Karma-Erkenntnis als zentrale Aufgabe der Anthroposophie
Die Aufforderung, sich die Idee vom sich wiederholenden Erdenleben nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Konkreten zur Anschauung zu bringen, gehört zum zentralen Vermächtnis Rudolf Steiners. Dazu wurden Übungen gegeben, die vom einzelnen Menschen für sich alleine ausgeführt werden können. Es hat sich aber gezeigt, dass solche Übungen auch im Gruppengespräch fruchtbar sind. In dieser Richtung engagierte Menschen arbeiten seit mehr als 20 Jahren zusammen. Die Seminarreihe „Karmapraxis“ von 2011 bis 2012 in Bochum, der Karma-Tagung 2019 in Kassel und die Jahresversammlung 2022 ebenfalls in Kassel waren überregional ausstrahlende Veranstaltungen, die aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangen sind. Diese Arbeit soll in Gestalt kleiner Forschungskolloquien bei weiteren Treffen fortgeführt werden. Die folgenden kleinen Beiträge geben Einblick in das erste Treffen, das am 9. und 10. Februar dieses Jahr stattgefunden hat. (Red.)
Der karmische Aspekt der menschlichen Gestalt
Was verrät der äußere Anblick der menschlichen Gestalt? Man möchte antworten: „Alles“ – und unter bestimmten Blickwinkeln sogar die karmischen Hintergründe, aus denen heraus diese Gestalt entstanden ist.
Die Übung, die wir gemeinsam ausführten, verdanke ich einer Entdeckung. In der Frühzeit meiner Arbeit mit der Menschenbetrachtung habe ich gerne die Physiognomie einer Teilnehmerin oder eines Teilnehmers beschreiben lassen. Das ist nicht einfach. Dank der klar vor Augen liegenden Formen ist es aber einfacher als die Beschreibung der menschlichen Gesamtgestalt. Damals blieb es allerdings bei der Beschreibung der Einzelheiten, die die Physiognomie bietet. Mund, Kinn, Stirn usw.: Lässt sich das mittels der Beschreibung nachplastizieren? Wie etwa sind die Mundwinkel beschaffen? Später fand ich jedoch eine Frage, die es erlaubt, die Physiognomie als ein Gesamtbild zu betrachten. Das wollte ich ausprobieren und machte eine verblüffende Erfahrung: Als ich das Modell nach der langen Zeit der Betrachtung fragte, wie es ihm während dieser Zeit ergangen war, kam eine andere Persönlichkeit zum Vorschein als die, die wir beschrieben zu haben glaubten. Es war der Eindruck eines alten Senators entstanden, der sich aus den Diskussionen heraushält, um zum Schluss Bemerkungen zu machen, an denen man schlecht vorbeigehen kann. Die Persönlichkeit, die auf meine Frage antwortete, wandte sich dagegen warm und offen an ihre Umgebung und suchte den Kontakt. Der Eindruck der ruhenden Formen des Gesichts und der Eindruck der sprechenden Persönlichkeit waren nicht identisch. Lässt sich diese Beobachtung wiederholen oder gar vertiefen?
Mit dieser Frage stellt sich die Aufgabe, nicht nur Eindrücke entstehen zu lassen, sondern durch behutsames Fragen die beschriebene Physiognomie in das Bild einer menschlichen Gesamtgestalt zu übersetzen. Wovon sprechen Mund, Kinn, Stirn und die Mitte des Gesichts? Lässt sich erkennen, wie sich diese Gestalt bewegt? Hat sie einen energischen Gang oder steht sie eher? Führt sie ein Wanderleben oder sind Innenräume ihre Umgebung? Ist sie mitteilsam oder eher aufnehmend, lauschend oder verschlossen? Wie steht es um ihr Empfindungsvermögen? Wofür interessiert sie sich? Und wie verarbeitet sie das? Wie verhält sich ihr Geistiges zur Welt? Bezieht es sich vornehmlich auf die Tat oder bildet es einen eigenen, sich in sich selbst haltenden Raum? Lässt sich die Lichtqualität dieses Raumes beschreiben? Und schließlich: Was sieht diese Persönlichkeit und wie tut sie das? Hat sie einen Blick für konkrete Situationen, für die äußeren Gegebenheiten oder ist es ein Blick, der von Imaginationen erfüllt ist? Auf diese Fragen kommt es an. Sie helfen, dem Gehalt des Wahrgenommenen nachzugehen und tatsächlich Antworten zu finden. Denn das ist das Verblüffende: Es finden sich Antworten! Dabei erweist sich das Gruppengespräch als große Hilfe. Schon allein: Wer könnte seine Aufmerksamkeit eineinhalb Stunden lang aufrechterhalten, wenn er nicht speziell geschult ist? Und: Wer traute seinen eigenen Eindrücken, wenn sie nicht in den Beiträgen der anderen ein Echo fänden? Was als vager Eindruck beginnt, gewinnt allmählich Kontur und, dank der unterschiedlichen Arten, zu beschreiben, eine vom einzelnen Teilnehmer abgelöste Objektivität.
