Besser als das Gesetz …
«Besser als das Gesetz ist die freie Erfüllung.» Diese Worte setzte der Holzbildhauer Wilhelm Lehmann 1952 auf das Grabkreuz meines früh verstorbenen Bruders. Wilhelm Lehmann war Anarchist (selber bezeichnete er sich nicht so). Er lehnte Geld ab. Sein Haus war nicht an das Elektrizitätsnetz angeschlossen. Er war eine Art Einsiedler. «[…] mitten aus der Zwangsordnung heraus erheben sich die Menschen, die freien Geister, die sich selbst finden in dem Wust von Sitte, Gesetzeszwang, Religionsübung und so weiter.
Frei sind sie, insofern sie nur sich folgen, unfrei, insofern sie sich unterwerfen.»[1] Diese Worte aus «Die Philosophie der Freiheit» von Rudolf Steiner schienen mir Lehmann auf den Leib beziehungsweise auf die Seele geschnitten. Man kann sich begeistern für diese Philosophie. Und wie viele
andere habe auch ich mich Zeit meines Lebens dafür begeistert. Aber sie kann auch verführen. Die Verführung besteht darin, sich frei zu fühlen, während man übersieht, in welch immensem Maß das eigene Verhalten heute durch vorgegebenen Normen geprägt ist. Seit «Die Philosophie der Freiheit» geschrieben worden ist, hat die Zahl an Normen und Standards, die unser Leben einhegen, um Tausende und Abertausende zugenommen, sie vermehren sich ständig weiter und wir nehmen von ihnen kaum Notiz. Wenn der Arzt dem Patienten sagt: «Ich verschreibe Ihnen einen Blutdrucksenker», oder wenn der Lebensmittelinspektor feststellt «Die Temperatur in diesem Kühlgerät ist zu hoch», dann liegen diesen Urteilen statistisch abgesicherte Normen zugrunde. Es gibt ein gefestigtes Urteil im Allgemeinen in Bezug auf zu hohen Blutdruck oder
zu hohe Kühlgerättemperatur. Es sind vernünftige Urteile. Es handelt sich um diejenige Vernunft, die man über kurz oder lang gänzlich Computern delegieren kann. Denn sie funktioniert, ohne dass menschliche Intuition eine Rolle spielt, sie funktioniert aufgrund programmierter Richtgrößen. Nun handelt es sich hier allerdings nicht nur um eine Frage der Kompetenz von Experten, sondern, wie mit dem Eingangszitat angedeutet, um eine Frage gesellschaftlicher Konstitution. Wie spätestens Corona gelehrt hat, werden Richtlinien und Normen plötzlich zu rechtsverbindlichen Vorschriften, die tief in das Leben eingreifen. Man kann durchaus feststellen, dass immer mehr Normen mit Rechtscharakter in das soziale Leben eindringen. Und wie ebenfalls Corona gelehrt hat, sind die unzähligen angeordneten Verhaltensnormen keineswegs konsistent. Während damals zunächst dringend vor jeglicher Berührung gewarnt worden ist, Händeschütteln verpönt war und unzählige Hausbewohner mit dem Desinfektionsspray unterwegs waren und Türfallen und Treppengeländer desinfizierten, wurde etwas später eher zufällig bekannt, dass kaum sogenannte Schmierinfektionen bekannt geworden seien. Was ich bei der Beschreibung des Erkenntnisprozesses als Selektivität bezeichnet hatte[2], nenne ich auf der Ebene des Handelns Fragmentierung. Normen finden durchaus Anwendung – aber inkonsistent. Auf Beispiele dazu werde ich zurückkommen.
Nun ist die Notwendigkeit rechtlicher Regelungen da, wo Menschen im selben geografischen Raum zusammenleben und miteinander verkehren, nicht wegzudiskutieren. Insofern sie miteinander rein als Menschen (nicht als Beauftragte einer Körperschaft, auch nicht als Anbieter oder Kunden) miteinander in Kontakt kommen, haben sie Regeln des öffentlichen Rechts zu beachten. Die Welt der Rechtsnormen dringt tief in unseren Alltag ein, viel tiefer als uns in der Regel bewusst ist. Wenn Menschen sich zu einer bestimmten Uhrzeit treffen wollen, fragt keiner: Meinst du die Stuttgarter oder die Basler Zeit? Zeit ist heute weltweit normiert. Als Steiner «Die Philosophie der Freiheit» schrieb, musste ein Eisenbahnpassagier seine Uhr noch von Stadt zu Stadt umstellen. Erst 1893 wurde die Uhrzeit im Deutschen Reich vereinheitlicht.
