ALTE UND NEUE MYSTERIEN
Was sind Mysterien? Mysterien begegnen uns in der heutigen Kultur allenfalls noch in Form des Adjektivs «mysteriös», was rätselhaft und unverständlich bedeutet. Dass aber unsere gesamte Kultur auf ihrem Boden gewachsen ist, auch wenn davon außer Ruinen, Kunstwerken und einigen schriftlichen Überlieferungen kaum noch etwas übrigblieb, liegt nahezu im Verborgenen. Es ist selbst ein Geheimnis, wie das aus dem Griechischen stammende Wort «Mysterium» besagt, das ursprünglich für kultische Feiern, deren Zentrum ein geheim bleibender Kern bildete, verwendet wurde. Wie gegensätzlich zu unserer durch Rationalität und Technik bestimmten Gegenwartskultur steht allerdings dazu das große, stetig wachsende Interesse an Ausstellungen von Kunstwerken und Kultobjekten altorientalischer und antiker Kulturen sowie ozeanischer, afrikanischer und polynesischer Urkulturen und auch das Interesse, an Orte mit Zeugnissen alter Kulturen in aller Welt zu reisen. So gibt es jenseits des Rationalen eine unerklärliche Sehnsucht nach diesen verborgenen Ursprüngen der Menschheit – was man als die unbewusste Innenseite der Rationalität empfinden könnte
In der Renaissance, was übersetzt «Wiedergeburt, Wiedererwachen» heißt, gab es bereits den ersten Impuls einer Rückbesinnung auf den Stil und die Werte der griechischen Antike mit ihrer Kultur, Kunst und Philosophie. In der Zeit des deutschen Idealismus kann man eine zweite Welle dieser inneren Sehnsucht nach den Ursprüngen bei Winckelmann, Schelling, Hegel, Goethe, Schiller, Herder und Hölderlin beobachten. Sie umfasste damals aber nicht nur die Antike, sondern betraf auch früher liegende Kulturen wie die indische, babylonisch-chaldäische und vor allem die ägyptische sowie die arabische und chinesische. Diese Kulturen, Mythen und Überlieferungen wurden damals neu entdeckt und intensiv erforscht. Sie waren der Inspirationsquell für Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Davon zeugen die Architektur, die Kunstwerke und literarischen Werke. So schrieb beispielsweise Friedrich Joseph Schelling seine bis heute wegweisende Studie über Die Gottheiten von Samothrake, in der er damals schon 127 Quellen über Samothrake benannte. Heute kennt man 133, also nur wenige mehr. Und Goethe ließ in seinem Faust ganze Akte, wie die «Klassische Walpurgisnacht» und den Helena-Akt, in Griechenland spielen, um bestimmte innere Erlebnisse zu erzielen, die den Zusammenhang mit der göttlich elementarischen Welt eindrücklich zeigen. Mit der Rückbesinnung auf die Kunst und Kulturerzeugnisse früherer Zeiten findet auch eine Berührung mit anderen Bewusstseinsformen und Beziehungsverhältnissen zur geistigen Welt und ihren Göttern statt.
Zum Thema Mysterien ist in den letzten 130 Jahren in der Kultur- und Religionsgeschichte, Archäologie sowie in den Altertumswissenschaften und der Mythologie von Forschern wie Robert von Ranke-Graves, Karl Kerényi, Rudolf Otto, Jan Assmann und Erik Hornung, um nur einige Namen zu nennen, noch viel Neues entdeckt und erforscht worden.
Auf der geistigen Forschung Rudolf Steiners basierend haben anthroposophische Autoren wie Hans Gsänger, Ernst Uehli, Andrew Welburn, Frank Teichmann, Roland Halfen u. a. diese Erkenntnisse weiter vertieft und erweitert, so dass uns die einzelnen Mysterien heute viel detaillierter zugänglich sind, als das noch zu Rudolf Steiners Zeiten der Fall war. Drei Autoren möchte ich hier stellvertretend hervorheben: Da ist zum einen Frank Teichmann zu nennen, der in seinen Büchern Der Mensch und sein Tempel (Megalithkultur, Ägypten, Griechenland, Chartres) die Mysterienstätten ausführlich, auch anhand der neuesten Forschungen, dargestellt und die mehr esoterische Seite einzelner Mysterienorte in den beiden Büchern Die ägyptischen und die griechischen Mysterien untersucht hat. Hervorzuheben ist das für unser Thema zentrale Werk: Die Entstehung der anthroposophischen Gesellschaft auf mysteriengeschichtlichem Hintergrund.