Manche Fragen bleiben aber auch offen. Ohne die Mitteilung Rudolf Steiners, dass in der Gestaltung des Hauptes der Charakter eines früheren Erdenlebens zum Ausdruck kommt, würde man die eingangs beschriebene Beobachtung wahrscheinlich weder bemerken noch ernst nehmen. Doch was kommt in den erarbeiteten Charakterisierungen zum Ausdruck? Sollte, da sich die Geschlechter ja in der Regel bei ihrer Wiederverkörperung abwechseln, bei einem Männerkopf nicht ein Frauenleben sichtbar werden? Dabei ist durchaus denkbar, dass es naheliegend, tatsächlich aber ein Fehler ist, die Vorlage einer männlichen Physiognomie in eine männliche Gestalt zu übersetzen. Schwieriger wird es, wenn sich das Modell selbst in der Renaissance verortet, für die Beobachtenden aber der Eindruck einer spätantiken Geistigkeit entsteht. An dieser Stelle ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es eine Übung war, die wir unternommen hatten. Es geht darum, für die eigene Anschauungsfähigkeit eine gewisse Geschmeidigkeit zu entwickeln, nicht darum, zu eindeutigen und zuverlässigen Ergebnissen zu kommen. Der Vergleich der in der Anschauung erarbeiteten Persönlichkeit mit der heute lebenden führt aber zu durchaus nachvollziehbaren Zusammenhängen. Es können Wendungen beobachtet werden. Die Freiheit und Offenheit des beschriebenen Beispiels kann als Ergebnis früherer Erfahrungen verstanden werden. Flexibilität antwortet auf die Bindung an schwere Aufgaben. Bei anderen Modellen steht Kontinuität im Vordergrund. Es geht nicht um die Frage „Wer war ich?“. Vielmehr zeigen sich die Themen einer biografischen Abfolge.
Eines aber ist gewiss: Es ist ein Fest, zu erleben, wie eine Gestalt, die man schon hundert Mal – oder besser: noch nie richtig – gesehen hat, allmählich ins Licht gehoben wird und an Tiefe gewinnt!
Alexander Schaumann (Künstler und Workshopleiter, Bochum)
Gedanken über das Kapitel „Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal“ aus Rudolf Steiners Theosophie(GA 9, 1904)
Der Übung mit Alexander Schaumann kam es zugute, dass unser Treffen die Nacht von Freitag zu Samstag einschloss. Es ist erstaunlich, mit welcher Fülle an Eindrücken man aufwacht, von denen am Abend zuvor noch nichts zu spüren war. Hier vollzieht sich eine Klärung, ohne die die Übung vielleicht unbefriedigend bliebe. Anschließend widmeten wir uns einem zentralen, wenn nicht dem zentralen Text Rudolf Steiners – ein Wechsel, der ebenfalls als eine Hilfe zur Klärung empfunden werden konnte.
Der Gedankengang, der dem Kapitel „Wiederverkörperung und Schicksal“ aus R. Steiners Theosophie von 1904 zugrunde liegt, ist zunächst schlicht und gedanklich klar formuliert: Unser Leben zwischen Geburt und Tod ist von Faktoren abhängig, die über dieses Leben hinausweisen. Diese Faktoren werden im vorletzten Absatz klar benannt: „… der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. (…) Und der Geist steht unter dem Gesetz der Wiederverkörperung.“ Diese Zusammenhänge können durch ein wirklichkeitsbezogenes Denken beziehungsweise durch genaue, vom Denken geleitete Beobachtung gewonnen werden. Sie sind damit auch eine Vorbereitung für übersinnliche Beobachtungen und Erlebnisse von vergangenen Erdenleben, die erst durch den ebenfalls in dem Buch beschriebenen Schulungsweg erlangt werden können.
Beschäftigt man sich eingehender mit diesem Kapitel, eröffnen sich Fragen, die zu einer fortlaufenden Arbeit anregen. Dabei sind wir zunächst der Frage nachgegangen, wie differenziert R. Steiner das Menschenwesen beschreibt, das sich durch Wiederverkörperung und Schicksal entwickelt. Ein besonderes Augenmerk fiel dabei auf die Unterscheidung zwischen Seele und Geist. Das betreffende Kapitel in der Theosophie ist in vier Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt wird die Seele beschrieben, wie sie sich in einen zeitlichen Verlauf stellt, Vergangenes im Gedächtnis bewahrt und das Morgen vorbereitet mit ihren Taten. Dabei vermittelt sie zwischen Gegenwart und Dauer. Im zweiten Abschnitt wird die Seele als Vermittlerin zwischen Leib und Geist beschrieben. So, wie sie als Empfindungsseele ein inniges Verhältnis zum Astralleib eingeht in Gestalt von Wahrnehmung und Erinnerung, so bewahrt sie als Bewusstseinsseele in ihrer Durchdringung mit dem Geistselbst Schätze für den Geist selbst auf, der diese verwandelt in Fähigkeiten.
