Pandemie – eine menschheitliche Bedrohung
Artikel aus der Zeitschrift „Anthroposophie“, Ostern 2021.
Als ich als Jugendlicher eine USA-Reise machen wollte, musste ich eine Pockenimpfung nachholen, die ich als «Waldorfkind» nicht bekommen hatte. Es war damals üblich, dass man nur mit dem Impfstempel ein Einreisevisum erhielt. Heute sind die Pocken kein Thema mehr, außer vielleicht bei Abwehrszenarien einer perfiden biologischen Kriegsführung. Die Pocken wurden quasi ausgerottet und in Hochsicherheitslabors eingeschlossen. Nicht zuletzt dieser Erfolg hat weitere Impfpläne nach sich gezogen, die vielleicht weniger aussichtsreich verlaufen. Auch andere schwere Erkrankungen, wie z. B. die Hepatitis B, konnten durch Impfungen deutlich reduziert werden. [1] Und heute: Ein Schnupfenvirus aus dem Tierreich ist auf den Menschen übergegangen. Jetzt, im Februar 2021, befinden wir uns in der Lage, dass die Krankenhäuser eine erhebliche Belastungswelle so gerade eben überstanden haben. Im Herbst letzten Jahres, als die Menschen sich mehr in die Innenräume begaben, traten immer mehr Infektionen auf. Es kam der Gipfel der sogenannten zweiten Welle, die sich in grafischen Darstellungen deutlich verdeutlichen lässt. Auch eine damit verbundene Übersterblichkeit lässt sich zeigen, wobei die Daten aus Deutschland deutlich hinter denen anderer Länder zurückstehen. Aktuell werden die Aktivitäten der Mutanten aus England, Südafrika und Brasilien beobachtet und deren Auswirkungen befürchtet. Der derzeitige Lockdown bei fallenden Inzidenzwerten besteht vermutlich zurecht weiter. Wenn dieser Artikel gedruckt vorliegt, wird man diesbezüglich etwas mehr wissen. Wir sind einem Naturereignis ausgesetzt, das in seiner zufälligen, unsichtbaren und heimtückisch anmutenden Dynamik zu globalen Verwirrungen führt. Wie soll ein nicht wissenschaftlich ausgebildeter Mensch das alles verstehen? Und wie unterscheidet man einen wissenschaftlichen Diskurs vom Gefecht der Meinungen?
Systemische Reaktionen
Mir hat sich in diesem Zusammenhang ein Beobachtungsfeld geöffnet, das sich als Herausforderung herausgestellt hat: die menschlichen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Pandemie, die staatlichen Eingriffe, die eigenen Reaktionen und die meiner Umgebung. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sehr oft Reflexe aus dem Raum der systemischen Gemeinschaftsdynamik eine Hauptrolle spielen. Alte Muster werden aktiv, wenn unklare Bedrohungen das Umfeld bestimmen. Die Bedrohung des Lebens und der Gesundheit ruft alte Überlebensstrategien auf den Plan. Das Reservoir an möglichen Reaktionen hat aber vermutlich schon vorher in uns geschlummert und breitet jetzt seine ganze Palette im öffentlichen Leben aus: Unbekümmertheit, Verharmlosung, Nicht-wahr- haben-Wollen und Dissoziation auf der einen Seite. Auf der anderen Seite Management, Kontrolle, Angsterzeugung, Überwachung, Versagensangst, Machtausübung. Beides, obwohl diametral entgegenstehend, sind Versuche, die Situation irgendwie zu bewältigen. Hinzu kommen ängstliche Folgsamkeit, blanke Angst und Aggression aus Angst. Und allenthalben herrscht Verwirrung. Verwirrung über die kaum zu verarbeitende Informationsflut samt der Verbreitung alternativer Fakten. Was wir da vor uns haben, ist das ganze Spektrum menschlichen erdgebundenen Fühlens und Sorgens. Es fehlten Kraft und Helligkeit geistiger Zuversicht und die innerlichsten Verletzungen der Menschseelen zeigen sich in verdunkelten Schattierungen. Wohl jede Pandemie hat eine solche Dynamik, wenn auch unterschiedlich. In jeder Nation entwickelt sich auf unterschiedliche Weise ein Panoptikum spezifischer Reaktionsformen. Im deutschsprachigen Raum haben der 2. Weltkrieg, der Nationalsozialismus und die kommunistische Diktatur ein transgenerationales Trauma hinterlassen, das durch das Wirtschaftswunder und die Wiedervereinigung allenthalben betäubt, aber nicht verarbeitet und geheilt worden ist. Aus den Tiefen solcher Verletzungen blickt die Gesellschaft nun in den Abgrund einer neuen Bedrohung und die beinah schon vergessenen Ängste vor Gewalt, Unterdrückung, Bevormundung um des vermeintlichen Heils willen und auch persönliche Daseinsängste treten unvermittelt und gewaltsam hervor.