Die Uhrzeit ist eine von Tausenden von Normen, denen wir ohne zu mucken nachleben. In ähnlicher Art wurden in nationalen und internationalen Gremien Normen geschaffen, die das öffentliche und das wirtschaftliche Leben regulieren und in alle Lebenssphären hineineinwirken. Neben den Industrienormen, die weltweite wirtschaftliche Zusammenarbeit überhaupt erst ermöglichen, spielen in unserem Alltag Sicherheits- und Schutznormen eine große Rolle. Es gehört zu den Aufgaben des Staats (und damit der Rechtsetzung), die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Niemand soll sich elektrisieren, wenn er den Stecker zieht. Im Verkehr muss er darauf zählen können, dass auf seiner Straßenseite kein Fahrzeug entgegenkommt. (Deshalb gilt von Gesetzes wegen Rechtsverkehr.) Der Schutz gegen Hochwasser kann nicht vom Einzelnen geleistet werden. Bauvorschriften sollen davor schützen. Und so weiter. Sehr viele Gremien, die Sicherheitsnormen ausarbeiten, sind privatrechtlich organisiert und mit Experten aus den entsprechenden Branchen besetzt. Privatrechtlich aufgestellt sind auch viele Kontrollorganisationen. Der jedem Autobesitzer bekannte TÜV wurde als Verein gegründet. Die frühesten Vorläufer des TÜV beschäftigten sich mit Normen für und Kontrolle von Dampfkesseln. In der Regel sind die von Fachexperten entwickelten Normen nicht umstritten.
Wir sind es gewohnt, die Entstehung von Recht als demokratischen Prozess zu denken. Im Fall von Sicherheitsnormen geraten wir mit diesem Ansatz allerdings in Schwierigkeiten. Einerseits gibt es unzählige gesellschaftliche Praktiken und Technologien, die auf Auffassungen, Werthaltungen und Erkenntnissen basieren, die nicht als Allgemeingut gelten können und deren Allgemeinverbindlichkeit zur Diskriminierung von Individuen führen könnten. Ein Beispiel aus meiner frühen beruflichen Tätigkeit: Wir hatten mit vielen Konsumenten und Konsumentinnen zu tun, die Rohmilch zu kaufen wünschten, weil sie die industrielle Behandlung von Milch (Trennung in Fett- und Magermilchanteil, Erhitzung, Homogenisierung, Standardisierung zu «Vollmilch») als Qualitätsschädigung beurteilten. Das Lebensmittelrecht verbot allerdings aus Sicherheitsgründen den Handel mit Rohmilch. Gewarnt wurde vor krankmachenden, pathogenen Keimen (Konsumentenschutz!). In der Folge wurde aufgrund einer Konsumenten- und Bauerninitiative ein dichtes Netz an Labortests eingeführt, das allfällige pathogene Keime schnellstmöglich sichtbar machen sollte. Am Beispiel des Handelsverbots für Rohmilch zeigt sich, dass die Schutzfunktion des Staates umgehend zu Diskriminierung führen kann. Der Schutz durch staatliche Vorschrift geht so weit, dass ich nicht einmal sagen darf: «Ich will gar nicht geschützt werden.» (Dieses Phänomen kennen wir auch von der Gurttragepflicht im Auto.) Die Lösung bei der Milch wurde in einem vertraglichen Verbund der Produzenten gefunden.
Trotzdem geben die Tausenden von existierenden Sicherheitsnormen zu sehr wenig Auseinandersetzung Anlass. Viele Gremien, die Sicherheitsnormen entwickeln, sind privatrechtlich organisierte Vereine (Beispiele SLG = Schweizerische Licht-Gesellschaft; Bundesarchitektenkammer). Dies ist durchaus verständlich und funktional, verfügen die staatlichen Organe doch nicht über die Fachkompetenz, um Normen ständig der technischen Entwicklung entsprechend neu zu formulieren. Die staatlichen Organe übernehmen die Normen und erklären deren Verbindlichkeit. Allerdings sind die Fachorgane technischen Entwicklungen gegenüber oft sehr viel offener (technologiegläubiger), als dies viele kritische, naturaffine oder -bewahrende Bürger sind. Das zeigte sich in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang mit Strahlungsnormen von AKWs und Mobilfunk-Antennen, in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit Agrochemikalien oder Mikroplastik im Trinkwasser. Die Corona-Pandemie hat die Problematik des Zusammenwirkens von wissenschaftlicher Expertise und Politik nochmals ganz neu ins Blickfeld gerückt.
