderzimmer und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Er beschloss energisch aufzuräumen.» – Das war’s auch schon.
SB: Und wie kommt es, dass die Geschichte einen Sinn ergibt, wenn keiner weiß, was der oder die andere sagen wird?
OA: Jeder muss Verantwortung übernehmen, sonst kommt da kein Sinn heraus. Es ist gut, wenn man weiß, wo es hingehen könnte, der nächste ist aber frei und übernimmt die weitere Verantwortung für den Lauf der Geschichte. Ich muss das vorher Gesagte aufnehmen und fantasievoll weiterspinnen. Das ist eine Erfahrung des gemeinsamen Erschaffens. Die Geschichte gab es vorher nicht und das schafft einen kleinen Glücksmoment in der Gruppe. Dies ist der Aspekt des Imaginierens und Kreativwerdens mit Sprache.
SB: Welche Grundlagen hat die Sprachgestaltung noch?
OA: Es gibt weitere Aspekte wie die Seelengebärde. Das sind sechs Grundgebärden, die den Menschen in seinen seelischen Möglichkeiten vervollständigen, die Rudolf Steiner den Schauspielern zur Verfügung stellt: Deutend-bedächtig, tastend- antipathisch, sympathisch und zurückziehend auf sich selbst. Es hat etwas sehr Beglückendes, sich in der Gebärde zu erleben und wirksam zu werden.
Dann kommt der befreiende Charakter der Sprache hinzu. Das ist ihre Ur-Wirksamkeit. Wer verstummt, der verschließt sich, der kann sich wie eingesperrt fühlen. Wer keine Sprache mehr finden und sich nicht ausdrücken kann, der sondert sich ab, der verliert den Kontakt nach außen. Dieser befreiende Charakter wird durch den angedeuteten Diskuswurf im Fünfkampf angeregt, durch eine Schleuderbewegung des Von-innen-nach-außen-Beförderns. Diese Grundgeste der Sprache zaubert meistens ein Lächeln auf das Gesicht, wenn man sich die Leute anguckt.
Die letzte Stufe der Sprache, die im Speerwurf vorgeübt wird, ist die Wirksamkeit der Sprache. Der Speer wird geworfen und der Speer kommt irgendwo an. Das ist der Schwerpunkt in der Lehrerbildung: Sprache muss wirksam sein, sonst kann man einpacken. Die Sprache muss man in den Raum hineinschicken und ausrichten auf die einzelnen Schüler oder die Klasse mit der Haltung: «Ich meine, was ich sage.» Das spüren die Schüler über die Willenshaftigkeit der Gebärde.
SB: Wodurch wird Sprache wirksam?
OA: Durch meinen Willen. Durch den Mitteilwillen, den Vorwärtswillen, der erst im Laufen erübt wird: Ich gehe vorwärts, ich habe ein Ziel. Der Wille ist nicht bei allen Menschen automatisch da. Auch nicht bei allen Lehrern und es ist schön, wenn man durch diese Übungen da hereinfindet.
Dann wird der Wille weitergepflegt im Ringen: Ich nehme mir Raum am Gegenüber, ich erkrafte mich am Gegenüber und zwar nicht intellektuell, sondern körperlich und dann: Ich befreie mich. Aber die Voraussetzung für diese Wirksamkeit ist, dass ich den Willen in mir erwecke. Wenn ich zum Beispiel sage: «Packt bitte eure Hefte aus», dann muss ich wissen, dass ich das will, und darf das nicht als Frage formulieren. Aber man muss wach werden dafür, dass das eine Wirkung hat.
SB: Warum wirkt Sprachgestaltung therapeutisch?
OA: Die Therapie setzt in der Sprachgestaltung da an, wo das Ich den ungeformten Astralleib ergreift. Steiner sagte, die Sprache urstände im vom Ich modifizierten Astralleib. Ich muss dazu das Ich erst einmal heranholen, jedenfalls das, was uns davon zur Verfügung steht – uns steht ja nicht das gesamte Ich zu Verfügung. Der Astralleib ergreift den Ätherleib und der den physischen Leib. Das ist ja die irdische Ebene der Sprache, durch die wir dann überhaupt sprechen können. Sprache kommt aus dem Geist und erklingt durch die Sprechwerkzeuge, das ist das artikulierte Wort.