Im langen dritten Abschnitt beschreibt R. Steiner, wie man zwischen leiblicher und geistiger Vererbung unterscheiden muss. Dies gipfelt in dem Satz: „Denn als geistiger Mensch ist eben jeder eine eigene Gattung.“ Die musikalische Begabung vieler Mitglieder der Familie Bach ist also nicht durch leibliche Vererbung erklärbar, wie dies in vielen Biologiebüchern versucht wird, sondern nur durch die Früchte des Lernens, die sich jedes einzelne Mitglied der Familie selbst erworben haben muss. „In einem Leben erscheint der menschliche Geist als die Wiederholung seiner selbst mit den Früchten seiner vorigen Erlebnisse in vorhergehenden Lebensläufen.“ Der Evolutionsgedanke, der für die leibliche Vererbung und deren allmähliche Veränderung und Entwicklung neuer leibgebundener Fähigkeiten gilt, wird hier also angewendet auf eine geistige Vererbung, die zur Evolution des Menschengeistes führt. Damit bekommt der Gedanke der Wiederverkörperung einen ganz neuen Sinn: den der Weiterentwicklung.
Der letzte Abschnitt des Kapitels greift nochmal ein Motiv aus dem ersten Abschnitt auf: Demnach hat sich nämlich die Seele in ihren Taten so mit der Um- und Mitwelt verbunden, dass sie sich dieser ein Stück weit eingeprägt hat, „dass, nach einer vollbrachten Tat, etwas in der Welt ist, dem sein Charakter durch das ‚Ich‘ aufgeprägt ist“. Scheinbar zufällige Schicksalsschläge, die mir im Laufe meines Lebens zustoßen, können rückblickend als Ereignisse meiner Biografie erkannt werden, die mich Stück für Stück zu dem gemacht haben, der ich jetzt bin. Insofern begegne ich im Schicksalserlebnis mir selbst. Nur sind diese Erlebnisse Wirkungen von Taten, die ich in einem früheren Erdenleben verrichtet haben muss.
Es geht also um eine Überkreuzung und Verwandlung: Seelische Erlebnisse müssen dem Geist so eingeprägt werden, dass sie mit dem Erdenleben nicht vergehen, sondern zu neuen Fähigkeiten werden. Umgekehrt veranlasst der mit neuen Fähigkeiten ausgestattete Menschengeist die Seele, Taten zu verrichten, in die sie selbst einfließt und damit ein selbstständiges weiteres Leben führt. Schicksalsereignisse sind also eine Begegnung der Seele mit den Wirkungen ihrer früheren Taten. Je mehr diese Schicksalserlebnisse ihre Früchte tragen und mir zur Karma-Erkenntnis werden, desto mehr Nahrung erhält das Geistselbst. Je reicher dieses Geistselbst wird, desto mehr trägt die Welt das Gepräge seines Wesens, desto weniger fremd ist ihm die Welt.
Beachte ich die Unterscheidung von Seele und Geist nicht deutlich genug, so kann ich in zweifacher Weise im Seelischen steckenbleiben: Wird die Begegnung mit einem anderen Menschen lediglich mit Sympathie oder Antipathie beantwortet, so führt dies auf seelischer Ebene zu Zusammenarbeit oder Abwendung, es entgeht mir dabei aber die Fruchtbildung, nämlich die Erkenntnis, wie und warum ich selbst diese Begegnung schicksalsmäßig herbeigeführt habe. Andererseits verrichte ich täglich Taten, deren Folgen ich nicht als von mir verursacht anerkennen möchte. Eine einmal eingegangene Zusammenarbeit mit einem Menschen wird abgebrochen, weil dieser mich verletzt hat. Ich kann mich nicht zu der Erkenntnis durchringen, dass ich selbst veranlasst habe, dieses antipathische Verhältnis zu bilden. Ich erlebe nur meine eigene seelische Reaktion und nicht die geistige Individualität des anderen Menschen.
Neben dieser Gefahr der Vermengung von Seelischem und Geistigem ist auch generell eine Abneigung vorhanden, R. Steiners Ausführungen in seiner Theosophie – dieses „Gedankenbild der höheren Welten“, wie er selbst dies im letzten Kapitel nennt – derart zu durchdenken, dass einem die Wahrheit von Wiederverkörperung und Schicksal aufleuchtet. Und doch betont R. Steiner im hier betrachteten Kapitel an fünf Stellen, dass dem vorurteilsfreien Denken nicht nur die Tatsache wiederholter Erdenleben klar werden kann, sondern dass diese Gedanken selbst der erste Schritt auf dem Erkenntnispfad sind, der zur eigenen Anschauung früherer Erdenleben führt. Es gibt also keinen wirklichen Gegensatz zwischen solchen Menschen, die über Karma-Erkenntnis nachdenken, und solchen, die wirkliche karmische Erlebnisse erstreben oder haben, sondern nur graduelle Unterschiede, wie weit ein jeder auf dem Erkenntnispfad der Anthroposophie schon gegangen ist.
Die Frage nach Karma-Erkenntnis ist also im eminentesten Sinne eine soziale Frage. Nur wenn ich meine Erkenntnisfrüchte in Tätigkeiten einfließen lasse, die meine Um- und Mitwelt menschlicher gestalten, wird sich die Menschheit positiv weiterentwickeln.
Iris Stocker (Biologin, Witten)