Ein Umsturz in der Philosophie
Immanuel Kant zum 300. Geburtstag. Ein Beitrag aus der Juni-Ausgabe der Zeitschrift „DieDrei“.
Immanuel Kant wurde am 26. April 1724 geboren. Seine Bedeutung nach 300 Jahren gründet in seinem dreiteiligen Hauptwerk, dessen erster Teil, die ›Kritik der reinen Vernunft‹ 1781 veröffentlicht wurde. Kant war damals im 57. Lebensjahr, d.h. im dritten Mondknoten. Bis zu seinem Tod 1804 erschienen rund 2.000 Schriften zu dem philosophischen Neuansatz, den er vorgelegt hatte. Deshalb schreibt Friedrich Schiller unter dem Titel ›Kant und seine Ausleger‹ passend: »Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung / setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.«[1] Zwischen dem Erscheinen der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und uns liegen rund 240 Jahre, in denen sich eine weitere große Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Dabei ist es der Philosophie Kants einigermaßen erspart geblieben, zu einer tradierten Lehre zu werden, wie der Aristotelismus in der Scholastik oder der Thomismus in der Neuzeit. Es gab wohl keinen Philosophen unter denen, die sich an Kant orientiert hatten, der nicht wiederum produktive Kritik an ihm geübt oder ihn selbstständig interpretiert hätte.
Drei deutlich voneinander unterschiedene Ansätze prägten die philosophische Zeitsituation Kants: der angelsächsische Empirismus mit John Locke und David Hume, dann die durch Descartes begründete Bewusstseinsphilosophie und schließlich die in Deutschland etablierte Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie. Die Empiristen John Locke und David Hume wollten die Philosophie auf eine tragfähige Erfahrungsbasis stellen. Dabei entdeckten sie, dass vielen unserer grundlegenden Begriffe eine solche Basis fehlt. Ursache und Wirkung, Identität oder Selbstheit lassen sich nicht durch Erfahrungen rechtfertigen, und so entwickelte der britische Empirismus eine Tendenz zur Skepsis. Parallel dazu begann der französische Philosoph René Descartes mit einem radikalen Zweifel an der Realität als solcher. Ist nicht alles, einschließlich des Ich, nur ein Traum? Er suchte jedoch keine äußere Erfahrungsgrundlage, sondern eine innere Gewissheit, und er fand sie in der je aktuell vollzogenen Bewusstseinserfahrung des Denkaktes. Aber nun konnte dieser Akt nicht permanent vollzogen werden. Darf er sich darauf verlassen, dass die Erinnerung daran nicht täuscht? Wenn es einen guten Gott gibt, kann er den Menschen nicht täuschen wollen. So erneuerte Descartes den ontologischen Gottesbeweis des Mittelalters, um auf diesem Umweg die je aktuelle Gewissheit der eigenen Existenz im Denkakt – durch das Vertrauen in Gott berechtigt – in der Erinnerung bewahren zu können.
Den dritten philosophischen Ansatz, den Kant vorfand, bildeten die deutschen Epigonen des großen Gottfried Wilhelm Leibniz, die erstaunlich unbekümmert um Zweifel oder fehlende Erfahrungsgrundlage ihre rationalen Systeme aus reinen Begriffen, im reinen Denken errichteten. Sie waren für Kant die Vertreter des von ihm so genannten Dogmatismus, während Hume der Hauptvertreter des Skeptizismus war. Kant brach nun dazu auf, zwischen Dogmatismus und Skeptizismus einen dritten Weg zu bahnen, den Weg seiner kritischen Philosophie, die gleichermaßen der Erfahrung wie auch dem Denken zu ihrem jeweiligen Recht verhelfen sollte.
Die Einführung der Anschauung
Kants Versuch, in dem vorgefundenen Feld von Teilwahrheiten und Irrtümern einen neuen Weg zu bahnen, beginnt mit der Einführung eines gänzlich neuen Elementes, nämlich der Anschauung. Zuvor sprach man von Perzeptionen, Empfindungen und Wahrnehmungen, welche die Erfahrungsseite des Erkennens ausmachen. Von der rationalen Seite des Denkens unterschied man diese lediglich graduell durch ein geringeres oder größeres Maß an Klarheit. Kant beobachtete demgegenüber jedoch einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen den beiden verschiedenen Quellen unserer Erkenntnis, die er jetzt »Anschauung« und »Begriff« nannte. Anschauungen bilden das sinnliche Element unseres Erkennens, demgegenüber wir uns empfangend verhalten. Als Anschauung begegnet uns alles Einzelne in räumlichen und zeitlichen Verhältnissen, d.h. im Neben- und Nacheinander. Raum und Zeit beinhalten alle einzelnen Anschauungen. Auch Begriffe beinhalten Vieles, sie beinhalten das Besondere, aber Raum und Zeit sind keine Begriffe. Begriffe bestimmen das Einzelne durch Gemeinsamkeiten. Begriffe umfassen ihre Inhalte als Allgemeines, Regel oder Muster. Was im Raum ist, ist jedoch kein besonderes Exemplar des allgemeinen Raumes, sondern es befindet sich als Einzelnes »im« Raum. Keine zwei Dinge können zur selben Zeit am selben Ort sein.