Qualitätsnormen
Wenn wir hier von den zentralen Grundkräften in der Gesellschaft ausgehen, dem Streben nach Gleichheit unter Gleichen, dem Streben nach der Deckung wirtschaftlicher Bedürfnisse und dem Streben nach dem Ausdruck eigener Überzeugungen und Erkenntnisse, dann werden wir schnell feststellen, dass Qualitätsnormen ganz dem individuellen Urteil anheimgestellt werden müssen. In keinem Lebensbereich kann gouvernementale Autorität abschließend feststellen, was gut oder schön, was schlecht oder hässlich ist. Man könnte auch sagen: Es ist die individuelle Erkenntniskraft, das Geistesleben, die den Qualitäten ständig auf der Spur ist – und sie vielleicht trotzdem nie erschöpfend beschreiben kann.
Wie wir oben gesehen haben, sind auch Sicherheitsnormen nicht ohne Hinzuziehung des Geisteslebens zu entwickeln und zu gewährleisten. Mit dem Begriff der «Qualitätsnormen» beziehungsweise «Qualität» treten wir allerdings noch viel deutlicher in den Bereich des Geisteslebens ein, als dies bei den Sicherheitsnormen der Fall ist. Dies muss deshalb unterstrichen werden, weil der Staat heute bei Qualitätsfragen an vielen Stellen intensiv mitmischt. Anhand von zwei Beispielen möchte ich die Problemstellung anschaulich machen.
Beispiel 1: Bauordnung, Baubewilligung
Auf einer Tagung über Digitalisierung wurde eine Übersicht über diejenigen Vorgänge gegeben, die in absehbarer Zeit voraussichtlich weitgehend digital bewältigt werden würden. Dazu wurden Baubewilligungsverfahren gezählt. Bauordnungen sind Kataloge von äußserst detaillierten Vorschriften, einem Sammelsurium von Vorschriften unterschiedlichster Provenienz und Motivation. Da gibt es polizeiliche, feuerpolizeiliche, hygienische, ästhetische, Verkehrs- und weitere Motive, die im Lauf der Zeit fortgeschrieben und erweitert wurden.
Im Prinzip ist es leicht möglich, eine solche Bauordnung als Online-Tool zu entwerfen. Da und dort wird derlei bereits erprobt. Der Architekt hat bei jedem Aspekt «erfüllt» anzukreuzen – oder allenfalls «Sondergenehmigung beantragt», wo eine solche grundsätzlich in Frage kommt. Mit Bauordnungen ist u. a. der Anspruch verbunden, etwas für die Ästhetik unserer baulichen Umgebung zu tun. Beim Bauen soll Ordnung herrschen. Mit dieser Motivation verbietet man am einen Ort Flachdächer, am anderen Ort Glasfassaden. Ästhetik entsteht dadurch nicht. Ästhetik würde eine Urteilsbildung voraussetzen, die nicht an generalisierte Normvorstellungen gebunden ist.
Eine solche wird in einigen Gemeinden Vorarlbergs geleistet. Diese haben keine Bauordnungen. Sie führen den Baubewilligungsprozess in einem Fachgremium durch. Während gute, individuelle architektonische Lösungen sonst häufig auf Durchschnittsniveau zurückgestutzt werden, werden besondere oder hervorragende Gestaltungen in einem solchen Gremium oft erst möglich. Josef Mathys, der langjährige Gemeindepräsident von Zwischenwasser (in der Nähe von Feldkirch im Rheintal) erzählte mir von einem Fall, der das Gremium lange beschäftigt hatte. Aus dem intensiven Ringen ging eine Lösung hervor, die der Bauherr (Gesuchsteller) gar als besser taxierte als sein ursprünglich eingereichtes Projekt. (Angeregt von Josef Mathys richtete er dem Gremium nach Abschluss des Verfahrens ein respektables Honorar für die Beratungsleistung aus!) An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen einem bürokratischen, sich auf das rechtliche, binäre Raster der Bauordnung abstützende Verfahren und einer wirklichen Urteilsfindung deutlich, eine Urteilsfindung, die alle Qualitäten des Geisteslebens zeigt. Das bedeutet, dass die Idee im Zentrum steht, nicht ein Katalog messbarer Kriterien. Diese Praxis fühlt sich mutig, gar gewagt an. Wie Mathys betonte, gibt es in dieser Gemeinde aber keineswegs mehr Rekurse als in Gemeinden mit einem herkömmlichen Verfahren.