Wir stehen so vor dem ausgebreiteten Inneren unserer selbst und dem unserer Mitmenschen wie an einem Abgrund. Wer hat nicht in den vergangenen Monaten auch die Erfahrung machen müssen, dass ein – vielleicht sogar vertrauter – Mitmensch argumentativ nicht mehr erreichbar ist? Unverständnis kommt auf und in der Folge Entfremdung und Konflikt. Das menschliche Ich als Instanz der Urteilskraft, der Nüchternheit und der Liebefähigkeit kann aber doch weiterhelfen. Es ist die einzige Instanz, die in der Lage ist, all die Verletztheiten der eigenen Person anzunehmen und zu integrieren. Die Wogen des Seelenlebens können nur vom denkenden Geist aus dem Ich heraus zur Ruhe gebracht werden. Im Buch «Die Schwelle der Geistigen Welt» wird dies von Rudolf Steiner entwickelt.[2] Und in einem Wahrspruchwort heißt es:
Wenn Ruhe der Seele Wogen glättet
Und Geduld im Geist sich breitet
Zieht der Götter Wort
Durch des Menschen Inneres
Und webt den Frieden
Der Ewigkeiten
In alles Leben
Des Zeitenlaufs.[3]
Solche Worte geben uns Orientierung in dieser Zeit. Die Pandemie ist ein Naturereignis und doch wirkt sie anders als ein reines Naturereignis. Eine Flut oder ein Sturm sind eine vergleichsweise «objektive Macht», die anzuklagen für den aufgeklärten Menschen sich nicht anbietet, obgleich in unserer Zeit die Klimaschutzdebatte auch dies berechtigterweise ins Spiel bringt. Das Trauma einer Naturkatastrophe kann auf gewisse Weise «besser» verdaut werden als das einer Pandemie, an deren Ursprung Menschen auf unklare Weise gegebenenfalls beteiligt gewesen sind. Damit tritt in dem Bemühen um eine Erklärung und eine Verarbeitung eine ganz andere Bewegung ein. Es wird ein Blick in den gefürchteten Abgrund der Menschheit und der gegenwärtigen Zivilisationsform geworfen. Dies kann als eine Art gemeinsamen Schwellenerlebnisses beschrieben und verstanden werden. Bei genauerer Betrachtung stehen wir auf dreifache Weise am Abgrund: an einem seelischen Abgrund, an einem Abgrund, der sich in den daraus folgenden äußeren Verhältnissen zeigt, und an einem Abgrund in Bezug auf das Erkenntnisleben.
Anthroposophie als Brücke
Als geisteswissenschaftlicher Weg kann Anthroposophie die Brücke über diese Abgründe aufzeigen. Dies beginnt mit der gesunden Urteilskraft, geschult an der Naturwissenschaft, speziell an der goetheanistischen Naturwissenschaft. Ihre Haupttugend besteht im Zurückhalten des Urteils und im geduldigen Zusammentragen von allem, was zur Sache gehört und in die Beurteilung einfließen muss. Es bedarf einer im goetheschen Sinne objektiven Urteilsbildung.
Mit Blick auf die gegenwärtige Pandemie kann gesagt werden, dass die alleinige Fokussierung auf das Virus allerwichtigste Dinge ausblendet. Es müsste viel mehr zusammengetragen werden, um überhaupt den Überblick gewinnen zu können. Die «Menge der Daten» ist im Fall der Pandemie riesig. Was tun? Was ist überhaupt dazuzuzählen? Natürlich kann diese Betrachtung die gestellte Aufgabe kaum erfüllen. Es kann aber wohl eine Sammlung von Gesichtspunkten, die gerade aus der Anthroposophie heraus dazugehören müssen, vorgestellt werden. Es muss uns der Schritt gelingen, die naturwissenschaftlichen Aspekte der Pandemie so anzuschauen wie die gesellschaftlichen und die persönlichen. Betrachtungen über den Einfluss auf Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben gehören ebenso dazu.