Hinsichtlich der Kathedrale von Chartres hat Roland Halfen ein vierbändiges Werk von einzigartigem Rang vorgelegt, das sowohl die Skulptur, Architektur, Glaskunst und die Schule von Chartres umfasst. Ein Blick auf Rudolf Steiner als Begründer neuer Mysterien aus einer mehr biographischen Perspektive unternimmt Sergej Prokofieff mit seinen beiden umfassenden Studien Rudolf Steiner und die Grundlegung der neuen Mysterien sowie Menschen mögen es hören!
Aufgabe und Wirkensweise der alten Mysterien
Die Mysterien wurden vorwiegend in Tempeln oder Kultstätten, an geweihten Orten, die oft an besonderen geographischen Stellen lagen, gepflegt. Meist durch eindrückliche Bauwerke gestaltet, die von weither sichtbar waren, hatten sie die Funktion, einen Austausch zwischen eingeweihten Priestern und den Göttern zu ermöglichen. Die Tempel wurden als Wohnungen der Götter errichtet, in die diese eingeladen wurden, auf Eden zu erscheinen. Eingeweihte und Priester empfingen von den Göttern Inspirationen, aus denen die jeweilige Kultur geleitet und gestaltet wurde.
Die Mysterienorte waren vom Leben des Alltags getrennt und die Lehren streng geheim. Auf den Verrat der Mysteriengeheimnisse stand die Todesstrafe, so dass von den Kulten selbst aufgrund des Schweigegebotes bis heute kaum etwas überliefert ist. Mit den Kultorten bzw. Mysterien waren Schulungsstätten verbunden, in denen Menschen lebten, die von Eingeweihten und Priestern auserwählt worden waren und von diesen ausgebildet und zur Einweihung vorbereitet wurden. Die Einweihung folgte göttlich gegebenen Gesetzmäßigkeiten. Sowohl die Vorbereitung wie auch die Einweihung selbst war durch eine strenge Erziehung mit verschiedenen Stufen und zu leistenden Prüfungen gekennzeichnet. Der Myste oder Neophyt musste seine Familie verlassen und sein persönliches Leben aufgeben. Er musste sich zudem von allem Persönlichen reinigen, um sich ganz in den Dienst des Tempels und damit der Gottheit zu stellen. Die Einweihung beinhaltete, dass der Schüler an einen besonderen Ort gebracht wurde, an dem er durch seine äußeren Sinne nichts mehr wahrnehmen konnte. Dort wurde er in eine Art dreitägigen Tempel-Schlaf versetzt. Nach diesem todesähnlichen Zustand wurde er in seinen Körper zurückgerufen und sollte dann fähig sein, das, was er aus höheren Welten empfangen hatte, zu erinnern und das Empfangene zu verkündigen.
Mit dem Mysterium von Golgatha verlieren die Mysterien ihre Wirksamkeit, befruchten aber noch durch viele Jahrhunderte weiterhin die verschiedenen Kulturen.
