Das Menschliche auf Erden realisieren - Werkstattgespräche zur Frage der Anthroposophischen Gesellschaft heute
Zur Vorbereitung auf den Mitgliedertag am 15.2.2025 in Stuttgart

Bei der kommenden Generalversammlung vom 4. bis 6. April 2025 am Goetheanum soll eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden, die im Anschluss an einen längeren Prozess neue konstitutionelle Grundlagen für die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft erarbeiten soll. Die damit aufgeworfenen Fragen sollen möglichst breit innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft in den Austausch kommen und unter verschiedensten Gesichtspunkten erörtert werden. Dazu hatten Monika Elbert, Gerhard Schuster und Gerhard Stocker am 15. Februar zu einem Mitgliedertag in Stuttgart eingeladen. Es geht ihnen auch darum, mehr Verständnis für die soziale Formgebung unserer Gesellschaftsverhältnisse zu wecken und zu zeigen, welche Wichtigkeit diese Frage hat. Der vorliegende Beitrag ist eine Collage aus ihren vorbereitenden Gesprächen und will einen Einblick geben in das, was drei Menschen miteinander bewegt haben. Ein Blick in ihre „Werkstatt“ und eine Anregung, weitere solche Werkstätten zu eröffnen.
G. Schuster: Die sogenannte Konstitutionsfrage ist ja für viele ein leidiges Thema, aber wir sehen, wie es schon über Jahrzehnte bei einzelnen Mitgliedern und Mitgliedergruppen ein ernsthaftes Ringen darum gibt. Es geht darum, dass im Prozess der Konstitution, wie er durch Rudolf Steiner bei der Weihnachtstagung 1923/24 ergriffen und dann bis 1925 weitergeführt wurde, ein Problem auftrat, das nach dem Tod Rudolf Steiners – also jetzt vor 100 Jahren – nicht mehr korrigiert wurde. Warum aber ist die Klärung des Konstitutionsproblems überhaupt wichtig? Und dabei geht es nicht nur darum, ein Problem zu lösen und das zu heilen, was über 100 Jahre manche Wunde geschlagen hat, sondern auch darum, auf das Heute zu blicken. Was brauchen wir für die Gegenwart und für die Zukunft, um uns aus der Anthroposophie heraus kräftig in die Welt stellen zu können?
M. Elbert: Das ist meine eigentliche Frage: Welche anthroposophische Gesellschaft brauchen wir zukünftig? Die Forschung zum Konstitutionsproblem war sehr wichtig. Wir leben seit über 100 Jahren im falschen Leib. Das brauchte eine Aufarbeitung. Jetzt aber soll es immer mehr darum gehen: Wo geht es hin mit der anthroposophischen Gesellschaft? Rudolf Steiner hat mit dem Aufbau der Anthroposophischen Bewegung einen sozial-künstlerischen Schöpfungsakt vollzogen, und zwar als „Anfangskraft“. Dieser Anlauf ist Fragment geblieben, wie auch der zweite Bau und der Aufbau der Hochschule. Damit ist ein Gestaltungsauftrag an uns gerichtet, den es aus unseren Möglichkeiten heraus zu ergreifen gilt.
G. Stocker: Das Thema ist für viele nicht leicht zugänglich. Was ist der Ansatzpunkt, von dem aus man verständlich machen kann: „Hört mal, das geht eigentlich jeden etwas an.“ Im Grunde geht es darum, aus einer Gesellschaft, die unter dem Diktat des Vereinsrechtlichen steht, wirklich zu einer individualisierenden zukunftsfähigen Gesellschaftsform zu kommen, wo das Individuum eine ganz andere Rolle spielen kann als bisher. Was ist eigentlich der zündende Funke dafür, dass diese Fragen die Menschen wirklich ansprechen? Und nicht so daherkommen wie das Klischee der alten Konstitutionsdebatte. Das ist wie ein Nebel, der die Sicht auf das Notwendige verdeckt. Jeder meint zu wissen, wie es richtig ist. Dann gibt es zehn Standpunkte, die miteinander kämpfen. Davon haben die Leute genug und sie wenden sich ab. Wie bekommt man das Interesse für das Neue geweckt?