Raum und Zeit selbst sind keine Behältnisse, die wir von außen anschauen könnten. Sie sind für Kant vielmehr die Formen unserer Anschauung, die alle einzelnen Anschauungen erst ermöglichen. Als reine Anschauungsformen erklären sie für Kant die Verbindlichkeit und Notwendigkeit der Mathematik und Geometrie, und darüber hinaus ermöglichen sie unser empirisches Anschauen. Alle einzelnen Anschauungen sind uns dabei »gegeben«. Wir können sie selbst nur empfangen. Demgegenüber erfordern Begriffe immer eine eigene Aktivität, denn wir müssen sie bilden. Der sinnlichen Anschauung steht somit die intelligible Sphäre der Begriffe gegenüber, die mit Raum und Zeit nichts zu tun hat. Weder »tiefe« noch »oberflächliche« Gedanken lassen sich anschauen oder ausmessen.
Die unerwartete Pointe von Kants Einführung der Anschauung ist aber der Gedanke, dass wir nicht voraussetzen können, dass alle vernünftigen Wesen an eine solche sinnliche Anschauung gebunden sind wie wir Menschen, dass es vielmehr »andere vernünftige Wesen«[2] geben könnte, die über eine andere Anschauung verfügen. Zwar hatte auch Leibniz sich eine göttliche Erkenntnis vorgestellt, aber als rein begriffliche Erkenntnis. Kant fasst nun jedoch den Gedanken einer höheren Erkenntnis, die primär Anschauung ist, aber keine sinnliche oder phänomenale Anschauung, sondern eine Anschauung des Noumenon.[3] »Geist« heißt im Griechischen nous und ein »Noumenon« ist für Kant ein allein geistig anzuschauendes Ding, im Unterschied zu einem bloß gedachten oder einem sinnlich angeschauten. Er wehrt sich gegen die Verwechslung der noumenalen Welt mit dem, was frühere Philosophen die intelligible Welt genannt haben, die Welt der durch unsere Verstandesbegriffe gebildeten Zusammenhänge, denn es geht um die Anschauung. Nur vernünftige Wesen, die eine nichtsinnliche Anschauung hätten, wären von der Einschränkung befreit, die unsere Erkenntnis charakterisiert: von der Einschränkung, das Seiende gegeben zu bekommen. Ihre Anschauung wäre nicht sinnlich-empfangend, sondern hervorbringend, und deshalb würde die Erkenntnis solcher vernünftiger Wesen nicht die Erkenntnis einer ihnen erscheinenden Welt sein, sondern Erkenntnis der noumenalen Welt, in der Erkennen und Schaffen in der produktiven Anschauung zusammentreffen. Eigentlich legt sich hier die Rede von einer noumenalen Anschauung nahe, also einer geistigen Anschauung, aber Kant spricht von einer »intellektuellen« Anschauung. [4]Weil die Kategorien des diskursiven Verstandes dem Nacheinander der sinnlichen Anschauung zugehören, können sie nicht auf den Gegenstand der nicht sinnlichen Anschauung, das Noumenon bezogen werden. Der produktiven Anschauung entspricht vielmehr ein intuitiver Verstand, für den es keinen Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit gibt.[5]
Leere Begriffe, blinde Anschauungen und unabweisbare Ideen
Wenn wir hier – über Kant hinaus – an eine gesteigerte menschliche Erkenntnis denken, dann wäre von einer Anschauung in einer Sphäre die Rede, in der es keine (räumliche) Unterscheidung mehr zwischen Innen und Außen gibt und auch nicht zwischen Empfangen und Hervorbringen. Damit würde aber auch der Unterschied zwischen Fiktionalität und Faktualität wegfallen. Wir könnten vor dem Hintergrund der Anthroposophie vergleichend sagen: Ähnlich wie Kant die Sphäre des Phänomenalen und des Noumenalen auseinanderhält, ist in der Anthroposophie die irdische und die geistige Welt auseinandergehalten, aber hier nicht absolut, sondern bedingtermaßen. Die Grenze ist durch einen »Hüter« aus guten Gründen geschützt, und zu diesen Gründen gehört auch das Problem der wegfallenden Unterscheidung zwischen dem gewöhnlichen Fiktionalen und dem gewöhnlichen Faktualen.[6] Mit einer produktiven Anschauung müsste zugleich auch die Fähigkeit entwickelt werden, ohne die gewohnte raum-zeitliche Unterscheidung zwischen fiktional und faktual Wahrheit von Irrtum unterscheiden zu können. In vielen Vorträgen stellt auch Rudolf Steiner den Eintritt in die geistige Welt als ein Verlassen des Raumes und Produktivwerden der Anschauung dar.[7] Im Vergleich damit begegnet uns Kant als ein Hüter der Schwelle.[8]
Für unser gewöhnliches Bewusstsein gilt nach Kant: Bloße Begriffe sind leer, bloße Anschauungen sind blind. Dabei geht es zunächst um empirische Begriffe, die aus der Anschauung heraus durch Reflexion gebildet werden. Aber es gibt auch Begriffe, die jeder Erfahrung vorausgehen. Anders als die Empiristen gesteht Kant solchen vorgängigen Begriffen unter bestimmten Bedingungen eine Berechtigung zu. Mehr noch: Begriffe wie Substanz oder Ursache, Quantität, Qualität und Relation und andere sind für alle Erkenntnis unverzichtbar, aber sie dürfen deshalb nicht ohne eigene Anschauung zu vermeintlichen Erkenntnisgegenständen verdinglicht werden.