Alte und neue Mysterien
Rudolf Steiner unterscheidet anhand der unterschiedlichen Verhältnisse, die die Menschen zur göttlich-geistigen Welt und zu den Göttern seit den Urzeiten einnahmen, vier Formen von Mysterien. Die ersten sind die alten oder altorientalischen Mysterien, deren Entstehung noch vor den Veden im indischen Kulturraum lag: «In den altorientalischen Mysterien erschienen die Götter selber unter den Priestern, die da opferten und die Gebete verrichteten. – Die Mysterientempel waren zu gleicher Zeit die irdischen Stätten der Götter, wo die Götter eben das den Menschen schenkten durch die Priesterweisen, was sie ihnen an Himmelsgütern zu schenken hatten.»[1] Dies änderte sich bereits am Ende der ägyptischen Zeit. Die in letzten Spuren altorientalischen Mysterien sind noch bis in die Frühzeit von Ephesos zu finden. Dann folgen die «halbalten» Mysterien, die bis etwa 356 nach Christus reichten. Schon in Griechenland fand kein unmittelbarer Kontakt mehr mit den Göttern statt, sondern die Lehren wurden durch Kultbilder, gleichsam in abgeschwächter Form als Abbilder in Form von Statuen, die die vormals lebendigen Götter versinnbildlichten und deren Lehren dann durch die Priesterschaft interpretiert wurden, übermittelt. Von diesem großen Umschwung und den daraus hervorgehenden Wirkungen handeln die Vorträge der Vortragsreihen Mysteriengestaltungen[2] und Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung[3], die Rudolf Steiner anlässlich der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft hierzu im November und Dezember 1924 hielt. In der vorliegenden Ausgabe des Stils finden sich durch diese Vorträge angeregte Darstellungen über die Mysterienstätten von Ephesos, Eleusis, Hybernia sowie über das Rosenkreuzertum.
Das Mysterium von Golgatha liegt als ein Mittelpunkt zwischen dem Ende der altorientalischen Mysterien und dem Ende des Mysterienwesens überhaupt. Es läutet als ein öffentlich sichtbarer Einweihungsvorgang[4] bereits eine neue Epoche ein, in der das Mysterium des Ich immer mehr in den Mittelpunkt gelangen wird. Auf sie folgte als dritte Epoche eine Zeit, in der das Mysterienwesen nahezu von der Erde verschwand. Für die vierte Epoche, die mit dem 20. Jahrhundert beginnt, schildert Rudolf Steiner die Notwendigkeit und Aufgabe zur Begründung neuer Mysterien.
Rudolf Steiner und die Begründung neuer Mysterien
Um der Frage nach der Begründung neuer Mysterien skizzenhaft nachzugehen, müssen wir uns die geistige Situation am Ende des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Rudolf Steiner schreibt dazu: «Auf geistigem Gebiete wollte in die Erkenntniserrungenschaften des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts ein neues Licht in das Werden der Menschheit hereinbrechen. Aber der geistige Schlaf, in den die materialistische Ausdeutung dieser Errungenschaften die Menschheit versetzte, verhinderte, dieses auch nur zu ahnen, geschweige denn zu bemerken.»[5] Dies war die Ausgangslage, in der Rudolf Steiner im Berlin der Jahrhundertwende als Redakteur des Magazin für Literatur und als Vortragender in sehr verschiedenen Menschenkreisen tätig war.
Eine Vortragseinladung anlässlich des Todes von Friedrich Nietzsche brachte Rudolf Steiner, der es als eine innere Verpflichtung empfand, dieses «Licht» in die Welt zu bringen, mit der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft in Berührung. Dem folgte ein weiterer Vortrag über Goethes geheime Offenbarung in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie, in dem er, «ganz esoterisch»[6] werden konnte, da die Zuhörer ein offenes Ohr für Geistiges hatten. In Mein Lebensgang heißt es rückblickend: «Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen hindurchleuchten zu lassen.»[7] Auch bei den «Kommenden», einem Kreis von Dichtern, Architekten, Musikern, Journalisten und russischen Studenten, trug Rudolf Steiner über die Mysterien vor. Anschließend an den Goethevortrag folgte in der Theosophischen Bibliothek die Vortragsreihe über Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens[8] und ein Jahr später Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums[9]. In der ersten Vortragsreihe stellt Steiner die gegenwärtige Naturwissenschaft dem Verhältnis, das die Mystiker des ausgehenden 13.-17. Jahrhunderts zur Natur und dem Kosmos hatten, gegenüber und zeigt auf, wie das in der Mystik lebende innere Streben nach Geisterkenntnis in der recht verstandenen neueren naturwissenschaftlichen Forschung gefunden werden kann. Den roten Faden der zweiten Vortragsreihe über das Christentum bildet die Schilderung von Einweihungsvorgängen, die Rudolf Steiner sowohl in den Mysterien, in der Philosophie und in den Evangelien aufzeigt. Vor dem Hintergrund unserer Thematik ist es entscheidend, dass Rudolf Steiner sein Wirken im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft mit dem Thema Mysterien und Schulungsweg begonnen hat. Diese Themen und Intentionen wurden von ihm konsequent bis zur Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft 1923/24 verwirklicht.
