100 Jahre Weihnachtstagung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft – und jetzt?
Ein Beitrag aus der Weihnachtsausgabe 2024 der Zeitschrift "Anthroposophie". Im Nachdenken über 100 Jahre Weihnachtstagung fällt auf, dass es kaum möglich ist, unmittelbar darüber öffentlich zu sprechen. Nicht nur, weil dies ein anthroposophieinterner Vorgang ist, den nur Anthroposophen verstehen können, die sich mit der Geschichte dieser Bewegung beschäftigen, sondern auch, weil das Thema „esoterische Gesellschaftsgestaltung“, allen aktuellen öffentlichen Zeitthemen völlig fremd ist. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch bei der Weihnachtstagung um ein absolut zeitgemäßes Geschehen, nämlich die Führung von unten, also um Demokratie im eigentlichen Sinne des Wortes.
Die demokratische Gesellschaftsform, die in der westlichen Welt lange wie eine Selbstverständlichkeit galt, wird heute zunehmend angegriffen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als Demokratie für sich keinen Bestand haben kann ohne die beiden anderen Felder, das der Erkenntnisbildung, also des Geisteslebens, und das der Zuwendung zum Bedarf der Menschen und der Natur, das Wirtschaftsleben. Vor der Konsequenz, dass Gesellschaftsgestaltung von unten ohne reales Geistesleben, also Esoterik, gar nicht möglich ist, schreckt ja nicht nur die Öffentlichkeit zurück, sondern auch der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft, der sich nach wie vor scheut, sich als esoterischer Vorstand zu verstehen bzw. dem dies von einem Großteil der Mitglieder auch nicht zugestanden würde.
Nun ist es leicht, auf diese Wunde zu deuten. Es geht mir aber in diesem Beitrag nicht um eine Deutung, sondern um Beteiligung. Das heißt, ich will nicht über die Weihnachtstagung sprechen, sondern aus dem Geist der Weihnachtstagung. Dieser Anspruch ist leicht Missverständnissen ausgesetzt. Das, was Rudolf Steiner mit dem esoterischen Vorstand an der Weihnachtstagung inauguriert hat, war zwar eine Großtat, aber auch erst ein Anfang, keine Vollendung. Sowenig es angeht, mit Esoterik gleich die volle geistige Welt- und Selbsterkenntnis zu identifizieren, statt anzuerkennen, dass der einfachste eigene Gedanke bereits Esoterik ist, so hat auch die soziale Esoterik ihren Beginn, der naturgemäß zunächst nur klein und unscheinbar sein kann. Dieser Anfang der Esoterik im Sozialen hat sein Urbild in der Zwei. Kollegialität beginnt zu zweit. Darin gibt es Erfahrungen. Doppelspitzen sind keine Seltenheit, meist zwar ohne geistige Perspektive, eher menschlich-persönlich oder pragmatisch motiviert. Eine Doppelspitze gewinnt ihre esoterische Dimension jedoch erst, wenn gemeinsam aus einem Geist, aus dem Geist des gemeinsamen Unternehmens, gearbeitet wird. Diese Erfahrung gibt es ebenfalls in Fülle, meist jedoch nur episodisch, also mit längerer oder kürzerer Verfallszeit. Dass das Urbild der Zwei gerne übersprungen wird und Kollegialität in größerer Anzahl oder als „wir alle“ gedacht wird, dürfte ein Grund für den Frust in vielen kollegialen Entwicklungen sein.