Die Lösung des oben erwähnten Widerstreits zwischen Dogmatismus und Skeptizismus zeichnet sich damit ab. Die als anschaulich- phänomenal bestimmte Erkenntnis weist die Skepsis der Empiristen ebenso zurück wie den dogmatischen Anspruch der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik, die aus bloßen Begriffen, ohne Anschauungsgrundlage zur Erkenntnis des Übersinnlichen zu gelangen meinte. Solange unsere menschliche Anschauung sinnlich (= phänomenal) verfasst, sie also auf das in Raum und Zeit Gegebene angewiesen ist, können wir keine Erkenntnis des Übersinnlichen (des Noumenon) gewinnen. Vom Übersinnlichen sprechen uns aber Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Sie entziehen sich unserer sinnlichen Anschauung, weil sie jeweils auf ein Ganzes und Unbedingtes gehen und unsere raum-zeitliche Anschauung nur das im Neben- und Nacheinander Bedingte zu erfassen vermag.
Gott ist kein allmächtiges Ding oder das größte aller Dinge, sondern er geht über alles Bedingte hinaus. Die Welt ist ein Ganzes, das nicht von außen angeschaut werden kann. Die Unsterblichkeit der Seele ist an keine raum-zeitlichen Bedingungen geknüpft. Freiheit schließlich ist für Kant ein Handeln, das aus keinen Bedingungen ableitbar oder erklärbar ist. Alle Vernunftideen sprechen von etwas, wofür es keine Voraussetzungen und deshalb auch keine Erklärungen geben kann und keine raum-zeitliche Anschauung. Aber diese Ideen sind nicht abzuweisen. Sie sind uns »aufgegeben«. Sie sprechen von unserem verborgenen Bezug zur noumenalen Welt und gehören in die Philosophie, wenn auch nicht in die theoretische, sondern in die praktische. Wir brauchen sie zur Orientierung und zum Handeln in der Sinneswelt. Kant beweist innerhalb der theoretischen Philosophie, dass die Realität dieser Ideen nicht wiederlegbar ist. In der Folge kann er darauf bestehen, dass nicht nur der Metaphysiker, der die Ideen im rationalen Denken zu erkennen meint, sondern auch der Materialist, der die unsterbliche Seele als nichtexistent ansieht, im Unrecht ist. Der Materialist, der Gott nicht im Weltall und die Seele nicht im Leib findet, befindet sich nach Kant nicht nur in einem empirischen Irrtum, sondern er beansprucht selbstwidersprüchlich den Besitz einer Erkenntnis, die prinzipiell schon widerlegt ist. Wenn unsere Zeit heute an einem pseudowissenschaftlichen Glauben an den Naturalismus leidet, der zur dogmatischen Weltanschauung geworden ist, dann berufen sich Philosophen in ihren Argumentationen auf die Grenzziehungen Kants, welche die Wissenschaft von Wissenschaftsfundamentalismus zu unterscheiden helfen.[9] Denn wie alle fundamentalistischen Glaubenssysteme stellt sich der weltanschauliche Naturalismus unduldsam und feindlich gegen alles ihm Fremde. Aber für Kant ging es um mehr.
Die Realität der Erscheinung und das Ding an sich
Während Sinneswahrnehmungen subjektiv sein können, ist die Räumlichkeit und Zeitlichkeit unserer Anschauung objektiv. Wenn Kant gegen den metaphysischen Rationalismus die Anschauungsbezogenheit unserer Erkenntnis geltend macht, spricht er von den Phänomenen, welche die Realität unseres empirischen Erkennens begründen. Um Kant zu verstehen, dürfen wir kein platonisches Wirklichkeitsverständnis voraussetzen und die Erscheinungen auf Urbilder oder Wesen beziehen. Die anschauungsgegründete Erkenntnis der Phänomene ist real und vollständig. Ihr mangelt kein Zugang zu einem Ding an sich. Auf dieses kommt Kant erst dann zu sprechen, wenn er unsere menschliche Anschauung neben die Anschauung »anderer vernünftiger Wesen« hält. Empirisch gesehen ist unsere Erkenntnis real, aber sie darf sich selbst nicht vergessen und den Anspruch erheben, die Dinge unabhängig vom menschlichen Dasein erkannt zu haben. So werden wir, wie schon gesagt, mit der gedachten Anschauung »anderer vernünftiger Wesen« konfrontiert, die nicht empfangend (d.h. »sinnlich«) ist, sondern hervorbringend. Kant fordert zu einem methodischen Perspektivenwechsel auf: Empirisch betrachtet sind der Raum und die auf der sinnlichen Anschauung gründende Erkenntnis real. Dennoch wäre der Raum, wenn wir »ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen«[10] würden, geradezu ein Nichts. Was will er damit sagen? Es gibt den Raum nur im Sinnlichen, nicht aber im Übersinnlichen, er ist prinzipiell nur gegeben und niemals Inhalt einer produktiven Anschauung, denn das wäre ein Selbstwiderspruch.