1901 wurde Rudolf Steiner gebeten, Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft zu werden. Hier begann er, seine auf dem Deutschen Idealismus und eigenen geistigen Forschungen fußende Geisteswissenschaft durch Vorträge und Schriften als einen Weg innerer Schulung einem immer größer werdenden Kreis, auch in öffentlichen Zusammenhängen, vorzutragen und Schüler auf ihrem individuellen Weg zu begleiten. Die zentrale Schrift zum Schulungsweg Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten beginnt mit dem eindrücklichen Satz, der auch gegenüber der früheren Geheimhaltung der inneren Schulung in den alten Mysterien fundamental neu ist: «Es schlummern in jedem Menschen Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann […]».[10] Dieses Buch vermittelt, was man bei dem Titel möglicherweise nicht erwarten würde, eine Fülle von sehr praktischen inneren Übungen, angefangen mit der inneren Ruhe, der Rückschau, dem Werden und Vergehen usf., die den Menschen befähigen, für die Wahrnehmung der tieferen Schichten der Wirklichkeit zu erwachen und sich durch weitere Übungen bewusst und selbstständig in den seelisch- geistigen Schichten des Daseins erkennend und bald auch handelnd bewegen zu können. Die Schulung sollte dazu befähigen, eine spirituelle Umwandlung der Kultur auf den jeweiligen Lebensgebieten zu realisieren. So sind ab 1905 vielfältige Anregungen zu finden, durch Geisteswissenschaft die Medizin, Pädagogik und andere Fachgebiete zu befruchten. Inneres Ziel ist es dabei, zu Handhabungen und Lebensformen zu kommen, die aus dem Wesen des Menschen und der Natur abgelesen sind und nicht durch von außen herangetragene Interessen und materialistisch mechanische Vorstellungen geprägt werden.
Das erste Goetheanum – eine Stätte für die neuen Mysterien wird errichtet
Die Grundsteinlegung des ersten Goetheanum am 20. September 1913 machte das Umfassende dieser kulturverwandelnden Bestrebungen durch den Bau nun auch äußerlich sichtbar. Er sollte als «Haus des Wortes» der Aufführung der Mysteriendramen[11] dienen, aber auch einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Raum bieten. In einem Rundbrief von 1911 heißt es: «Die Hochschule für Geisteswissenschaft wird das entwicklungsfähige Wissen der Akademien dort aufnehmen, wo seine offiziellen Vertreter es heute im Materialismus erstarren lassen, und es hinaufführen zu dem Wissen vom Geiste und hineinleiten in jenen Tempel, in welchem seine Vereinigung mit Kunst, Wissenschaft und Religion das lebendige Mysterium ermöglicht.»[12] Das Zusammenwirken von Kunst, Wissenschaft und Religion war das Kenn-zeichen der alten Mysterien gewesen, sie sollten nun, entsprechend den Erkenntnisvoraussetzungen des 20. Jahrhunderts, erneuert werden.
Während der Grundsteinlegung des ersten Goetheanum stellte Rudolf Steiner den Bau in einen direkten Zusammenhang mit früheren Mysterienstätten. Die gegenwärtige Menschheit sei durch ihre Abkehr von der geistigen Welt und ein immer stärkeres Verstrickt-Werden in den Materialismus in eine prekäre innere Lage geraten. Ihr unbewusstes Sehnen und Hoffen auf den Geist solle durch den Bau und die in ihm zum Ausdruck kommende Geisteswissenschaft aufgegriffen und fruchtbar gemacht werden. Dieser Intention ist durch den Brand des ersten Goetheanum, das in der Sylvesternacht 1922/23 durch Brandstiftung zerstört wurde, ein gewaltiger Rückschlag versetzt worden, aus dem jedoch ein Jahr später durch die Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft und die Stiftung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine umso größere Aktivität erfolgte.