Zum Urbild der Zwei gehört noch ein weiterer Aspekt, den Rudolf Steiner „das Zusammenwirken der aristotelischen und platonischen Strömungen“ genannt hat. Das heißt, die Zwei ist nicht nur eine numerische Größe, sondern auch eine qualitative. Es kommt darauf an, die Zwei als das Zusammenwirken polarer Veranlagungen zu verstehen. Das sind nicht die zwei, zwischen denen die Chemie stimmt, die sich karmisch nahe sind, sondern gerade die, die sich eher aus dem Weg gehen oder gar in Konfrontation stehen. Wenn man bedenkt, dass die Repräsentanten der platonischen und aristotelischen Strömungen sich historisch jahrhundertelang nacheinander inkarniert haben, also wenig persönlich-karmische Berührung hatten, zeigt das, dass der andere Pol aktiv gesucht werden muss und die Zusammenarbeit und das Interesse aneinander sich keineswegs einfach ergeben. Bei der Firma „Sonett“ arbeiten wir seit über 30 Jahren im Sinn einer solchen Doppelspitze mit dem Prinzip der Einigkeit im Geist des Unternehmens. Aktuell stehen wir vor der großen Frage der Nachfolgegestaltung, also einer echten Weihnachtstagungs-Frage. Aus dieser Konkretheit versuche ich in diesem Beitrag das Ereignis der Weihnachtstagung persönlich zu nehmen.
Historisch
An Weihnachten 1923/24 wurde die Anthroposophische Gesellschaft neu begründet. Die damals bestehende Gesellschaft war 1912 gegründet worden, nachdem Rudolf Steiner sich von der Theosophischen Gesellschaft distanziert hatte. Rudolf Steiner trat jedoch selbst nicht als Mitglied in diese Gesellschaft ein, sondern verstand sich als Geistesführer der anthroposophischen Bewegung ohne Amt in der Gesellschaft. Die Verhältnisse in dieser entwickelten sich in den folgenden zehn Jahren jedoch so kontrovers, dass auf Betreiben von Rudolf Steiner 1923 parallel zu der bestehenden Gesellschaft eine zweite gegründet wurde, die „Freie Anthroposophische Gesellschaft“, in der sich vor allem die jüngeren Mitglieder versammelten. Die Diskrepanz zwischen den alten und den jungen Anthroposophen drückte Rudolf Steiner sinngemäß so aus: Die Alten verstehen alles und machen nichts, die Jungen verstehen nichts und handeln sofort. Diese Aufspaltung der Gesellschaft war allerdings eine absolute „Anomalie“, die „allen Grundfesten der Anthroposophischen Gesellschaft widersprach“[1], und es zeigte sich schon schnell, dass diese Aufspaltung auch zu keiner Weiterentwicklung führte. Die Situation war so verfahren, dass Rudolf Steiner sogar zu der Frage kam, ob er sich von der Anthroposophischen Gesellschaft ganz zurückziehen müsse.[2]
Der Umschwung, den Rudolf Steiner mit der Weihnachtstagung intendierte, war fundamental. Er bezeichnete sie als einen „Welten-Zeitenwende-Anfang“.[3] Das Zentrum des vollkommen Neuen der damals begründeten „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ lag darin, dass Rudolf Steiner selbst in die Leitung dieser Gesellschaft eintrat, und zwar als Vorsitzender eines Leitungskollegiums, zusammen mit fünf „bewährten“ Mitgliedern, wie er sie nannte. Dadurch sollte die Einheit von Anthroposophischer Bewegung und Anthroposophischer Gesellschaft konstituiert werden; man kann auch sagen, die geistige und die irdische Seite der Anthroposophie sollten vereint werden. Der Schritt Rudolf Steiners, sich in ein gesellschaftliches, also juristisches Amt zu begeben, war aus okkulter Tradition ein Sakrileg. „Um Bewegung und Gesellschaft zu retten, war er nach ‹schwerem inneren Überwinden› (Dornach, 24. Dezember 1923) zu dem Entschluss gekommen, mit der bisherigen okkulten Richtlinie, die Leitung von Bewegung / Esoterische Schule und Gesellschaft getrennt zu halten, zu brechen.“[4]
Die Tat Rudolf Steiners bestand aber nicht nur in der Übernahme eines Amtes, sondern insbesondere darin, dass er zwar als Vorsitzender, aber innerhalb eines sechsköpfigen Kollegiums fungierte. Dieser Doppelschritt bedeutete die Wende der Geistesführung von oben zur Geistesführung von unten. In dieser Umwendung liegt auch die Konsequenz, dass Rudolf Steiner keine Nachfolge bestimmt hat. Das deutet darauf hin, dass mit der Wende der Führung von oben hin zur Führung von unten diese keine Individualangelegenheit mehr sein kann, sondern eine gemeinschaftliche. Mit Rudolf Steiner endet die solistische Führerschaft auf allen Ebenen.