In der Psychosomatik möchte ich, dass die Menschen sich erwärmen und erleben, wie sie selbstwirksam und Gestalter werden können. Im Krankheitsverlauf ist hier etwas somatisch geworden, weil es im Seelischen nicht vom Ich ergriffen worden ist. Und das Ziel der Therapie ist, dass ich anfange, Chef zu werden über die Seelenebene. Ich sage, was passiert – und das kann dann bis ins Körperliche wirken. Dafür ist die Sprache sehr gut geeignet.
Es gibt aber auch noch andere Wirkfelder, wie in der Pneumologie. Dort nenne ich die Therapie Stimm-Atem-Therapie. Ein Krebspatient zum Beispiel hat auch die Aufgabe, sich zu durchwärmen, dem Krebs keinen Raum zu überlassen, sondern klar zu machen: Ich bin hier zu Hause, vor allem in der Mitte, der Atmung. Sprachgestaltung ist beseelter Atem. Ich kann den Atem durch Sprachgestaltung vertiefen und weiten. Oftmals hat sich der Atem von seiner Atemwurzel zurückgezogen und die Stimme ist nach oben gerutscht, auch bei vielen Lehrern, die dann heiser werden, sich innerlich hochziehen und durch den Stress den Boden verlieren. Dadurch geht die Verwurzelung verloren und man muss dann wieder in die Füße und die Wurzelregion unterhalb des Zwerchfells, bis zum Bauchnabel herunter.
Die Krone des Atembaums hingegen ist der Umraum des Sprechens, den ich wieder aktivieren und durch die Stimme in Resonanz bringen muss. Der Körper vibriert ja beim Sprechen und Tönen, ich bringe meinen eigenen Körper, den Umkreis und die Luft in Schwingung durch eine Raumeskunst, die Sprache. Da ist dann das « Abracadabra», ein Tönen und Gestikulieren mit zaubernder Sprache: Durchwärmen, Durchtönen, Lauschen, Hörenlernen. Das Hören ist uns verloren gegangen. Wir haben, durch die laute Welt zu passivem Hören verdammt, das Lauschen verlernt. Dabei ist gerade der Hörsinn das Tor zu den oberen Sinnen: Wort-, Gedanken- und Ichsinn. In der Sprachgestaltung lerne ich, mich selbst als Sprechenden, aber auch die Sprache selbst im Raum wieder wahrzunehmen.
SB: Der Selbstausdruck ist also eine Seite und die Resonanzfähigkeit die andere?
OA: Ich richte mich einerseits mit meiner Sprache nach außen und verfeinere meine Wahrnehmung des Umraums sowie meines Inneren, das ist ein dynamischer Prozess. Heute sagte mir zum Beispiel ein junger Mann, er halte meinen Blick nicht aus. Aber gerade das will er lernen, er will wieder Anschluss und Vertrauen finden zu seiner Umwelt. Die Sprachgestaltung ist dabei für ihn die wichtigste Therapie: Durch die Übungen wird er herausgefordert, Kontakt aufzunehmen durch Sprache und die Resonanz in der Gruppe zu erleben. Da gibt es aber auch unterschiedliche Ebenen. Man muss nicht unbedingt sprechen, man kann auch gemeinsam Tönen im «AUM». Das ist ein Gemeinschaftserlebnis, ein Tönen und Hören im Vorsprachlichen.
SB: Hast du gute Erfahrungen mit der Wirkung der Sprachgestaltung gemacht? Hat sich dadurch etwas geändert?
OA: Zuvorderst bei mir selbst. Ich bin bei der Sprachgestaltung als ausgebildeter Diplom-Ingenieur und Architekt gelandet, weil mir etwas gefehlt hat in meiner Persönlichkeitsentwicklung. Ich hatte nach dem Architekturstudium über den Umweg der Bildhauerei und Eurythmie die Sprachgestaltung entdeckt, mit einem Urerlebnis, der Übung: «Hitzige, strahlige, stachelige, sturzstrenge Stützen …». Das war ein Erlebnis, wo ich rausging mit der Sprache und gar nicht wusste, was ich da in den Raum hineinschickte. Ich konnte diese Übung als Spracherlebnis, Selbstwirksamkeitserlebnis, Befreiungserlebnis ohne Inhalt erleben. Ich habe an mir selber erfahren, wie ich mich von einem mehr introvertierten nach und nach zu einem offenen, sprachfreudigen Menschen entwickelte.