Beispiel 2: Ökologische Landwirtschaft
In vielen Ländern ist ökologische oder Bio-Landwirtschaft inzwischen staatlich geregelt. Sie wurde aber keineswegs vom Staat initiiert. Wenn man den Blick auf die Entstehung der Demeter-Landwirtschaft richtet, dann sieht man zunächst und für längere Zeit Bauern, die sich an der von Rudolf Steiner formulierten Idee des Hoforganismus orientierten. Grundlage war sein «Landwirtschaftlicher Kurs». Ich wurde in die Entwicklung eines Regelwerks involviert, als die rein bäuerliche Bewegung in einen Markt überging und auch da und dort Aberkennungen durchgeführt werden mussten. Gerade Aberkennungen treiben in das Bedürfnis nach Gleichbehandlung und Absicherung hinein. Von feinmaschigeren Richtlinien und Reglements erhofft man sich Rückhalt oder Entlastung. Man will die Botschaft senden: Die Aberkennung ist dem Reglement geschuldet, nicht meinem / unserem Urteil.
Hinzu kam eine Ausweitung: «Demeter» stand für eine bestimmte Art von Landwirtschaft. Pionier-Demeter-Bauern (in der Schweiz) wollten sich zunächst auf Richtlinien nur für die landwirtschaftliche Produktion beschränken. Ein Produkt hätte dann geheißen «Brot aus Demeter-Getreide», nicht «Demeter-Brot». Der Druck war aber groß, auch Produktionsverfahren für Joghurt, Quark, Käse, Brot oder gar Schafwolle zu reglementieren und dafür den Demeter-Schriftzug verwenden zu können. Man könnte den Prozess so beschreiben: Nachdem die Produktionsverfahren ausschließlich im Geistesleben entwickelt worden waren, traten sie mit der Definition von Verarbeitungsverfahren in die wirtschaftliche Phase ein. Die Vereinbarung von Verarbeitungsverfahren und die Zertifizierung von Händlern zeigt alle Merkmale eines Vertragswerks, auch wenn es sich nicht um Verträge zwischen einzelnen Partnern, sondern um ein Kollektiv-Vertragswerk handelte. Verträge sind diejenige Form, mit der Wirtschaftende ihre Tätigkeit untereinander rechtlich regeln.
Und dann sah sich der Staat bemüßigt, der ökologischen Landwirtschaft noch ein Gesetzeswerk («EU-Bio», «Bio-Verordnung» in der Schweiz) überzustülpen. Dieses schien mindestens deshalb nötig, weil der Staat für die Förderung der ökologischen Landwirtschaft beträchtliche finanzielle Mittel einsetzt, was einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Dass die sogenannten Verbandslabels (Bioland, Bio Suisse, Demeter usw.) weiterhin ein großes Gewicht behalten haben, zeigt, dass die Idee, die Qualität, das Geistesleben, weiterhin wichtiger sind als das Gesetzeswerk.
Qualität von Verfahren
Sicherheitsnormen beschreiben Produkte oder Installationen im Detail. Sie legen etwa fest, welche Stoffe (z. B. Weichmacher) in einem Kinderspielzeug nicht enthalten sein dürfen.