Geistige Führung von unten
Was macht Führung von unten in einer geistig-irdischen Gemeinschaft aus? Mit geistig–irdisch meine ich das Verständnis des Vorstands als „esoterischen Vorstand“, wie Rudolf Steiner den Weihnachtstagungsvorstand bezeichnete. An diesem Begriff bzw. an dem Verständnis dieses Begriffs hat sich seit dem Tod Rudolf Steiners vielfach Streit entzündet. Ein esoterischer Vorstand ist nicht allein ein juristischer Funktionsträger, sondern versteht sich als geistig-irdischer Vorstand, für den der Geist der Gesellschaft eine Realität darstellt. Damit ist auch klar, dass eine esoterische Vorstandschaft nicht mit dem Tod endet. Das heißt, Rudolf Steiners Mitwirken in diesem Vorstand kann keineswegs auf sein irdisches Leben begrenzt sein, sondern geht über den Tod hinaus. Das macht gerade die Wende der Führung von oben zur Führung von unten aus: Es geht nicht um die Aufhebung von Geistesführung, sondern darum, dass diese nicht mehr von oben als Autorität wirkt, sondern von unten gesucht wird. Es ist die Aufgabe der Nachfolgenden, gemeinsam mit den Vorläufern – in diesem Fall Rudolf Steiner – die Aufgabe weiterzuführen. Das liegt auch ganz in der Linie, dass Michael nicht mehr von sich aus in die Menschensphäre hineinwirkt, sondern darauf angewiesen ist, dass ihm die entsprechende Aktivität von unten entgegengebracht wird.
Die drei Klassen der Freien Hochschule
Dass dieser Schritt von unten nach dem Tod Rudolf Steiners nicht vollzogen wurde, dokumentiert sich auch darin, dass es bisher nur bis zur Einführung der 1. Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft gekommen ist. Die 1. Klasse ist die Klasse der Selbsterkenntnis, dieser Schritt kann und muss von jedem einzelnen Individuum selbst getan werden. Der Schritt zur 2. Klasse ist meines Erachtens ein Gemeinschaftsschritt, den niemand – auch nicht Rudolf Steiner – allein gehen kann. Und dann war ja noch eine 3. Klasse intendiert, die sich meines Erachtens auf die Wirksamkeit der Anthroposophie, also auf die Töchter oder Lebensfelder bezieht, deren Verhältnis zu den Sektionen und zum Vorstand ja auch eine Dauerfrage darstellt.
Die Rhythmik der 100 Jahre nach der Weihnachtstagung
Dieses dreifache Potenzial der Hochschule, d. h. ihre Konstitution in drei Klassen, lässt sich nach 100 Jahren auch im historischen Ablauf auffinden. 1989 erschien in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ ein Aufsatz von Paul Mackay über die drei Phasen der Entwicklung der anthroposophischen Gesellschaft seit der Weihnachtstagung. Er identifizierte drei 33⅓-Jahres-Schritte mit den Schwerpunkten: Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben. Das Erscheinungsjahr von Mackays Aufsatz war demnach das Jahr des Beginns des dritten Jahrhundert-Drittels mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsleben. Dieser Artikel hatte mich damals sehr angesprochen, weil er zeitgleich mit dem Ereignis zusammentraf, dass 1989 Beate Oberdorfer und ich in das Unternehmen Sonett eingetreten sind. Dieser Eintritt geschah im Rahmen eines Lebensgemeinschafts-Projekts, das wir einige Jahre zuvor mitbegründet hatten. In diesem Jahr 1989 hatten wir das Erlebnis, dass unsere intensive Arbeit an neuen Gemeinschaftsformen in gewissem Sinn an ein Ende gekommen war und es jetzt darauf ankäme, aus diesen Erfahrungen in ganz neue Dimensionen, nämlich in das Feld des Wirtschaftslebens vorzustoßen. Zu unserem Eintritt bei der Firma Sonett passte die Perspektive von Paul Mackay in konkretester Weise.