Das Ding an sich ist Gegenstand einer produktiven Anschauung und tritt hier zunächst als bloßer Grenzbegriff auf, als die Kontrastfolie, vor der sich unser empirisches Erkennen in seiner Verfassung konturiert und aus der Selbstvergessenheit wachruft. Wenn Kant dann aber den Erscheinungen als phainomena die noumena gegenüberstellt und diese als Dinge an sich bezeichnet, dann sind das positiv gesehen die »Dinge«, die nicht in Raum und Zeit gefunden werden können und auf welche die Verstandeskategorien nicht angewendet werden können. Von ihnen sprechen die Vernunftideen, für deren Erkenntnis uns neben einer produktiven Anschauung noch ein intuitiver Verstand fehlt, ein Verstand, der in eine sinnhafte Beziehung von Teil und Ganzem eintreten kann.
Kants Philosophie beschränkt sich nicht auf die theoretische Ebene des Erkennens. Die Ideen werden »postuliert«, und das ist mehr als das Aufstellen einer theoretischen Hypothese, nämlich ein Tun. In der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ wird es dann ausdrücklich um das zwischenmenschliche Handeln gehen. Hier wird Kant den Menschen selbst als Noumenon betrachten, dem kein Wert, sondern Würde zukommt. Vom Vernunftgesetz des Handelns aus bekommen dann zuerst die Freiheit, dann die Unsterblichkeit und schließlich Gott philosophische Realität. Und in der ›Kritik der Urteilskraft‹, die eine Brücke zwischen theoretischer und praktischer Philosophie schlagen soll, wird Kant im Menschen die Möglichkeit des »Genies« aufweisen, als Fähigkeit des Künstlers, Wirklichkeit hervorzubringen, die in keinem Plan vorausentworfen werden kann. Kants Philosophie lässt sich nur in ihrer Dreigliederung verstehen.
Vernunftkritik als Erkenntnistheorie
Unmittelbar nach Kant betraten die drei großen Denker Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Bühne des philosophischen Geschehens, alle von Kant stimuliert, aber jeweils von einer der drei Kritiken im Besonderen und sehr unabhängig von ihm. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann dann eine Kant-Renaissance unter grundlegend veränderten Bedingungen. Die Forschungen zur Sinnesphysiologie am Ende des 19. Jahrhunderts lenkten die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung und ließen die Anschauung in den Hintergrund rücken. In der der Folge konnte man den Erscheinungscharakter der Erkenntnis nicht mehr als empirische Realität verstehen. Der methodische Perspektivenwechsel zwischen phainomenon und noumenon ging verloren, die Erscheinung wurde zur bloßen Vorstellung, der das Ding an sich fehlte. So brachen Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann auf je unterschiedlichen Wegen zu einer Erkenntnis des Ding an sich auf und Otto Liebmann, Johannes Volkelt und andere versuchten Kants scheinbar ungeschickte Rede vom Ding an sich zu verbessern. Friedrich Albert Lange und Liebmann hatten beide 1865 Kants Rede vom Ding an sich zunächst als Fehler verworfen. Aber in der zweiten Auflage seiner ›Geschichte des Materialismus‹ (1875) korrigiert sich Lange und deutet nun das Ding an sich als bloßen Grenzbegriff und damit so, wie er ihn 1865 zunächst kritisch verbessern wollte.[11]
Mit der Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger im Jahre 1929 wurde die Ära des Neukantianismus, die zuvor schon langsam ausgeklungen war, definitiv beendet.[12] Die beiden Kontrahenten hatten sich trotz aller sonstigen Unterschiede jeweils von den zuvor herrschenden Ding-an-sich-Deutungen befreit. So betonte Cassirer, dass Kant unter »Erscheinung« nichts Mangelhaftes, keinen bloßen Teil des Seins verstehe, sondern das, wovon wir ein sicheres und unumstößliches Wissen besitzen. Kants Erscheinungsbegriff unterscheide sich grundlegend von dem der Metaphysik, dessen Gegenbegriff das »Wesen« war.[13] Und Heidegger betonte, dass Kant mit Erscheinung und Ding an sich jeweils das Seiende selbst gemeint habe, nur im Hinblick auf unterschiedliche Erkenntnisarten.[14] Kant habe keine Erkenntnistheorie verfasst, sondern zu einer ganz neuen Grundlegung der Metaphysik angesetzt. Heidegger sieht keine Berechtigung mehr dafür, in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ auch nur teilweise eine Erkenntnistheorie zu suchen.[15] An deren Stelle tritt die Frage nach dem Menschen, als Voraussetzung zu einem neuen Seinsverständnis.