Dem gegenüber beschreiben Bio-Richtlinien nicht die Qualität von Produkten, sondern die anzuwendenden Produktionsverfahren und deren Bedingungen (beispielsweise in der Tierhaltung). Dies ist ein grundlegender Unterschied, der auch für alle weiteren Qualitätsverfahren (etwa bekannt unter dem Kürzel ISO 9000) gilt. Nicht das Ergebnis, eine bestimmte Qualität, sondern der Prozess der Qualitätssicherung wird ins Auge gefasst. Die Verfahren werden in unternehmenseigenen Handbüchern detailliert beschrieben, Prüfpunkte werden festgelegt. Wer beispielsweise in der Toilette eines Restaurants auf eine an der Wand aufgehängte Liste stößt, auf der Kontroll- oder Reinigungsdaten eingetragen sind, begegnet einem der vielen Prüfpunkte eines solchen Qualitätskonzepts. Solche Qualitätskonzepte und deren externe Auditierung sollen Sicherheit schaffen.
Es ist diese Art von Qualitätssicherung, die notorisch zu Bürokratieklagen (etwa durch Krankenhausärzte) führt. Es gibt sie in der angedeuteten allgemeinen Form, aber auch für besondere Gebiete. So gilt die ISO-14000-Reihe als Umweltzertifizierung. Sie fördere «eine gezielte Steuerung und Verbesserung wichtiger Bereiche wie Energieverbrauch, Abfallreduktion und Rohstoffbeschaffung. Diese Maßnahmen minimieren nicht nur Umweltrisiken, sondern unterstützen auch den Umweltschutz und tragen zur Reduzierung von Umweltauswirkungen bei»[3].
Wenn man allerdings darauf stößt, dass der Chemie-Konzern Bayer (Muttergesellschaft von Monsanto mit all ihren Gentech-Produkten und Pflanzengiften) ISO 14000-zertifiziert ist, muss man sich daran erinnern, dass hier nicht eine Produktsondern eine Verfahrensprüfung stattgefunden hat. Gewissenhaftes Abfallrecycling – einer der Aspekte innerhalb von ISO 14000 – führt noch längst nicht zu einem ökologischen Produkt.
Zu den Verfahren sei hier – etwas paradox – ein letztes Beispiel gezählt: Organisatorische Vorschriften. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte machte sich eine Norm breit, die das Funktionieren vieler Organsationen stark beeinflusste: «Corporate Governance». Zu ihren zentralen Normen gehört die personelle Trennung von Vorstands- und Geschäftsführungsfunktion. Dass dies gerade für die schweizerische Tradition der Selbstverwaltung (Korporations- und Genossenschaftswesen) einen tiefen Einschnitt bedeutete, wurde kaum diskutiert. Im Sozialbereich wurde die öffentliche Finanzierung von Institutionen von solchen Governance-Massnahmen abhängig gemacht. Alternative Verfahrensweisen standen nicht zur Diskussion.
Fragmentierung
Nun sind wir also mit einer Welt der Qualitätssicherung konfrontiert, die Qualität fast nur in Form von Quantitäten (Messergebnissen) und diese nur fragmentiert, d. h. in kleinsten Abschnitten einer Ganzheit zu erfassen vermag. Dass es dem menschlichen Erkenntnisvermögen schwerfällt oder gar unmöglich ist, Ganzheiten zu erfassen, wissen wir aus der erkenntnistheoretischen Debatte.[4] Wir wissen auch von den weitgespannten Schilderungen der Bewusstseinsentwicklung durch Rudolf Steiner, dass eine fragmentierende Weltsicht charakteristisch für die heute dominante Verstandesseele ist. Derartiger Fragmentierung begegneten wir im Rahmen der erregten Debatte nach Roland Kipkes Beitrag zur Ethik in dieser Zeitschrift. Klar ist es erstrebenswert, aufgrund einer individuellen und umfassenden Begriffsbildung absolut individuell (mit moralischer Fantasie) handeln zu können – etwa im Sinne des Eingangszitats: «Besser als das Gesetz ist die freie Erfüllung.» Es würde dann um eine Handlung gehen, die jeglichen «Wust von Sitte, Gesetzeszwang, Religions- übung und so weiter»[5] hinter sich lässt, sich nicht an einzelnen Normen orientiert, sondern allein moralischer Fantasie entspringt. Kipke hatte damals sehr wohl einen blinden Fleck getroffen. Wir sind in aller Regel darauf angewiesen, uns an ethischen Normen «entlangzuhangeln».