In diesen dritten 33⅓ Jahren machten wir, wie viele andere anthroposophische Unternehmen auch, eine vehemente Entwicklung durch. Jedes Jahr wuchs Sonett zweistellig und die Produkte fanden weltweit Verbreitung. Pünktlich trat nun gegen Ende dieser Zeitepoche ab 2020/21, infolge von Corona und des Kriegs in der Ukraine eine Wirtschaftskrise ein. Sonett verzeichnet erstmals Umsatzrückgänge, verliert Kundschaft und Ertrag. Unsere Alleinstellungsmerkmale – die rhythmisierten balsamischen Waschmittelzusätze, die Verwirbelung des Prozesswassers und die mit der Delos-Forschungsstelle entwickelte Fluidische Oszillation unserer Mistelaufschlüsse – werden zunehmend schwieriger zu kommunizieren.
100 Jahre Weihnachtstagung – und jetzt?
Worauf es nach 100 Jahren ankommt, hat Stefan Ruf exemplarisch in seinem Buch „Klimapsychologie“ als ganz persönliches Erlebnis beschrieben. Er bezieht sich auf einen Vortrag von Hans Joachim Schellnhuber im Mai 2017, der ihn, wie er es nennt, an einen „inneren Kipppunkt“ geführt hat. Er schreibt: „[…] seither ist mir nicht mehr möglich, was dreißig Jahre lang irgendwie funktionierte, nämlich, dass meine ökologische, meine soziale und meine individuelle Seite separat nebeneinander her leben und für manche Phase mal diese, mal jene Oberhand hat.“[5] Die Konsequenz aus dieser Einsicht ist gravierend. Eigentlich ist sie eine Selbstverständlichkeit, denn ideell gehören die drei Felder organisch zusammen. Vom Ich aus gesehen ist diese Erkenntnis jedoch nicht nur eine ideelle Angelegenheit, sondern eine Gestaltungsaufgabe.
Das, was Paul Mackay als Schwerpunkte der Anthroposophie in den 3 × 33⅓ Jahren charakterisiert hat, verlief nacheinander in der Zeit. Wir hatten also je 33⅓ Jahre Zeit, uns auf die einzelnen Felder zu konzentrieren. Jetzt ist die Schonzeit vorbei. Die drei Felder sind in ihrer Gesamtheit und Gleichzeitigkeit gefragt. Wenn ich diese Gleichzeitigkeit ernst nehme, setzt diese Wende eine persönliche Generalentscheidung voraus, nämlich die Entscheidung, nicht mehr zum Ich hin, sondern vom Ich aus zu wirken, d. h. die Welt ist nicht mehr für mich da, sondern ich bin für die Welt da.
Die Substanz dieser Fundamentalentscheidung ist, dass ich mir die Welt und Menschheitsentwicklung zu eigen mache. Das ist die Umkehr der Karma-Gesetzlichkeit. Individualentwicklung wird Menschheitsentwicklung und zeigt sich in dem Bedürfnis nach partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Die gemeinschaftliche Konsequenz vom Ich aus ist gemeinsame Unternehmensführung in Gleichzeitigkeit mit ökologischer Verantwortung. Ökologie in diesem Sinn erschöpft sich nicht darin, dass ich im Bioladen einkaufe, sondern bedeutet, dass ich mich für Erzeugung, Handel und Konsum nachhaltiger Produkte mitverantwortlich fühle. Jedes Feld, das nicht eingebettet ist in diese Dreiheit, fällt heraus und höhlt sich selbst aus. Es genügt nicht mehr, nur das eine oder andere oder zwei Felder zu bearbeiten, die Dreiheit ist vielmehr Bedingung, dass ich auch in den einzelnen Feldern weiterkomme.