In dem Milieu der neukantianischen Diskussionen hat sich auch Rudolf Steiner mit seiner Dissertation ›Wahrheit und Wissenschaft‹ (GA 3) bewegt, und zwar in der Nähe, aber keineswegs in völliger Übereinstimmung mit Eduard von Hartmann, dem die Schrift in der ersten Buchausgabe 1892 »in warmer Verehrung zugeeignet« wurde. Steiner nahm Kant ganz wie seine neukantianischen Zeitgenossen selbstverständlich als Erkenntnistheoretiker, legte mit größter Unbefangenheit Volkelts Maßstab der Voraussetzungslosigkeit an Kants Werk an und unterwarf es ebenso selbstverständlich der Kant fremden Frage, ob es Grenzen der Erkenntnis gibt. Der Philosoph Erich Adickes beschrieb 1894 in einer Rezension von ›Wahrheit und Wissenschaft‹ das Auftreten Steiners gegen Kant als »allzu renommistisch « und ordnet das Ergebnis der Dissertation nüchtern einem »objektiven Idealismus« zu, dem es darum gehe, »ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt.«[16]
Steiner ist damals wie heute philosophisch nicht weiter wirksam geworden. Ausschließlich die Studie von Hartmut Traub lässt sich als unabhängige philosophische Auseinandersetzung bezeichnen.[17] Von anthroposophischer Seite gibt es die Arbeit von Dietrich Rapp zum Verhältnis von Steiner zu Kant, die bei voller Sympathie für Steiner doch von dessen »abgründiger Fremdheit« gegenüber Kant spricht und seiner »Widerlegung um der Kontrastierung der eigenen Position« willen.[18]
Wechsel der Paradigmen
Die von Heidegger formulierte Preisgabe der Voraussetzung, dass Kant als Erkenntnistheoretiker gelesen werden müsse, ist Teil eines philosophiegeschichtlichen Paradigmenwechsels. Dieser beschränkt sich nicht auf das Ende des Neukantianismus in der Kant-Interpretation, sondern er beinhaltet darüber hinaus eine große bewusstseinsgeschichtliche Zäsur, die sich philosophisch mit der hermeneutischen Wende der Philosophie im 20. Jahrhundert weiterentwickelt hat. Die Ära der Erkenntnistheorie war damit in gewisser Weise beendet, auch wenn die erkenntnistheoretischen Fragen nicht »beantwortet« waren und immer wieder aufgegriffen wurden. Die heutigen philosophischen Richtungen in einer durch angelsächsische Philosophen, durch Skeptiker und Empiristen geprägten Landschaft sind freilich vielfältig. Zu Edmund Husserls philosophischer Auseinandersetzung mit Kant und dem Neukantianismus gibt das Werk von Iso Kern einen guten Überblick.[19] Iris Hennigfeld sucht von der Phänomenologie Husserls her eine philosophische Rechtfertigung der Anthroposophie.[20] Mit Blick auf die deutschsprachige und zum Teil auch französischsprachigen Philosophen ist meines Erachtens jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts die philosophische Hermeneutik an die Stelle der Erkenntnistheorie getreten. Sie befasst sich zugleich mit dem Verstehen menschlicher Werke in Kunst, Wissenschaft und Religion wie auch mit dem Verstehen von Mensch und Welt.[21]
Nicht Voraussetzungslosigkeit, sondern Einsicht in die jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen entwickelte sich hier zum methodischen Grundgedanken. Die Weiterführung der Naturwissenschaften zu einer monistischen Weltanschauung bei Ernst Haeckel begann, ihre problematische Seite zu zeigen.[22] Umgekehrt nahm die Entwicklung einer Geisteswissenschaft, die sich dem geschichtlich Unwiederholbaren und dem Individuellen des menschlichen Daseins zuwendet, durch Wilhelm Dilthey Fahrt auf.[23] Damit vollzog sich die Emanzipation von den Naturwissenschaften und deren beschränkter Ausrichtung auf das Wiederholbare und Notwendige.