Etwas weniger schwierig ist es, Qualität aus einer übergeordneten Idee (Geistesleben) heraus zu erreichen. Vor allem den Pionieren einer Bewegung wird dies meist gelingen. Die Multiplizierung einer «ethischen Bewegung» (Ökolandbau, Fair Trade usw.) kommt dann aber erfahrungsgemäß nicht ohne Normengerüst aus. Später Hinzugestoßene können sich nur selten ebenso tief wie die Pioniere in die ursprünglichen Ideen einleben. Diese entfalten sich in einem Feld ökonomischer Spannungen, in der Wettbewerb eine maßgebliche Randbedingung und Kostenkontrolle ein allgegenwärtiges Thema sind. Da hat die Gründungsidee oft einen schweren Stand. Wenn Fair Trade etwa auf die Bezahlung eines bestimmten Zuschlags auf den Rohstoffpreis an die Urproduzenten beschränkt und eine umfassendere Idee auf der Strecke geblieben ist, kann es passieren (dies ist ein reales Beispiel!), dass zwei Bananenvermarkter von Fair-Trade-Bananen in eine ruinöse Konkurrenz mit Boykott-Maßnahmen gegeneinander antreten. Die PR-Abteilungen sollen dann Bilder der Idee malen, die in der Realität der Fragmentierung zum Opfer gefallen ist.
Während Fragmentierung bereits im Erkenntnisvorgang eine Unzulänglichkeit ist, der wir in unserem Bewusstseinszeitalter nur selten und ansatzweise zu entgehen vermögen, tritt sie auf der Ebene des Handelns noch viel deutlicher in Erscheinung. Dazu ein weiteres Beispiel: Bei unserem Haus ist ein Fußgängerüberweg nach allen Regeln der Kunst beziehungsweise der SLG-Beleuchtungsrichtlinie 202, die die «Sicherheit straßenquerender Fussgänger» gewährleisten will, ausgeleuchtet. Zweihundert Meter weiter oben an derselben Straße ist eine Bushaltestelle. Dort werden die Buspassagiere auf einen Privatparkplatz ausgeladen. Auf der Straßenseite dieser Haltestelle gibt es keinen Gehweg (Trottoir). Um denjenigen auf der anderen Seite zu erreichen, muss die Straße an dieser nicht sehr übersichtlichen Stelle überquert werden – ohne Fußgängerüberweg, und deshalb auch ohne Beleuchtung – typisch für den fragmentierenden Handlungsansatz. Peinlich genaue Erfüllung der Normen an der einen, sozusagen Normlosigkeit an der anderen Stelle. Die Ungleichbehandlung verschiedener Sicherheitsbedürfnisse entlang derselben Straße ist ein Aspekt der Fragmentierung. Es gibt offensichtlich keine übergreifende Sicherheitsbetrachtung, nur punktuelle Anwendung – dann aber nach Lehrbuch. Daneben gibt es viele andere Biespiele. Hier sind namentlich die Umweltwirkungen während der ganzen Nacht strahlender Lampen zu erwähnen: Für den (seltenen) Fußgänger ist gesorgt, Myriaden von Insekten werden von den weit strahlenden Lampen angezogen, ihr Leben wird ge- oder zerstört.