M. Elbert: Daran will ich gerne anknüpfen: Das Neue kommt aus dem Neuen, wir müssen die Aufgabenstellungen von vorne her greifen. Also mehr weg von der alten „Debatte“ hin zu Begriffen, die uns in die Gestaltung bringen. Das stellt uns nach 100 Jahren Geschichte in einen Entwicklungsauftrag der Sozialgestalt der Anthroposophischen Gesellschaft und damit vor mehrere Herausforderungen: Wie schaffen wir es, die Statuten, die mit der Weihnachtstagung gegeben wurden und wie ein Goldgrund der Gesellschaft dastehen, in ihrem Urbild und ihrer Tiefe zu verstehen, zu schützen, aber auch neu zu greifen? Die Gesellschaft muss ihrem Wesen und Leben nach etwas anderes sein als ein Verein, selbst wenn wir auf der rechtlichen Grundlage eines Vereins stehen. Das ist eigentlich schon seit 100 Jahren das Gebot. Wir haben den Auftrag, die Anthroposophische Gesellschaft als freie Vereinigung im öffentlichen Raum zu verorten, die sich als gesamtgesellschaftsbildende Kraft aus der Anthroposophie versteht. Demgegenüber können wir uns dann aber nicht nach innen aus dem Vereinsgesetz bedienen, wenn Unzufriedenheiten entstehen oder Einzelinteressen sich bilden, um dann mit den Anträgen etwas durchzusetzen. Damit verlieren wir als Mitgliedschaft unsere Glaubwürdigkeit und schotten uns hermetisch ab.
G. Schuster: Es liegt gerade an dem Konstitutionsproblem, dass wir einander in unsere Initiativen hineinregieren können, vor allem da, wo auch jene frei sein müssen, die in der Verantwortung für eine Funktion stehen. Wir verstehen uns als Mitgliedschaft dort demokratisch verantwortlich, wo wir es gar nicht sein können, und „vergessen“ in unseren eigenen Initiativen, frei die Verantwortung zu ergreifen. Du hast von dem Klischee der Konstitutionsdebatte gesprochen, Gerhard, also von der herrschenden Vorstellung dazu. Da wird vielleicht nur die Oberfläche wahrgenommen von etwas, was einem vielleicht nicht ganz sympathisch ist oder einem auch einfach nur nicht naheliegt.
Die Frage ist für mich, wie können wir die Herzen erreichen, dass sich die Mitglieder mit Interesse und Wohlwollen der Neugestaltung zuwenden und Vertrauen fassen in den Prozess. Da werden wir dann die Frage zu stellen haben: „Was ist überhaupt gesellschaftliche Konstitution?“ Es herrscht wenig Bewusstsein dafür, dass durch eine falsche Sozialleiblichkeit das Leben behindert, abgelenkt und auf falsche Felder gezogen wird, dass die Kräfte auseinanderstreben, wenn wir im falschen Leib stecken. Rudolf Steiner betonte, als er von der Notwenigkeit einer „einheitlichen Konstituierung“ der verschiedenen Elemente sprach – also neben der Anthroposophischen Gesellschaft und der Hochschule auch den sog. Bauverein und damals die Klinik und den Verlag einbeziehend –, dass „in der Zukunft vermieden werden [soll], daß die Dinge bei uns auseinanderstreben“ (GA 260a S. 501). Hier geht es um soziale Gestaltung im Konstitutionellen, in der Struktur, und dabei gilt es, Gesetzmäßigkeiten zu beachten. Es liegen 100 Jahre hinter uns, in denen wir das nicht beachtet haben. Es liegt aber auch eine Zukunft vor uns, in der wir für unsere Aufgaben gesunde konstitutionelle Grundlagen als Anthroposophische Gesellschaft brauchen, als Gesellschaft mit der Freien Hochschule in ihrer Mitte.
Monika, du hast von der Anthroposophischen Gesellschaft als freier Vereinigung gesprochen, die wir als gesamtgesellschaftsbildende Kraft aus der Anthroposophie verstehen können. Also die Aufgabe, einen Gesellschaftsraum oder „Wir-Raum“ zu schaffen, als freie Vereinigung, in der wir in unserer individuellen Kraft gefordert sind. Es wird darum gehen, uns zu gemeinsamen Aufgaben zu verbinden, Gemeinsamkeit in Freiheit aufzubauen, um damit eine positive Kraft sein zu können im Weltgeschehen, um dort aus der Anthroposophie heraus mitzuwirken, wo die Menschheit sich ihre Zukunft erringt.
M. Elbert: Ja genau, und die umfassende Frage, die uns ziehen sollte, ist meines Erachtens: Wie können wir das Menschliche auf Erden mehr noch realisieren und damit die Erde als Gesamtorganismus lebendig erhalten? Räume für Zusammenarbeit ermöglichen, Initiativen fördern und eine Anthroposophische Gesellschaft bilden, die immer mehr von einem gemeinsamen Willenszug durchströmt ist? Dazu bedarf es eines wandlungsfähigen sozialen Zusammenhangs als ein Ort des Wirkens aus der Anthroposophie für eine menschliche Welt.