Produktive Interpretation
Indirekt hatte Kants Einführung der Anschauung den beschriebenen Paradigmenwechsel vorbereitet, insofern nur von der Anschauung aus Individualität und Geschichtlichkeit denkbar werden. Weder Wahrnehmungen noch Begriffe erreichen das Individuelle. In Kants dritter Kritik, der ›Kritik der Urteilskraft‹, geht es um die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem begrifflich Allgemeinen. Die Erfahrungen der Kunst und das Erlebnis des Schönen lehren, dass hier dem Sinnlich-Einzelnen eine solche Bedeutung zukommt, dass es niemals durch den Begriff ersetzt oder aus einem Begriff abgeleitet werden kann. So wenig hier die Teile das Ganze erklären können, so wenig erklärt ein vorgängiger Begriff die Konfiguration der Teile. In einem Kunstwerk und in einem lebendigen Organismus nehmen wir dieses Phänomen wahr, erleben wir die Beziehung zwischen den Teilen und dem Ganzen.[24] Das »Sinnesorgan« dafür ist das durch Beispiele und Praxis entwickelte Fühlen, nämlich die Beurteilung der Beziehungen zwischen Mensch und Welt und zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Das Fühlen entwickelt sich so über bloß subjektive Vorlieben oder Sympathien und Antipathien hinaus zu einer Beurteilung des Schönen mit objektivem Anspruch, der freilich nicht durch Kriterien endgültig festzulegen ist. Das »Geschmacksurteil« ist nicht subjektiv aber auch nicht beweisbar. Es erlaubt einen dialogischen Streit, der nicht zum Krieg führt. Für die Philosophen vor Kant ging es lediglich um die Beurteilung der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit eines Dings. Die offene Stelle der dritten Kritik bildete freilich die Frage nach der Art von Philosophie, die dabei eröffnet wird, da Kant hier eine Brücke zwischen theoretischer und praktischer Philosophie vor Augen hatte.
An dieser Stelle hat dann im Laufe des 20. Jahrhunderts die hermeneutische Philosophie angeknüpft und ihren ganz neuen Weg eingeschlagen.[25] Sie hat das philosophische Wahrheitsverständnis durch die Hinzunahme der Kunst von der herrschenden Verengung auf das Wiederholbare und Notwendige befreit. Dazu gehört ferner die Einsicht, dass sich Mensch und Wirklichkeit nur in Beziehung zueinander erkunden lassen. Der Mensch schafft in seinen Werken Wirklichkeit. Diese Werke werden deshalb nicht mehr nur als richtige oder falsche Erkenntnisse am Maßstab der Überprüfbarkeit und Wiederholbarkeit beurteilt. An die Stelle der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wesen tritt die Unterscheidung zwischen der Darstellung und dem Dargestellten.[26] Die Darstellung trägt Züge der produktiven Anschauung. Sie lebt in Werken. Werke werden nicht erkannt, sondern interpretiert. Im Verstehen werden wiederum Formen einer produktiven Anschauung entwickelt, an die Kant noch nicht gedacht hatte. Die geistige Welt wurde seit Dilthey nicht nur jenseits von Raum und Zeit erfahrbar, sondern im Verständnis der menschlichen Biografien und der menschlichen Werke in Kunst und Philosophie geschichtlich (zeitlich) konkretisiert. Das Verstehen erfasst komplexe Zusammenhänge jenseits von Ursachen und Zwecken, es integriert Zufälle, Kollateralereignisse und aporetische Situationen. Es bewahrt vor rationalisierenden Kurzschlüssen und monokausalen Erklärungen. Und es eröffnet einen eigenständigen dritten Weg zwischen den sich gegenseitig aufschaukelnden Tendenzen zu Fundamentalismus und Relativismus.[27]
Kant oder Steiner heute zu verstehen heißt nun nicht, sie am Maßstab der »Errungenschaften« der Gegenwart zu beurteilen, sondern in ein Gespräch mit ihnen zu treten, das den Zeitenabstand durchmisst. Dabei wird die Enge unseres Gegenwartshorizonts geweitet, ein vergangener Horizont erkundet. lnnerhalb eines gemeinsamen Horizontes lässt sich leicht argumentieren, aber das Gespräch über den jeweils eigenen Horizont hinaus ist die eigentliche hermeneutisch Herausforderung. Wer sich dieser Herausforderung entzieht, indem er den Unterschied zwischen den empirischen Erkenntnissen und der Horizonterfahrung verwischt, mogelt sich am hermeneutischen Hüter der Schwelle vorbei und verfällt den Meinungsstreitigkeiten, dem Fundamentalismus oder dem Relativismus.
Mit Rudolf Steiners frühem Grundgedanken, demzufolge »Wirklichkeit« nicht unabhängig vom Menschen zu finden ist, sondern erst durch die menschliche Erkenntnis zustande kommt, konnte der neukantianische Rezensent Adickes nichts anfangen. Wir lesen Steiner jetzt anders: Weder der »gegebene« Weltinhalt noch der durch die Aktivität des Denkens gewonnene »andere Teil der Welt« kann für sich allein Wirklichkeit beanspruchen. »Erst die durch die Erkenntnis gewonnene Gestalt des Weltinhaltes, in der beide aufgezeigten Seiten desselben vereinigt sind, kann Wirklichkeit genannt werden.«[28] Wir nehmen diesen von Steiner entwickelten Gedanken nicht als Ergebnis einer erkenntnistheoretischen Beweisführung, nicht als eine Aussage, die richtig oder falsch ist. Es muss dem, der ihn ablehnt, kein Mangel an Unvoreingenommenheit unterstellt werden. Wir können einen solchen Satz als Eröffnung eines neuen, dialogischen Horizontes auffassen, vor dem sich eine ganze Reihe einzelner Beobachtungen neu und vielversprechend ausnehmen. Während eine Hypothese auf ihre Bestätigung oder Widerlegung durch eine empirische Überprüfung hin aufgestellt wird, ist ein Verständnishorizont, den wir in der Lektüre eines Werkes finden, immer auch ein Stück weit eine Koproduktion von Autor und Leser.[29] Wagen wir hier vielleicht sogar noch die Metamorphose: Als referierte und tradierte Lehre genommen stirbt jedes Werk. In den produktiven Interpretationen seiner Leser vollendet es sich immer wieder neu.