Umschwünge im Geistesleben – Ephesos und das Goetheanum
Am 29. Dezember 1923 entwarf Rudolf Steiner in einem Vortrag ein großes geschichtliches Panorama, das den Bogen vom Brand des Tempels von Ephesos bis zum Brand des ersten Goetheanum spannte. Bezeichnete der Brand des Tempels von Ephesos 365 v. Chr. das Ende der altorientalischen Mysterien und damit das Ende eines unmittelbaren Zusammenwirkens von Göttern und Menschen, so steht der Brand des ersten Goetheanum für den Aufgang eines neuen Mysterienwesens, das die Menschen wieder mit dem Wirken der Götter in eine Verbindung bringen möchte. Der Brand von Ephesos markierte einen Wendepunkt des griechischen Geisteslebens, in dem nun die griechische Philosophie ihren Anfang nahm und das denkende Erfassen dessen lehrte, was der Mensch in seiner Begegnung mit der Welt an Begriffen und Vorstellungen selbst ausbilden konnte. Die Orientierung auf den Menschen und sein unmittelbares Verhältnis zur Welt und zum anderen Menschen setzte sich in Rom mit der Entstehung des Rechtslebens fort, durch das die eigene, individuelle Persönlichkeit immer wichtiger wurde. Die Folge war eine zunehmende Abtrennung des Menschen von der göttlich-geistigen Welt. Geistiges wurde seither nur noch durch Überlieferung und Tradition vermittelt. Diese Loslösung von einem unmittelbaren Götterwirken brachte für den Menschen Freiheit und Selbstständigkeit mit sich, führte aber auch dazu, dass er sich ganz der Erde und dem Leben auf ihr zuwandte.
Dies führte zu einem zunehmenden Mangel an spiritueller Substanz und moralischen Werten, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer deutlicher hervortrat. Bis dahin hatten Überlieferung und Tradition noch eine gewisse Kraft gehabt, die Kultur und Zivilisation zu gestalten, was nun immer stärker zurückging und den Menschen ganz auf sich selbst stellte. Inzwischen hatten sich auch die Wissenschaft und die Technik so rasant entwickelt, dass der Mensch im Hinblick auf seine ethische Verantwortung und die soziale Gestaltung der Gesellschaft mehr und mehr ohne innere Werte und Orientierungen war oder sich allenfalls noch an alten Formen und Traditionen festhielt, die allerdings keine Zukunftskraft mehr hatten.
Mit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat, wie Rudolf Steiner in dem bereits erwähnten Vortrag vom 29. Dezember 1923 ausführte, «ein neuer Ruf aus geistigen Höhen an die Menschheit heran. Es begann jenes Zeitalter, das ich oftmals als Michael-Zeitalter charakterisiert habe […].»[13] Das Michel-Zeitalter,[14] das durch den Erzengel Michael als inspirierenden Zeitgeist geleitet wird und 1879 angefangen hat, ist durch eine besondere bewusstseinsgeschichtliche Situation gekennzeichnet. Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die vormals kosmische Intelligenz ganz in die freie Verfügbarkeit des Menschen übergegangen, so dass er diese Intelligenz zunehmend in die Entwicklung von Wissenschaft und Technik einbringen konnte. Das führte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in eine immer stärker werdende Abkehr von der geistigen Welt und zu einer nahezu ausschließlichen Orientierung an der materiellen Welt und ihren Gesetzen.