Es ist z. B. durchaus gängig, dass Verantwortliche in anthroposophischen Institutionen diese in kollegialer Selbstverwaltung betreiben. Wer darin Erfahrung hat, kennt die Anstrengungen und Ernüchterungen, die damit einhergehen. Das Kollegiale wird vielfach als Zusatzbelastung zur eigentlichen Aufgabe erlebt. Solange die Inhalte, also die eigentliche Aufgabe, z. B. Waldorfpädagogik, von oben betrieben wird, ist kollegiale Selbstverwaltung etwas Zusätzliches. Wird die Aufgabe hingegen als gemeinsames Entwicklungsfeld von unten verstanden, wird Kollegialität konstitutive Notwendigkeit. Das dritte Feld, das Wirtschaftliche, also die Verantwortung für die Herkunft und den Einsatz der materiellen Mittel, ist dabei noch gar nicht im Blick. Einrichtungen des Geisteslebens sind ihrer Natur nach nicht wirtschaftlich wertschöpfend, die finanziellen bzw. materiellen Mittel müssen ihnen geschenkt werden. Vom Ich aus kann der Empfang von Schenkungsgeldern keine passive Anspruchshaltung sein. Ein Verantwortungsverständnis bis in das Feld der Herkunft der Finanzen könnte konkrete Partnerschaften mit Wirtschaftsunternehmen impulsieren. Das wäre für beide Seiten nicht nur eine Bereicherung, sondern im Sinn der dreifachen Gleichzeitigkeit eine Notwendigkeit, die die eigentlichen Aufgaben erst organisch einbetten.
Man stelle sich darüber hinaus ein Wirtschaftsunternehmen vor, das seine gesellschaftliche Verantwortung nicht einfach nur durch Steuerzahlung, also gezwungenermaßen, ausgleichen will und damit dem Staat weitgehend die Verantwortung für Bildung und Kultur überlässt, sondern aus freien Stücken konkret Verbindung mit Unternehmen des Geisteslebens sucht – und dies nicht nur aus humanitär-karitativen Motiven oder in großzügiger Mäzenatengeste, sondern zugehörig zur eigenen dreifachen Verantwortung und Unternehmenskultur.
Schnittpunkte zwischen Unternehmen des Geistes- und des Wirtschaftslebens gibt es in Fülle, z. B. das Verständnis des Unternehmens als Geistwesen, die kollegiale Zusammenarbeit und Führung und nicht zuletzt das gesamte Welt- und Menschenverständnis, aus dem herausgearbeitet wird. Das funktioniert sofort, wenn man neben dem unternehmerischen und geistigen Interesse sich auch rein menschlich begegnet.
Kulturwirksamkeit der Anthroposophie
Was die Kulturwirksamkeit der Anthroposophie betrifft, lässt sich exemplarisch an der Naturkostbewegung beobachten. Diese Bewegung, die vor ca. fünfzig Jahren in Gang kam, war ihrer Motivation nach aus meiner Sicht eine anthroposophische. Und zwar insofern, als die gängige Ausbeutungsmentalität und Unverantwortlichkeit gegenüber der Natur und den Menschen nicht nur entlarvt und kritisiert wurde, sondern Menschen selbst die Sache in die Hand nahmen, neue Landwirtschaft, neue Lebensformen, neue Handels- und Produktionsformen kreierten, d. h. nachhaltig dreigliedrig aktiv wurden. Heute ist der Begriff Nachhaltigkeit in aller Munde, der Bewusstseinsgewinn ist enorm, die Taten hinken allerdings weit hinterher. In Deutschland finden 80 % der Bevölkerung Bio gut und wichtig, der Naturkostmarkt macht jedoch nur ca. 7 % des gesamten Lebensmittelmarkts aus. Die Naturkostbewegung, so klein sie quantitativ auch ist, hat dennoch eine enorme Kulturwirksamkeit.
Solche homöopathische Wirksamkeit gilt gleicherweise auch für die Führung von Unternehmen. Wenn unter sozial alle oder ein abstraktes Wir gemeint ist, fehlt dem Unternehmen reale Verantwortungszuständigkeit. Im Unternehmen muss die soziale Homöopathie in der Führung ansetzen. Kollegialität beginnt bei Zweien – das strahlt aus und ohne diesen Kern bleibt Sozialentwicklung in Wir-Beschwörungen hängen. Auch in der anthroposophischen Bewegung wird es meines Erachtens in der Zukunft um eine homöopathische Kulturwirksamkeit in diesem Sinn gehen.