JÖRG EWERTOWSKI, geb. 1957 in Zweibrücken, absolvierte eine Ausbildung zum Goldschmied und arbeitete in diesem Beruf, bevor er ein Studium der Philosophie, Germanistik, Theologie und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main aufnahm. Von 1994 bis 2024 leitet er die Bibliothek des Rudolf Steiner Hauses in Stuttgart. Er promovierte 1997 über F.W.J. Schelling mit seiner Dissertation: ›Die Freiheit des Anfangs und das Gesetz des Werdens‹. Seither zahlreiche Publikationen u.a.: ›Die Entdeckung der Bewusstseinsseele – Wegmarken des Geistes‹ (Stuttgart 2007) und ›Blindgeboren – Zwischen Fundamentalismus und Relativismus‹ (Stuttgart 2024).
[1] Friedrich Schiller: ›Xenien‹, in ders.: ›Sämtliche Werke, Bd. 1‹, München 1962, S. 262. Erstdruck in: ›Musenalmanach für das Jahr 1797‹
[2] Vgl. Immanuel Kant: ›Kritik der reinen Vernunft‹, hrsg. von Albert Görland, Berlin 1923 S. 78 (B71-72) und S. 118f (B139-145), ferner ders.: ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹, in ders.: ›Gesammelte Schriften Bd. IV‹, Berlin 1900ff. (Akademie- Ausgabe), S. 389.
[3] »Der Begriff eines Noumenon, d.i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, dass sie die einzige mögliche Art der Anschauung sei.« – Immanuel Kant: ›Kritik der reinen Vernunft‹, S. 221 (B309-311).
[4] A.a.O., S. 219 (B306-307).
[5] A.a.O., S. 222 (B311-313).
[6] »Wenn der Mensch, ohne die Begegnung mit dem ›Hüter der Schwelle‹ zu haben, die geistig-seelische Welt betreten würde, so könnte er Täuschung nach Täuschung verfallen. Denn er könnte nie unterscheiden, was er selbst in diese Welt hineinträgt und was ihr wirklich angehört.« – Rudolf Steiner: ›Die Geheimwissenschaft im Umriss‹ (GA 13), Dornach 1989, S. 381.
[7] Beispielsweise: »Wenn man aber durchmacht, was jetzt hier gemeint ist, dann tritt man aus dem Raum selber hinaus, dann hört der Raum auf, für einen eine Bedeutung zu haben; man verlässt den Raum und man ist dann nur noch in der Zeit. Sodass bei einem solchen Verlassen des Leibes das Wort aufhört, einen Sinn zu haben: Ich bin außerhalb meines Leibes – denn das Außerhalb bedeutet ein räumliches Verhältnis.« – Vortrag vom 10. April 1914 in ders.: ›Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt‹ (GA 153), Dornach 1997, S. 94. Zum Aktiv-Werden der Wahrnehmungen vgl. a.a.O., S. 23.
[8] Vgl. Dietrich Rapp: ›Tatort Erkenntnisgrenze. Die Kritik Rudolf Steiners an Immanuel Kant‹, Heidelberg 2012, S. 23f.
[9] Vgl. Rudolf Steiner: ›Philosophische Schriften‹, Schriften, Kritische Ausgabe (SKA) Band 2, hrsg., eingeleitet und kommentiert von Christian Clement, mit einem Vorwort von Eckart Förster, Stuttgart/ Bad Cannstatt 2016, S. VIII.
[10] Vgl. Immanuel Kant: ›Kritik der reinen Vernunft‹, S. 61f. (A 42 - 44). An dieser Stelle spricht Kant erstmals von »Dingen an sich selbst«.
[11] Vgl. Friedrich Albert Lange: ›Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart‹, Iserlohn & Leipzig 1875, Bd. 1, S. 48 und Bd. 2, S. 402f. Zur Bedeutung von Liebmann und Lange vgl. ferner Andrzej J. Noras: ›Geschichte des Neukantianismus‹, Berlin u.a. 2020, S. 200, speziell zu Liebmann vgl. Harald Schwaetzer: ›Otto Liebmanns kritische Metaphysik‹, in ders. (Hrsg.): ›Otto Liebmann. Die Klimax der Theorien‹, Hildesheim 2001, S. XXll.