Ein andauerndes Verharren im Materialismus würde aber bedeuten, so schildert es Rudolf Steiner, immer mehr ins Untermenschliche abzugleiten und letztendlich seine Menschlichkeit zu verlieren. Denn es liegt in der Absicht der materiell inspirierten geistigen Wesen (Ahriman), den Menschen ganz von der geistigen Welt abzuziehen und ihn rein an das Materiell-Irdische zu binden. Um seine Menschenwürde zu erhalten, muss jedoch seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Sinn für die spirituellen Offenbarungen neu eröffnet werden. Michael ist diejenige geistige Wesenheit, die dem Menschen im Denken als eine orientierende Kraft entgegenkommt. In diesem Zusammenhang spielen die Rückbesinnung auf Bewusstseinsformen und die Beziehungen des Menschen zur göttlich-geistigen Welt in früheren Epochen der Menschheitsentwicklung eine wesentliche Rolle, denn der heutige Mensch hat, so Rudolf Steiner, selbst in diesen Epochen gelebt und hat an den Mysterien und ihrer kulturgestaltenden Tätigkeit teilgenommen oder ihre Wirkungen erfahren. Mit der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft sollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Ort geschaffen werden, an dem dieser Ruf nach einer geistigen Neuoffenbarung erhört und aufgenommen wird. Das Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt wird so durch Schulung und Ausbildung sowie in den einzelnen Fachsektionen neu gestaltet und kann damit die Kultur befruchten.
Das ist keine Wiederholung eines Alten, sondern eine konsequente Weiterführung. Rudolf Steiner skizziert den Unterschied der heutigen Einweihung und des im Michaelzeitalter so ganz anders gearteten Verhältnisses zur geistigen Welt am Beispiel des menschlichen Gedächtnisses, das für unsere Betrachtung sehr erhellend ist: «Sehen Sie, gerade so wie unser Gedächtnis, unser inneres Gedächtnis für die gewöhnlichen Dinge, die wir im Erdenleben erfahren, für uns bewahrend ist, so ist es das astralische Licht mit dem, was wir hineingeschrieben haben, was um uns herum sich ausbreitet, was eine beschriebene Tafel darstellt mit Bezug auf die Geheimnisse, die wir selbst hineingeschrieben haben.»[15] Jeder Gedanke, jede Tat des Menschen, wird in diesem astralischen Gedächtnis aufbewahrt und ist daher, auch wenn sich der Mensch dessen nicht bewusst ist, weiterhin erhalten. Rudolf Steiner fährt nun fort, dass sich daraus für den heutigen Menschen eine Aufgabe ergibt: «Es ist eine Art von Evolutionsgedächtnis, das da auftreten muss in der Menschheit. Und es muss allmählich ein Bewusstsein davon entstehen, dass ein solches Evolutionsgedächtnis da ist, das eigentlich heute die Menschheit in Bezug auf ihre früheren Kulturepochen im Astrallichte so lesen muss, wie wir im späteren Alter in unserer Jugend lesen durch unser gewöhnliches Gedächtnis.»[16] Und was liest der Mensch dort? Er liest das, was er in früheren Kulturepochen, in denen er gelebt hat, in das Astrallicht eingeschrieben hat. Das ist allerdings kein persönliches Erinnern, sondern eines, das das Leben in der kosmischen Vorzeit und des Zusammenlebens mit den Göttern erinnert. Die Notwendigkeit dieses Lesens begründet Rudolf Steiner noch einmal eindringlich: «Weil dies [das, was man im Astrallicht lesen kann] zum Bewusstsein der Menschen kommen soll, habe ich gerade die Vorträge, die ich während der Weihnachts-zeit hier gehalten habe, so gehalten, dass Sie daran sehen konnten: Es handelt sich wirklich darum, Geheimnisse, die wir heute brauchen, aus dem Astrallichte heraus zu holen.»[17] Damit war keine Hellsichtigkeit im alten Sinne gemeint. Was der Mensch heute aus seinen inneren Erlebnissen herausholen würde, wäre unrein und subjektiv und würde alles verfälschen. Die Bewusstseinsseele kann keine Offenbarungen aus sich herausholen, sie ist selbstständig und steht demjenigen gegenüber, was schon da ist. So braucht es heute einen höheren Bewusstseinszustand. Aufgabe ist daher, in die wissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen und sozialen Gebiete so einzutauchen und die Probleme denkend so zu durchdringen, dass man mit diesen konturierten Gedanken in die höhere Welt eintaucht, die Probleme sozusagen der höheren Welt darbringt. Da kann man dann das im Astrallicht Eingeschriebene lesen, und es kommt einem die geistige Realität entgegen.