G. Stocker: Was suchen wir da eigentlich? Was ist dieser „Wir-Raum“, von dem du sprichst, Gerhard? Das könnte ja verwechselt werden mit Reminiszenzen aus früheren Zeiten: Wir schweißen uns zusammen wie zu einem Orden, der sich seine Ordensregeln gibt, denen sich jeder zu unterstellen hat. In unserem Fall eben als „moderner Orden“, der nach vereinsrechtlichen Mustern funktioniert. Da gibt es zwar die Hochschule und es gibt vielleicht auch verschiedene Einzelinitiativen, aber im Grunde genommen ist das bestimmende konstitutive Element das Vereinsrecht.
Das Buch von Uwe Werner und Bodo von Plato „Thesen zur Weihnachtstagung 1923/24“ beginnt ja damit, Steiners Demokratiebegriff mit dem Christusverständnis in Verbindung zu bringen. Es geht um ein Allgemein-Menschliches, das im Zusammenhang steht mit dem geistigen Wesen des Christus, also nicht mit dem konfessionell verstandenen Christus. Das demokratische, allgemein-menschliche Prinzip sollte bis auf die Wirksamkeit des Christus zurückgeführt werden können. Ich habe diesbezüglich aber auch ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits bin ich überzeugt, dass es sich so verhält, andererseits befällt mich ein gewisses Zögern, wenn man so unvermittelt von Christus spricht. Aber es gibt bei vielen ein unverkennbares Bedürfnis danach. Die Kurzschlüssigkeit ist dabei das Problem. Obwohl ziemlich schwierig zu handhaben, ist gerade das für mich das Zentrum der Konstitutionsfrage. In den zurückliegenden Debatten war es nicht so erkennbar. Da stritt man eher soziologisch, philosophisch, juristisch miteinander, weniger aus dem Esoterischen heraus.
G. Schuster: Rudolf Steiner formulierte bei der Weihnachtstagung, dass es darum geht, „aus der Kraft der Anthroposophie [...] die denkbar größte Öffentlichkeit zu verbinden mit wahrster, innerlichster Esoterik“. Und er fügt hinzu, dass uns „die Esoterik [...] in der Zukunft auch bei den äußerlichsten Handlungen nicht fehlen“ darf (s. GA 260, S. 93). Einer Gesellschaft die rechte Form zu geben, ist auch eine äußerliche Handlung. Und da ist für mich die Frage nach der sozialen Gestalt natürlich eine nach dem Christus. Christus brachte nicht einfach das Heil auf die Erde, sondern er eröffnet eine Entwicklung, wenn wir – wie es heißt – in seinem Namen zusammenkommen. Auch eine wesensgemäße soziale Form bringt von sich aus kein Heil, aber ein gesunder sozialer Organismus räumt sozusagen das Verhindernde weg. Das Heilsame kommt dann aus den seelischen Kräften der Menschen.
G. Stocker: Man könnte sagen, wir sind mit der Anthroposophischen Gesellschaft eine Unternehmung, die das Gesellschaftliche mit der geistigen Bewegung zusammenbringen möchte: Anthroposophie tun, Anthroposophie in allem verwirklichen, was in dieser Gesellschaft passiert. Aber nicht nach einem alten Ordens- oder Sektenprinzip, sondern als freie Geister, als Menschen, die sich aus Freiheit heraus miteinander verbinden. Also, warum kommen wir zusammen? Nicht, um eine Art Parteitag abzuhalten, wo wir uns etwa einschwören auf ein Abstimmungsverhalten, sondern weil wir eigentlich um unsere Selbstsicht streiten und weil wir die Sicht auf uns selbst suchen. Das wäre ein neuer „Wir-Raum“.
M. Elbert: Was bei mir aus den Thesen von Uwe Werner und Bodo von Plato stark weitergelebt hat, war die Frage nach dem freien Wollen, das wir uns auch gegenseitig schenken können. Das ist auch der Wortlaut aus dem Grundsteinspruch: „Wo die ew’gen Götterziele Welten-Wesens-Licht dem eignen Ich zu freiem Wollen schenken“. Das ist auch ein Auftrag an die Mitgliedschaft, einen Raum zu kreieren, der das im Sozialen ermöglicht. Das wäre das Ideal, das im Umkehrschluss heißt, dass wir uns nicht irgendwie vereinsmäßig verhalten können, mit Abstimmungen und Ausgrenzungen oder Bestärkungen und Mehrheitsbildungen, sondern es ist eine freie Vereinigung, wo das Wollen sich frei bildet und getragen wird.