«Ideelle Orientierung» ist das Merkmal aller stark im Geistesleben verankerten Berufe oder Professionen wie Arzt, Lehrer, Psychotherapeut, Sozialarbeiter usw. Wie sieht es hier aus? Es gehört zur Definition professionellen Handelns, dass es sich an den Regeln des Berufs orientiert. Erneut stehen sich regelhaftes Handeln und Handeln aus einer Idee und einem situativen Gesamturteil heraus gegenüber. Es gehört zum Erlernen des Berufs, bestimmte Schwellenwerte oder Normen zu kennen, die zu bestimmten Interventionen Anlass geben. Solche Schwellenwerte bzw. Normen basieren auf Statistiken. Wenn sich ärztliche Tätigkeit im Feststellen derartiger Werte und im Auslösen zugeordneter Interventionen erschöpft, kann sie analog zum angedachten Vorgehen bei einer Baubewilligung durch einen Computer ersetzt werden. Meist zeigt sich allerdings ein komplexer Gesundheitszustand, der die Schaffung eines umfassenderen Gesamtbildes erfordert, ein Abtasten, wie ich dies im bereits erwähnten Beitrag zu beschreiben versuchte. In der Untersuchung zum Therapieverlauf von Securvita-Versicherten (Vergleich von komplementärmedizinisch mit schulmedizinisch Behandelten) wurde festgestellt: «Kinder [in komplementärmedizinischer Behandlung] erhielten seltener Antibiotika. Besonders auffällig erwies sich dies bei Kleinkindern ab der Geburt: Mit homöopathischer Behandlung sank die Zahl der mit Antibiotika behandelten Kleinkinder im dreijährigen Untersuchungszeitraum um 16,7 Prozent, während sie in der Vergleichsgruppe um 73,9 Prozent stieg.»[6] Eine solche Schilderung lässt annehmen, dass die eine Gruppe von Ärzten (Schulmedizinern) Normen «durchzog», während Komplementärmediziner die Therapie aufgrund individueller Krankheitsbilder anpassten.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass «Norm» unversehens einen gravierenden rechtlichen Einschlag erhält, wenn Haftung festgestellt und Klage eingereicht
werden kann. Eine Klage mag lauten, dass etwa die oben erwähnte Reduzierung der Antibiotika-Gabe nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprochen hätte. Überhaupt bedrängt Recht ständig freies Geistesleben, wie auch ein aktuelles Beispiel, der Entwurf zu einem «Gesundes-Herz-Gesetz» des Gesundheitsministers Lauterbach zeigt. Der Gesetzesvorschlag definiert, wann Cholesterinsenker präventiv kassenpflichtig verordnet werden dürfen. Wenn beispielsweise Unter-50-Jährige ein Risiko von mindestens 7,5 Prozent haben, innerhalb von zehn Jahren einen Schlaganfall zu erleiden, sollen sogenannte Statine eingesetzt werden. Dazu der Epidemiologe Prof. Jürgen Windeler: «Aber eine Indikationsstellung ist eine ureigene medizinische Aufgabe und gehört natürlich nicht in ein Gesetz […]».[7] Allerdings haben Normen besonders bei ängstlichen Gemütern ähnliche Wirkung wie Gesetze.
Zusammenfassend muss man zwei Entwicklungen zur Kenntnis nehmen. Erstens: Viele politische Werthaltungen und Zielvorstellungen nehmen im öffentlichen Raum über kurz oder lang die Form von Standards, Richtlinien, Normen, wenn nicht von Gesetzen an. Diese dringen in das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben ein und drängen dieses in ein Normenkorsett. Zweitens: Man mag die zunehmende Digitalisierung vieler Lebensvollzüge beklagen. Die Vorbereitungen dazu haben mit Normierungen schon vor langer Zeit begonnen. Das aufmerksame Wahrnehmen solcher Entwicklungen ist die erste Voraussetzung, um ihnen zu begegnen.
Matthias Wiesmann, geb. 1945, absolvierte seine sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung in Bern und Freiburg i. Br. Nach Aufgaben in Hochschule und Forschung gründete er 1984 ein Unternehmen im Bio-Bereich (Großhandel). Gleichzeitig war er Mitgründer der CoOpera Sammelstiftung PUK, später der CoOpera Beteiligungen AG und der Stiftung Nutzungseigentum am Boden. Parallel dazu Geschäftsführungen und VR-Mandate im BioBereich. Diverse Publikationen, u. a. «Solidarwirtschaft. Verantwortung als ökonomisches Prinzip» (2014), «Eintopf und Eliten. Weshalb unser Staat Alternativen braucht» (2017) und «Mit Vorsorgekapital anders umgehen. Die CoOpera setzt auf Realwirtschaft» (2020).
[1] Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. (GA 4), Dornach 2021, S. 167
[2] Matthias Wiesmann: Erkenntnisprozesse verstehen. In «Anthroposophie» 306, Weihnachten 2023, S. 298.
[3]www.lrqa.com/de-de/iso-14001/ (abgerufen am 22.7.2024).
[4] Vgl. Matthias Wiesmann: Erkenntnisprozesse verstehen. A. a. O.
[5] Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. A. a. O., S. 167.
[6]www.bph-online.de/studie-homoopathie-securvita/ (abgerufen 22.7.2024).
[7]www.infosperber.ch/gesundheit/public-health/karl-lauterbachs-gesundes-herz-gesetz-ist-voelliggaga/ (abgerufen am 22.7.2024).