Ich erlebe auch bei Patienten in der Psychosomatik, die ich jetzt mal repräsentativ nehme für Menschen, die sich mit ihrer Einseitigkeit auseinandersetzen, dass Sprachgestaltung zusammen mit Bewegung und Improtheater Begeisterung auslöst. Wir kommen um 8.30 Uhr morgens in den Saal und dann entsteht nach und nach eine erwärmte, durchlichtete Stimmung und plötzlich bildet sich eine Gruppe. Ich biete mit Kollegen zusammen in diesem Jahr auch eine Kursreihe in Berlin außerhalb des Krankenhauses an für Menschen, die sich seelisch-körperlich verlebendigen wollen, weil Menschen auf mich zugekommen sind und nach einer Fortsetzung der Arbeit mit Sprache fragten. Insofern kann man von Resonanz sprechen. Da muss es ja irgendwie als wirksam erlebt werden.
SB: Wenn man die Sprachgestaltung oder auch andere anthroposophische Bereiche wie zum Beispiel die Waldorfpädagogik ansieht, so findet man viele traditionelle Aspekte und andererseits auch den Wunsch nach Erneuerung. Wo liegt Traditionelles in der Sprachgestaltung und was sind zukunftsoffene Aspekte?
OA: Ein traditionelles Element sind Meditationen von Steiner, die ich weitergebe. Das sind Atemmeditationen wie «Ich atme Kraft des Lebens»: Nach kräftiger Aussprache wird im Anschluss die Atmung verhalten, es kommt schließlich die Einatmung von selbst und dann spricht man: «In Luft verhaucht der Hauch.» Das ist eine Meditation, in der der Atem geführt wird. Es gibt ganz zentrale Meditationen, die die Teilnehmer auch aufgeschrieben haben möchten, wie «Ich trage Ruhe in mir» und «Standhaft stelle ich mich ins Dasein». Hier ist es ist ein Sprechen, Lauschen, wirksam werden lassen dadurch, dass man die Texte ausspricht. Das wäre so das traditionelle Ende meiner Arbeit.
Gedichte sprechen ist für mich zwar schön und bereichernd, aber nicht mein Schwerpunkt. Ich werde lieber wortschöpfend tätig: Tassenbett, Flügelschrank usw. Zusammengesetzte Wörter sind für mich eine Schatztruhe der deutschen Sprache. Man kann auch eigene Zungenbrecher daraus erarbeiten: Papageienfeder, Pizzabäcker, Pudelmütze, Puppenbett. Es erfordert eine zusammenziehende Kraft in einem, allein diese Wörter zu erinnern. Beim Sprechen entsteht dadurch Freude. Man wird wach und kreativ und schafft selber an diesem Tag zu dieser Stunde ein neues Wortgebilde. Dieses Prinzip des Erschaffens durch Sprache, seien es Bilder, Geschichten oder Lautformen im Raum, ist der zukunftsoffene Aspekt, der den Menschen zum Schöpfer werden lässt. Damit kann er im Zeitalter der Digitalisierung weiter beseelter Mensch bleiben und neue Gedanken in die Welt bringen.
SB: Ich mache als Lehrerin einer 4. Klasse vieles anders, als du sagst. Jeden Tag haben wir einen bestimmten Ablauf von Gedichten, Liedern, Morgenspruch, Wochenspruch, Zeugnissprüchen etc. In diesem chorischen, oft gleichförmigen Ablauf, der – außer bei den Zeugnissprüchen – nicht individuell fordernd ist, erlebe ich Beruhigung und ein Hineinführen in den Tag. Und die Kinder nehmen das auch selbstverständlich hin und machen es meist gerne mit.
OA: Ich kann mir gut vorstellen, dass man, wenn man das mit Überzeugung in der Unterstufe macht, einen Ätherstrom gestaltet, der etwas wie ein Gefühl von Heimat und Zusammengehörigkeit schafft durch die chorische Wiederholung. Aber in der Mittel- und Oberstufe ist eher ein schöpferischer Ansatz nötig.
SB: Welche Rolle spielt die Imagination für dich?