Im Lebendigen geht es um die Wertschätzung des Überhaupt. Man kann auch sagen, um die Reduktion und Konkretion auf das Urbildliche. Im Lebendigen ist im Kleinsten immer auch schon das Größte da – im Samenkorn der ganze Baum. Im Individuum ist das Kleinste mein Freiheitswesen, meine Verantwortung vom Ich aus; im Sozialen ist das Kleinste das Urbildliche, die Zwei; im Wirtschaftsleben ist das Kleinste das assoziative Zusammenwirken von Unternehmen. Assoziation im Sinn des Nationalökonomischen Kurses Rudolf Steiners bedeutet das Zusammenwirken von Produktions-, Handels- und Konsum-Unternehmen. Hier bedarf es der Drei, und zwar der institutionellen Drei. Wenn man unter Konsum-Unternehmen alle Unternehmen des Geisteslebens zählt, die wirtschaftlich gesehen ja reine Konsum- Unternehmen sind, könnten urbildliche assoziative Kooperationen von drei Unternehmen leicht in Gang gesetzt werden. Allerdings ist mir bisher keine solche Initiative bekannt und auch bei Sonett sind wir an dieser Stelle in allerersten Ansätzen.
„Industrialisierung“ der Anthroposophie
Für den Begriff der Weltwirksamkeit oder Ökologie ist noch ein weiterer Begriff entscheidend, den ich „die Industrialisierung der Anthroposophie“ nennen möchte. In dem Zyklus „Das Karma des Berufes“ spricht Rudolf Steiner von der Zeitnotwendigkeit der Spezialisierung aller Berufsarbeit. Der Sinn und die Wirkung der spezialisierten Berufsarbeit besteht darin, „dass sich das Berufsleben in einer gewissen Weise von dem menschlichen Interesse loslöst […] Es wird nicht mehr möglich sein in der Zukunft, dass man gewissermaßen aus dem Glutherd der erfreulichen Berufsarbeit heraus seine eigene menschliche Wärme den Dingen mitgeben wird. Man wird sie aber dafür keuscher in die Welt hineinstellen, dadurch aber auch empfänglicher machen für das, was in der geschilderten Weise, als motorische Kraft von dem Menschen selber ausgehend, durch den Menschen für die Dinge bestimmt werden kann“[6].
Allerdings muss dieser Spezialisierung ein geistiger Gegenpol hinzugefügt werden in Form gemeinsamer geisteswissenschaftlicher Arbeit. Wenn die menschliche Arbeit in diesem Sinn als Opfer geleistet wird, wird der „Labortisch zum Altar“[7], Arbeit wird zu einer sakramentalen Verrichtung. Das ist nur ein anderer Ausdruck für das, was oben als Ökologie gemeint ist, nämlich, dass mit dem Schritt vom Ich aus jetzt wir für die Natur da sind und nicht mehr die Natur für uns.
Die Folge der Industrialisierung der Anthroposophie ist ein vollkommen umgewendetes Stoffverständnis. Die Verwandlung von Stoffen zu brauchbaren Gegenständen muss sich an den Stoffen selbst orientieren und nicht primär an deren Nutzen. Je mehr es gelingt aus den Stoffen heraus Produkte zu entwickeln und nicht nur die Stoffe „zu unserem Dienste“[8] zu bilden, wird uns ein Nutzen in höherem Sinne geschenkt werden. Das Vorbild dieser Umkehrung findet sich in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft: Je mehr wir der Natur zuarbeiten, anstatt sie auszubeuten, umso gesünder werden die Ackerböden sein und die Produkte, die wir ernten. Die gängige industrielle Landwirtschaft ist das krasse Gegenbild dazu.