Die folgenden Beiträge sollen als ein Versuch verstanden werden, sich durch ein lebendiges Geisterinnern in die Mysterien zu vertiefen und dadurch die eigenen Aufgaben, die jedem durch sein Schicksal zugeteilt sind, zu ergreifen und so an der Verwirklichung des anthroposophischen Kulturimpulses mitzuwirken. Das ist als ein Bemühen zu verstehen, das in aller Bescheidenheit unternommen werden soll. Jegliche Art von Sendungsbewusstsein oder elitären Empfindens wäre sachfremd und würde das Anliegen Rudolf Steiners entfremden und verfälschen. Denn nur durch die liebevolle Zuwendung und Zusammenarbeit mit der Welt und zu allen Menschen kann eine kulturverändernde Kraft entfaltet werden. In einem Vortrag nach dem Brand fasst Rudolf Steiner nochmals das Anliegen, neue Mysterien zu beginnen, zusammen, indem er das Goetheanum einen Anfang nennt, «in dem geschaffen wurde eine Mysterienstätte, in der in ähnlicher Weise der Mensch einen Weg ins Übersinnliche finden sollte auf moderne besonnene Art, wie er in alten Zeiten auf mehr instinktive Art einen Weg in den Mysterien gefunden hat.»[18] Die Mysterien und ihre Schulung ermöglichen dem heutigen Menschen, für seine Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen Klarheit zu gewinnen, sein Seelenleben zu harmonisieren und für seine Handlungen Sicherheit zu erlangen. Die neuen Mysterien entstehen aus den Notwendigkeiten der Zeit: «Derjenige, der es ehrlich meint mit der spirituellen Welt, der schaut hin auf einen Willen der Menschen, der ganz gewiß geboren werden wird, nach neuen Mysterien, denn Spiritualität wird unter die Menschen erst wieder kommen, wenn neue Mysterien entstehen werden, in denen die Menschen auf besonnenere, lichtvollere Art als in den alten Mysterien, den Geist finden werden, aber in denen sie auf eine entwickeltere, vollkommenere Art durch die Mysterien wiederum in die geistige, göttliche Welt und damit zum Quell der Menschheit geführt werden können.»[19]
Christiane Haid studierte Erziehungswissenschaften, Germanistik, Geschichte und Kunst in Freiburg und Hamburg. 2012 promovierte sie zu Mythos, Traum und Imagination. Die kleinen Mythen Albert Steffens. 2009 – 2019 war sie Leiterin des Verlags am Goetheanum, ab 2019 hat sie die Programmleitung inne, seit 2012 ist sie Leiterin der Sektion fü r Schöne Wissenschaften und seit 2020 Leiterin der Sektion für Bildende Künste.
[1] Rudolf Steiner: Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung, GA 233, Dornach 1991, S. 86.
[2] Rudolf Steiner: Mysteriengestaltungen, GA 232, Dornach 1998.
[3] Rudolf Steiner: Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung, GA 233, Dornach 1991.
[4] Siehe auch Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8, Dornach 1989.
[5] Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28, Dornach 2011, S. 381.
[6] Ebd., S. 392.
[7] Ebd., S. 393.
[8] Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, GA 7, Dornach 1987.
[9] Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8, Dornach 1995.
[10] Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Basel 2018, S. 11.
[11] Rudolf Steiner: Vier Mysteriendramen, GA 14, Dornach 1998.
[12] Rudolf Steiner: Zur Geschichte des JohannesbauVereins und des Goetheanum-Vereins, GA 252, Dornach 2019, S. 20.
[13] Rudolf Steiner: Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung, GA 233, Dornach 1991, S. 106.
[14] Vgl. dazu: Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze, GA 28, Dornach 1962
[15] Rudolf Steiner: Mysterienstätten des Mittelalters – Rosenkreuzertum und modernes Einweihungsprinzip, GA 233a, Basel 2013, S. 92.
[16] Ebd.
[17] bd^
[18] Rudolf Steiner: Was wollte das Goetheanum und was will die Anthroposophie? GA 84, Dornach 1986, S. 286 f.
[19] Ebd., S. 287.