OA: Die Vorstellung ist die Vorstufe zur Imagination und auch schon eine Leistung: Wir verbinden mit Vorstellung so etwas wie «Schließ die Augen und stelle dir vor, wo du im letzten Urlaub warst». Vorstellung hat oft etwas mit Erinnerung zu tun. Das ist tendenziell rückwärtsgewandt und wir wollen ja die Zukunft mitgestalten. In der Imagination wird eine feste, geronnene Vorstellung zum Leben erweckt. Ich habe das Erlebnis, dass ich die Vorstellung in eine Richtung verändern kann. Man kann sehr gut – auch online, wie das im Lehrerseminar in der Coronazeit nötig war – mit Sprache gemeinsam ein Bild malen. Der erste sagt «Ich sehe eine Wiese vor mir», die nächste «Darüber ziehen Nebelschwaden dahin», die dritte hört einen Bach gluckern usw. So kann dieses Bild nach und nach entstehen. Es ist ein geistiges Erlebnis, dass man einen Raum erschafft, der einen auch über die räumliche Distanz gemeinsam verbindet. Auch wenn jeder das individuell sieht, ist es eine gemeinsam erschaffene Imagination. Als weitere Steigerung kann man das Bild in die Zeit überführen: «Im Laufe des Tages stieg die Sonne hinter dem Wäldchen auf, der Nebel verzog sich und es wurden grasende Kühe sichtbar.» Dann kann eine Geschichte beginnen, die auch fantastische Züge bekommen kann, wenn man will.
SB: Das Verhältnis von Individuellem und Überindividuellem in der Sprache ist interessant. Kannst du dir vorstellen, dass die Sprache selber spricht, also dass in der Sprache Geheimnisse liegen, die in einer künstlichen Sprache nicht liegen würden, eine Tiefe, die man nicht im Bewusstsein hat, wenn man selber spricht?
OA: Das Wesen der Sprache hat für mich etwas Unergründliches. Es gibt den Hinweis von Steiner: Wenn es die Weisheit der Sprache nicht gäbe, hätten die Menschen sie schon abgetötet. In der Sprache ist eine geistige Ebene wirksam anwesend, die uns mit den Hierarchien verbindet, mit dem Engel zuerst. Es geht darum, mit Sprache sorgsam umzugehen in dem Sinne, dass Sprache mit einer gewissen Ehrfurcht ergriffen wird, dass wir die Schönheit und die Vielfalt der Qualitäten von Sprache entdecken, bis hin zum eigenen Idealismus, den wir auch in der Sprache transportieren können. Ein moralischer Aspekt ist mit der Sprache eng verbunden, denn Sprache unterscheidet sich je nach moralischem Niveau sehr stark und sie kann auch missbraucht werden.
SB: Womit wird man dem Geist der Sprache denn gerecht und wie missbraucht man sie?
OA: Als Sprachgestalter versucht man, die Sprache einerseits zum Klingen zu bringen und andererseits im Raum wahrzunehmen. Das kann man so erleben, dass es wie um einen herum klingt und tönt. Es wäre der Schritt, um von einem egoistischen Sprach-Impuls frei zu werden und im Sprechen zum Lauschenden zu werden. In der Ausbildung in Alfter hatte ich so ein Erlebnis: Das bin nicht ich, der spricht, da ist etwas, das spricht. Nach intensivem Üben von Stabreimen ist mir das gelungen. Das ist mit viel Üben und Hingabe verbunden.
SB: Aber die Sprache kann auch phrasenhaft werden.
OA: Im Silbenschritt werde ich wach für die Sprache selbst und der Inhalt interessiert mich nicht. Ein Beispiel ist die Übung «Dass er dir log, uns darf es nicht loben». Ich gehe auf im Hören einer Silbe, sie ist ein lebendiges Wesen, das ich erwecke. Man kann die ersten Schritte auf dem Weg in die geistige Ebene der Sprache unternehmen, wenn man sich löst vom reinen Inhalt und in das Lautgeschehen eintaucht, in diese wundersame Ergänzung von Vokal und Konsonant, die das Wesenhafte der Silbe erschafft. Das hat etwas mit Achtsamkeit und der Überwindung egoistischer Ziele zu tun. Egoistisch und missbrauchend wäre: Ich will meine Ziele durchsetzen und verschleiere eventuell diese durch meine Wortwahl bis hin zur Verwendung leerer Worthülsen. Dabei wird der manipulative Aspekt der Sprache sichtbar. Steiner hat einmal gesagt, wir verwendeten die Sprache nur als Informationsübermittlung. Dafür sei die Sprache eigentlich gar nicht gedacht gewesen. Die Sprache ist eigentlich die Himmelsleiter zu den Hierarchien hinauf. Sie steht im Zentrum der Anthroposophie, wenn ich das mal so sagen darf. Das 1. Goetheanum war das Haus der Sprache.