Wie kommen wir dahin, eine freie Vereinigung von Menschen zu sein, die in der Anthroposophie verbunden sind und ihre je eigenen Initiativen oder auch Forschungsfragen haben? In der manche vielleicht auch nur die Dinge mittragen. Dann aber muss man auch nicht kritisieren, was andere falsch machen. Dass die Menschen, die Anthroposophie tun, wirklich aus dieser Kraft des freien Wollens miteinander in der Welt wirken, wäre für mich das Ziel, von dem ich Begeisterung spüre, um mich in der Gesellschaft zu engagieren.
Anthroposophie ist von Steiner nicht in die Welt gebracht worden, damit viele einzelne Menschen für sich eine Sonderwelt schaffen, in der sie den Schulungsweg gehen, um bessere Menschen zu werden, und mit ein paar Gleichgesinnten im Austausch sind und damit gewissermaßen an der eigenen Veredelung arbeiten in einem kleinen, überschaubaren Raum. Anthroposophie ist eine Aufgabe in der Welt. Du betonst das auch immer, Gerhard, dass ein gemeinsames Wollen entstehen können soll für Aufgaben, die sich die Gesellschaft selbst gibt. Wir haben eine wirkliche Aufgabe und die Frage ist auch: Sind wir dieser Aufgabe gewachsen? Auch das ist eine Sicht auf die Lage, die ich wichtig finde. Nicht dass wir uns überfordern sollen, sondern dass wir uns von dem größeren Ziel her immer wieder in die Befragung bringen.
G. Schuster: Rudolf Steiner betont diese größeren Ziele und Aufgaben an vielen Stellen im Zusammenhang mit dem Gründungsgeschehen. Etwa wenn er davon spricht, dass die Anthroposophische Gesellschaft „eine Erfüllung desjenigen [sein will], was die Zeichen der Zeit mit leuchtenden Lettern zu den Herzen der Menschen sprechen“ (GA 260, S. 36). Das war für mich immer der Leitstern.
Im Nachrichtenblatt Nr. 1 direkt nach der Weihnachtstagung bringt er die Frage nach den anthroposophischen Aufgaben auch noch anders in Verbindung mit der Gesellschaftsfrage. Er beginnt mit dem Satz: „Der Anthroposophischen Gesellschaft eine Form zu geben, wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht, das war mit der eben beendeten Weihnachtstagung am Goetheanum beabsichtigt.“ Und dann spricht er davon, wie die Anthroposophie als die Wurzel in alle Bereiche des Lebens und Tuns ihre Blätter, Blüten und Früchte treibt, und endet mit dem Gedanken: „Durch all das erzeugt die Anthroposophie eine Fülle von Lebensaufgaben. In die weiteren Kreise des Menschenlebens können diese Aufgaben nur gelangen, wenn sie von der Pflege in einer Gesellschaft ihren Ausgangspunkt nehmen“ (GA 260a S. 27 f). – Es braucht also eine Gesellschaft, damit die Anthroposophie kräftig in der Welt stehen und größere Kreise ziehen kann. Dazu braucht es eine wesensgemäß konstituierte Gesellschaft mit einem tieferen Verständnis ihrer Statuten.
M. Elbert: Das ist der Punkt, der immer wieder deutlich werden darf.
G. Stocker: Ich denke, so kommen wir in einen neuen Umgang mit dem Thema, auf eine neu gegriffene Relevanz, die es zu beherzigen gilt. Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass das ein teils schon vergifteter Raum ist, besetzt mit Gespenstern, Phantomen und fixen Vorstellungen. Wir brauchen Zugänge, die persönlich gedeckt sind, und wo wir Steiner zitieren, gilt es, ihn individuell zu übersetzen und zu begreifen. Vielleicht ist das uns hier ein wenig gelungen, sodass wir uns gut mit unserem Gespräch in die jetzt neu zu ergreifende Gesellschaft hineinstellen können, um zu zeigen, inwiefern uns diese Fragestellung eine zentrale Herzensangelegenheit ist. Das zeigen wir auf unterschiedliche Weise und wollen auch von den anderen hören, was sie denken, was sie in ihrem Herzen bewegen.
M. Elbert und G. Schuster: Genau!
Januar 2025