Rudolf Steiner – eine Würdigung zum 100. Todestag
Wie ist es möglich, eine Persönlichkeit zu würdigen, von der sich seit 100 Jahren unzählige Menschen in einer bestimmten biografischen Situation auf ihre jeweils eigene Art zutiefst angesprochen erlebten, ohne diesem Menschen je irdisch begegnet zu sein? Ein solch intimes Berührtsein ist von der Qualität her immer ein Anfang für die Entstehung von etwas Neuem.

Es stiftet das Erwachen für die Frage nach dem Menschen, ja des Menschenseins selbst in ganz eigener und zugleich wesenhafter Art. Unwiderruflich ist damit die Selbstverantwortung angesprochen. Es beginnt etwas, das man wohl kaum noch ignorieren kann, hat es einmal innerseelisch gezündet. Denn es ist zugleich die Entdeckung des eigenen Quells der Lebens- kraft. In solitärer Weise stellte Rudolf Steiner die Frage nach dem Menschsein explizit und begründete damit die Anthroposophie. Mit ihr wird deutlich, dass die Frage nach dem Menschen nur zukunftsweisend entfaltet werden kann, wenn sie um die geistige Perspektive erweitert wird. Dazu sind Zugänge des denkenden Erkennens möglich und nötig, die sich jeder methodisch erarbeiten kann.
Ein lebendig freies Denken ist an das Herzorgan gebunden.
Es ist ein Schöpferisches, das aus sich heraus Zusammenhänge erkennt,
Zukünftiges erfasst und Quelle aller Kreativität ist.
Rudolf Steiner
In konsequent durchgetragener Weise liegt in der Anthroposophie als „Bewusstsein vom Menschentum“ die Ursache in der Zukunft. Die Erdentwicklung und Bewusstseinsgeschichte der Menschheit zu verstehen ist unerlässlich, auf ihr baut alles Weitere auf, jedoch nicht im Sinne einer Weiterentwicklung aus dem Erinnerten und Vergangenen. Zwar ist es wichtig, die Herkunft zu kennen, die Zukunftsgestaltung jedoch findet ihre Kraft aus dem Ziel künftigen Menschenseins. Es gilt, an einer menschlichen Welt des Miteinanders zu arbeiten im Sinne von Brüderlichkeit, Religionsfreiheit, Einsicht in die geistige Natur der Welt und der damit verbundenen Verantwortung für das Leben der Erde. Erkenntnis wird gewonnen und geschaffen aus dem Bemühen um den Gesamtzusammenhang der Menschen und der Welt, in der alle Teile repräsentiert sind und sich umgekehrt in jedem Teil das Ganze abbildet.
Mittelpunkt der Anthroposophie ist eine überkonfessionelle Christologie, die Menschwerdung oder anders gesagt eine Spiritualisierung des Denkens. Richtungsweisend ist die Ausbildung der eigenen Individualität aus einer Verantwortlichkeit für den Gesamtzusammenhang der Menschheit. So war das Urmenschliche die Ursache für die Erdentwicklung und sie ist zugleich das Ziel, welches von je her mit dem Begriff ‚Logos‘ beschrieben wurde. Durch Rudolf Steiner wurde mit der Anthroposophie ein Entwicklungsweg an- gelegt, den es selbstverantwortlich zu gehen gilt. Heute, nach 100 Jahren, stehen wir deutlich vor der Anforderung, die Anthroposophie selbstwirksam weiterzutragen. Wie kann ich aus mir selbst, aus meiner mir möglichen seelisch-geistigen Wirklichkeit sozialwirksam weltverändernd mitwirken? Jeder an seinem Ort. Zwar ist dieser Weg von der Begegnung mit Rudolf Steiner initiiert, zu beschreiten habe ich ihn jedoch selbst. Für dieses Augenöffnen für eine gestaltbare Zukunft kann man gegen- über Rudolf Steiner eine tiefe Dankbarkeit empfinden.
Rudolf Steiner selbst hat die Anthroposophie nach 21 Jahren Vortragstätigkeit und ausgeprägtem künstlerischen Wirken auf eine neue Ebene gehoben. In seinem letzten Lebensabschnitt stieß er mit der Begründung verschiedenster Praxis- und Lebensfelder eine kultur- wirksame Transformationsbewegung an. Die
Anthroposophische Gesellschaft selbst begründete er als ein Gefäß für die anthroposophische Gesamtbewegung in der ganzen Welt. Vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte in reichhaltigster Weise vieles zum Erblühen kommen. Kaum ein Zukunftsgestalter hat so viele Impulse für Neues gegeben, wofür die anthroposophische Bewegung heute in vielen Lebensgebieten Ausdruck ist.
Um nur einen Punkt hier beispielsweise her- auszugreifen: Durch die Initiierung der bio- logisch-dynamischen Landwirtschaft 1924 ist eine Bewegung gewachsen, die sich die Aufgabe stellt, an der Gesundung der Erde zu arbeiten und dabei gesunde Nahrungsmittel zu erzeugen. Gesundheit von Erde und Mensch bedingen sich gegenseitig und setzen voraus, dass der Boden und die Tiere in einem gesunden Klima miteinander leben können. Durch die bio-dynamische Bewegung sind unzählige Oasen für Artenvielfalt über die Jahrzehnte geschaffen und erhalten worden. Es gibt Landwirtschaftsflächen, auf denen noch nie Pflan zengifte und künstliche Düngung eingesetzt wurden, womit ganz besondere Lebensräume erhalten worden sind. Ich möchte diese Orte als Perlen der Zivilisation beschreiben, und dies wäre auf andere Gebiete leicht auszuweiten.
Im Zentrum des Schaffens Rudolf Steiners aber steht die Begründung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum. Der Goldgrund dieser Freien Hochschule ist, dass sie weltweit getragen wird aus freiem Willen von Menschen, die in der Anthroposophie et- was Berechtigtes sehen und sich dafür mit der Anthroposophischen Gesellschaft verbinden. Weder staatliche noch wirtschaftliche Fremdinteressen haben hier einen Einflussbereich auf Forschung, Lehre und Begegnungskultur. Die Freie Hochschule dient einzig der menschlichen Entwicklung, der Selbsterkenntnis und dem Zugang der Menschen zur geistigen Welt. Viel wird davon abhängen, ob sie – auch nach 100 Jahren noch im Aufbau befindlich – in ihrer Bedeutung und Potentialität hoffentlich noch von sehr viel mehr Menschen erkannt wird und damit aus dem freien Wollen noch weiter und stärker in Kraft gesetzt werden kann. Möglicherweise liegt in dem verstärkten Wachwerden für diese Aufgabe auch eine Relevanz für die Individualität Rudolf Steiners selbst.
Zusammenfassend kann man sagen, das Lebenswerk Rudolf Steiners war ein sozial-künstlerischer Schöpfungsakt aus einem großen geistigen Wurf. Im Namen unzähliger Menschen erlaube ich mir, Rudolf Steiner einen tiefen Dank auszusprechen für diese weitreichend angelegte Wegspur hin zur Menschwerdung. Letztlich steht die Zuversicht, dass wir auf dem Weg der Individualisierung zu sinnhafter Einsicht und Weitsicht kommen werden, um aus der inneren Verbundenheit mit dem Werk Rudolf Steiners wirksam zusammenzuarbeiten und damit der Anthroposophie im Sinne einer neuen Zeit eine angemessene Zukunft geben zu können.
Monika Elbert, Mitglied des Arbeitskollegiums und Generalsekretärin der Landesgesellschaft