Weitere wichtige Qualitäten sind die die Sprache verlebendigende Gebärde, der in den Atem führende Rhythmus. «Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.», ein Zitat von Hilde Domin. Hier kann man bei guter Atemführung plötzlich merken: Der Atem trägt mich durch die Sprache.
Ein zentraler Heilrhythmus ist der Hexameter. Er holt uns aus dem Kopfpol über die Mitte in die Füße, was wir so dringend brauchen. Oft leiden wir ja darunter, dass die Gedanken zu kreisen beginnen, immer an denselben Punkt kommen und das schon fast zwanghaft wird. In so einem Zustand habe ich einmal ganz intensiv den Hexameter gepflegt und bin ihn rezitierend im Wald gelaufen, bis sich die Zentrierung im Kopf nach unten gelöst hat.
Außerdem wäre noch die Formkraft der Sprache zu erwähnen, bis dahin, dass Sprache auch organgestaltende Kräfte gerade beim Heranwachsen des kleinen Kindes hat. Deswegen ist es so wichtig, dass wir als Erzieher die Schönheit der Sprache erleben und pflegen. Daran hangelt sich das Kind empor zum Erwachsenwerden.
SB: Welche Rolle spielt für dich der Schulungsweg?
OA: Von den höheren Erkenntnisvermögen Imagination, Inspiration und Intuition ist die Basis, die Imaginationsebene, das freie Bildschaffende, zunächst einmal wichtig für mich. Wie man zur Inspiration kommt, ist mir noch nicht so ganz klar, aber ich vermute, dass es etwas mit dem Gegenüber, der Begegnung zu tun hat. Durch Empathie betritt man einen neuen Raum. In der Imagination betritt man den Raum des Bildes und des Zeitverlaufs, für die Inspiration muss man das Soziale pflegen. Was Beuys als soziale Plastik bezeichnet, das könnte man mit Sprache ganz gut anlegen. Die Intuition ist mir noch verschlossen, aber der Weg dorthin liegt vor uns. Es gibt den berühmten Hinweis von dem Zeugungsorgan des Kehlkopfs, das in der Zukunft entstehen soll. Diese Zeugungsfähigkeit durch das Wort – die Idee ist von Ralf Große, dem Gründer des Hiram-Hauses, – könnte ein Gemeinschaftswerk sein in Zukunft. Zeugen tut man ja auch nicht allein, das könnte also in Zukunft eine gemeinsame schöpferische Tätigkeit von weiter entwickelten Menschen sein, wie auch immer das genauer aussieht.
SB: Was ist dir in dem Gespräch für eine Erkenntnis gekommen?
OA: Durch das Sprechen über die Sprache und das gemeinsame gedankliche Herantasten an sie werden ihre Möglichkeiten erahnbar und es könnte eine belebende Aufgabenstellung daraus entstehen. Auf der Suche nach dem Wesen der Sprache befinde ich mich jedenfalls, und zwar nicht alleine sprechend, sondern mit anderen zusammen.
Dipl.-Ing. Oliver Avianus | geb. 1967, Architekturstudium in Berlin und Lausanne, Studium «Sprachgestaltung und Schauspiel» an der Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn, Ausbildung zum Klassenlehrer in Kassel, Heilpraktiker für Psychotherapie, 2000 bis 2007 Klassenlehrer in Weimar, 2010 bis 2022 Dozent für Sprachgestaltung am Lehrerseminar Berlin. Aktuell tätig als Sprachgestalter und Beirat im Hiram-Haus Berlin in der Suchtkrankenhilfe, Therapeutischer Sprachgestalter am Krankenhaus Havelhöhe in der Psychosomatik, Onkologie, Pneumologie und Geriatrie, Dozent für Sprachgestaltung am Lehrerseminar in Leipzig und Dresden und freischaffend als Therapeut und Coach über Kurse und Vorträge tätig.
Stefanie Benke | geb. 1975, wuchs in Ratingen auf. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Journalistik in Leipzig, promovierte in Germanistik über das Thema «Leben und Form um 1900» und schloss die Waldorflehrerausbildung in Berlin ab. Sie unterrichtete an verschiedenen Waldorfschulen. Seit 2011 ist sie Klassen-, Religions- und Deutschlehrerin an der inklusiven Karl-Schubert-Schule Leipzig. Seit 2018 gibt sie Kurse am Leipziger Waldorflehrerseminar (Campus Mitte-Ost)