[12] Vgl. Andrzej J. Noras: op. cit., S. 209.
[13] Ernst Cassirer: ›Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit‹, Berlin 1907, S. 590.
[14] Vgl. Martin Heidegger: ›Kant und das Problem der Metaphysik‹, Frankfurt a.M. 1991, S. 34f.
[15] Ebd. S. 230.
[16] Erich Adickes: ›Rudolf Steiner, Vorspiel einer ›Philosophie der Freiheit‹, in: ›Deutsche Literaturzeitung‹ Nr. 5 (1894), S. 132.
[17] Hartmut Traub: ›Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners – Grundlegung und Kritik‹, Stuttgart 2011.
[18] Dietrich Rapp: op. cit. S. 16.
[19] Iso Kern: ›Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und dem Neukantianismus‹, Den Haag 1964. Vgl. Christian Grauer: ›Am Anfang war die Unterscheidung. Der ontologische Monismus. Eine Theorie des Bewusstseins im Anschluss an Kant, Steiner, Husserl und Luhmann‹, Frankfurt a.M. 2007, sowie Dietrich Rapp: ›Erkenntnisgründung. Der Grundgedanke von 1911 bei Steiner und Husserl‹, in: ›Das Goetheanum‹ 14/2011.
[20] »Der entscheidende Unterschied zwischen den herkömmlichen Naturwissenschaften einerseits und einer Geisteswissenschaft bzw. phänomenologisch orientierten Naturwissenschaft andererseits besteht darin, dass Letztere einen über das Sinnliche hinaus erweiterten Erfahrungs- und Anschauungsbegriff zugrunde legt, der auch die übersinnliche Erfahrung und Anschauung einschließt. Diesen erweiterten Erfahrungs- und Anschauungsbegriff teilt die Geisteswissenschaft mit einem phänomenologischen Ansatz von Edmund Husserl, der in seinem Werk ›Logische Untersuchungen‹ (1900/01) auch von ›kategorialer Anschauung‹ spricht, in der nicht das Sinnliche sondern Allgemeinheiten und Ideen zur Anschauung kommen.« – Iris Henningfeld: ›Erkennen in veränderter Zeitlage. Wie sich die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie philosophisch begründen lässt‹, in: ›Das Goetheanum‹ 43/2018, S. 7
[21] Der Begründer der philosophischen Hermeneutik ist Hans Georg Gadamer. Er knüpft an Heidegger an, aber auch an Wilhelm Dilthey. Vgl. Hans Georg Gadamer: ›Wahrheit und Methode‹, Tübingen 11960.
[22] Erich Adickes: ›Kant contra Haeckel. Für den Entwicklungsgedanken gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus‹, Berlin 2. erweiterte Aufl. 1906.
[23] Wilhelm Dilthey: ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹, 11883. Zur Beziehung zwischen der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und der Diltheys vgl. Johannes Kiersch: ›Empirische Naturwissenschaft, Diltheys Hermeneutik und die Wissenschaftstheorie Rudolf Steiners in »Von Seelenrätseln«‹, in: ›Wissenschaftskolloquium 1984. Der Bildungswert des wissenschaftlichen Unterrichts in der Waldorfpädagogik - Wissenschaft und Anthroposophie‹, Stuttgart 1991, sowie Jörg Ewertowski: ›Anthroposophie als Geisteswissenschaft. Rudolf Steiners Geistbegriff vor dem Hintergrund von Aristoteles, Kant, Brentano und Dilthey‹, in Rahel Uhlenhof (Hrsg.): ›Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart‹, Berlin 2012.
[24] Hier gibt es eine Nähe zum Goetheanismus. Zur Beziehung zwischen Goethe und Kants Kritik der Urteilskraft sowie deren Bedeutung für aktuelle Strömungen der Biologie und Naturphilosophie vgl. Christoph J. Hueck: ›Kant, Goethe, Steiner und die Wissenschaft des Lebendigen‹, in: DIE DREI 2/2024.
[25] Vgl. das Kapitel ›Urteilskraft und reflektierende Interpretation‹ in Rudolf A. Makkreel: ›Einbildungskraft und Interpretation: Die hermeneutische Tragweite von Kants »Kritik der Urteilskraft«‹, Paderborn u.a. 1997, S. 144ff.
[26] Vgl. Georg Picht: ›Kunst und Mythos‹, Stuttgart 1986, S. 149ff.
[27] Vgl. Jörg Ewertowski: ›Blindgeboren – Zwischen Fundamentalismus und Relativismus‹, Stuttgart 2024.
[28] Rudolf Steiner: ›Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel zu einer »Philosophie der Freiheit«‹ (GA 3), Dornach 1980, S. 70.
[29] Vgl. die Kontroverse über die Frage, ob Steiners Ausführungen als Hypothesen aufgefasst werden sollten in der Vierteljahresschrift ›Anthroposophie‹ von Weihnachten 2022 bis heute.