Die hier gemeinte positive Industrialisierung beschreibt ein Naturverständnis, das ein Alleinstellungsmerkmal der Anthroposophie darstellt. Es geht von einem Entwicklungsbegriff aus, der nicht nur den Menschen, sondern die ganze Natur und Welt betrifft, ein Entwicklungsbegriff, in dem der Mensch Zentrum der Entwicklung ist, und zwar ein doppeltes Zentrum. Zunächst ist alle Entwicklung auf den Menschen gerichtet: zum Ich hin. Dann erfolgt der Umschlag zur Entwicklung vom Ich aus. Das ist die Wende von der Individualentwicklung zur Menschheitsentwicklung: Individualentwicklung braucht Gemeinschafts- und Weltentwicklung. Solche Gemeinschaftsbildung bedarf konkreter Geistbezüglichkeit. Zum einen zum Wesen des eigenen Unternehmens, zum anderen zu unseren Verstorbenen. In dem Zyklus „Der Tod als Lebenswandlung“ beschreibt Rudolf Steiner, dass in der Zukunft die Verstorbenen „Berater“ der Lebenden sein werden. Diese Zukunft ist mit der Weihnachtstagung Gegenwart geworden. Und welcher Verstorbene ist uns in diesem Zusammenhang näher als Rudolf Steiner selbst?!
Fazit
1. In der individuellen Entwicklung vom Ich aus geht es nicht mehr um mich, auch nicht um die Erlangung höherer Fähigkeiten, sondern um das, was die Welt braucht. Und ich kann sicher sein, dass, wenn ich die Lebensentscheidung treffe, mich mit der gesamten Weltaufgabe zu identifizieren, und das bringe, was ich bringen kann, ich erst zu mir selbst, also zu meiner individuellen Aufgabe und zur Erlangung höherer Fähigkeiten kommen werde.
2. In der sozialen Entwicklung vom Ich aus geht es um Partnerschaftlichkeit aus entgegengesetzter seelisch-geistiger Herkunft und Veranlagung, urbildhaft zu zweit. Kollegialität, Selbstverwaltung, Demokratie brauchen als Zentrum die Einigkeit von Zweien in gemeinsamer institutioneller Verantwortung.
3. Die ökologische Entwicklung vom Ich aus zielt auf die Verwandlung der Erdenstoffe und des Organismus Erde. Das Wohl des Einzelnen ist abhängig vom Wohl aller Menschen. Das Positivbild zur Globalisierung ist Menschheitlichkeit anstelle von Ausbeutung, Aneignung und extrem ungleicher Verteilung von Vermögen und Einkommen. Dieses Feld ist nicht allein Domäne von Wirtschaftsunternehmen, sondern bedarf gleicherweise der Zuständigkeit und Mitgestaltung von Unternehmen des Geisteslebens. Werden Unternehmensgewinne nicht länger einseitig dem Kapital, Interessengruppen oder dem Staat zugeschlagen, sondern als Gemeingut verstanden, ergeben sich ganz neue unternehmerische Aufgaben für das Zusammenwirken von Unternehmen des Geistes und des Wirtschaftslebens.
Die Gleichzeitigkeit von Individualentwicklung, Sozialentwicklung und Ökologie wird konkret, wenn ich im Kleinsten wie im Größten den Geist ernst nehme, wenn ich mich jeder Lebenssituation als persönlicher Aufgabe stelle und wenn ich mich auf partnerschaftliches Zusammenwirken einlasse. Das Letztere erscheint mir als die größte der drei Aufgaben.
Gerhard Heid, geb. 1949, Dipl.-Kfm., Geschäftsführung in anthroposophischen Einrichtungen, 1981 Mitgründung einer Lebensgemeinschaft, 1992 Mitgesellschafter der Firma Sonett, 2014 Umwandlung der Sonett GmbH in ein Stiftungsunternehmen, Mitglied des Vorstands der Stiftung Sonett.
Kontakt: gerhard.heid @sonett.eu
[1] Rudolf Steiner: Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24. (GA 260), Dornach 1994, S. 39.
[2] Rudolf Steiner: Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904–1914. (GA 264), Dornach 1996, S, 439.
[3] Rudolf Steiner: Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes. (GA 233), Dornach 1991, S. 148–164, Vortrag vom 1.1.1924.
[4] Rudolf Steiner: Zur Geschichte […] der Esoterischen Schule […]. A. a. O., Schlusswort des Herausgebers.
[5] Stefan Ruf: Klimapsychologie. Frankfurt 2021, S. 263.
[6] Rudolf Steiner: Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben. (GA 172), S. 93.
[7] Rudolf Steiner: Der Tod als Lebenswandlung. (GA 182), Dornach 1996, S. 67.
[8] Rudolf Steiner: Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen. (GA 229), S. 93.