Epidemiologie
Es ist wichtig und richtig, regelmäßig die epidemiologischen Daten anzusehen. Es sind hauptsächlich Ältere, die sterben können, aber nicht nur. Die Sterblichkeit (Mortalität) ist immer noch nicht klar. Der einzige Wert, der hinreichend etwas aussagt, ist die Anzahl der Verstorbenen / positiv Getesteten: Er liegt jetzt (mitten im Prozess) bei ca. 2,7 %.[4] Eigentlich müsste man die Zahl der positiv Getesteten von vor 3 Wochen auf die heutige Zahl der Verstorbenen beziehen, dann wäre die Zahl noch etwas höher, aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass das Szenario einer Durchseuchung ohne Schutzkonzepte nicht leicht zu Ende zu denken ist, weil sich etwas in uns sträubt, das zu akzeptieren. Von gut 80 Millionen Einwohnern in Deutschland gehören ungefähr 20 Millionen der Gruppe an, die ein Risiko hat, einen schweren Verlauf zu entwickeln. Dieser Umstand ist den demografischen Tatsachen einer alternden Gesellschaft geschuldet. Die Zahl der potenziell vom Tod Bedrohten liegt geschätzt im niedrigen siebenstelligen Bereich. Diese Angabe stützt sich auf die bisher generierten Zahlen. Eine Epidemie, die in etwa einem knappen Jahr ohne Intervention durchlaufen würde, müsste Verhältnisse schaffen, die die gesamte gesellschaftliche Stabilität in Frage stellen. Daher bin ich überzeugt, dass die gegenwärtigen Schutzkonzepte (über deren Ausgestaltung im Detail sicherlich diskutiert werden kann) nicht der Abschaffung der Demokratie, sondern ihrer Erhaltung dienen. Dem wird oft entgegengehalten, dass diese Sichtweise sehr hypothetisch und im Übrigen die Statistik nicht immer verlässlich sei. Diesem Einwand kann ich nur entgegnen, dass ja die Befürchtung hypothetisch sein mag (wenngleich auch hier Beispiele in nicht allzu entfernten Nachbarländern wie Italien, Spanien, Portugal usw., das traurige Gegenteil zeigen), aber zugleich ist sie zum Glück bisher nur hypothetisch. Keiner will es auf den realen Fall ankommen lassen.
COVID-19
Es ist interessant, COVID-19 einmal qualitativ zu beschreiben.[5] Die Erkrankung hat einen Zeitorganismus. Im Wesentlichen entwickelt sie sich in 9-Tage-Schritten. Die Inkubationszeit schwankt zwischen 5 und 14 Tagen. Die erste Phase dauert ungefähr 7–9 Tage und ist in der Regel noch geprägt von bekannten Symptomen: schlechte Laune (der Sinn für das Wahre, Schöne und Gute geht verloren), leicht erhöhte Temperaturen, Frieren, Kältegefühl, Gliederschmerzen, Schnupfen, Geruchs-/Geschmacksverlust, dann Fieber ab dem 5. Tag, Benommenheit, mentale Einschränkungen, Müdigkeit, Schläfrigkeit, leichter trockener Husten. Um den 9. Tag ist eine Krisis, die entweder zur Gesundung führt oder aber in einen verlängerten oder schweren Verlauf mündet mit Husten und Entzündungen innerer Organe: Lunge, Niere, Herz, Gehirn, Leber. Der Tod kann etwa ab dem 18. Tag, gerechnet nach dem Beginn der Symptome, eintreten. Natürlich kann dieser Rhythmus durch individuelle Umstände oder durch Interventionen auch anders verlaufen. Es kann eine lange Erholungsphase folgen, evtl. über Wochen oder Monate, mit Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Interesselosigkeit, Schlafbedürfnis. Mit dem Geruchssinn kommt meist auch das Interesse wieder und auch die mentale Einschränkung schwindet dann langsam. Trotzdem ist das Post- oder LongCOVID-19-Syndrom bislang unerklärt und es treten nicht selten Komplikationen auf, die auch junge Menschen betreffen und die sich über Monate hinziehen können.
Es ist möglich, auch eine Erkrankung auf ihre Wesenhaftigkeit zu befragen. Wir können versuchen, ihre Wesensglieder zu unterscheiden:
- Die physische Erscheinung, die als leibliches Korrelat unter dem Elektronenmikroskop als Virus sichtbar gemacht wird.
- Eine ätherische Organisation, die sich im zeitlichen Verlauf der Erkrankung äußert und sich den Kräften des menschlichen Ätherleibs bedienen muss, um sich darzuleben.
- Eine seelische Qualität, die das freischwingende Gefühlsleben des Menschen verändert im Sinne einer typischen Verengung und Unfreiheit. Eine Begegnung mit einer eigenen Dunkelheit im Innerseelischen als Konfrontation.
- Schließlich ein Geistiges, das intentionalen Charakter hat und dem Menschen Hindernis und Widerstand bietet.
Daraus ist ableitbar, dass die Aussage «Der Verlauf ist wie bei einer Grippe» bis zum 8./9. Tag, richtig ist. Aber dann kann es besser werden oder nicht. Diese beiden Phasen müssen also unterschieden werden. Das Krankheitsgeschehen ab dem 9. Tag bestimmt das politische Handeln: Dann kommt die Luftnot, die erst einmal nicht richtig bemerkt wird, und dann muss es plötzlich schnell gehen, weil Sauerstoff gebraucht wird. Diese dritte Phase ist die SARS-Phase (SARS: severe acute respiratory syndrome; deutsch «Schweres akutes Atemwegssyndrom»). Im Rückblick frage ich mich, warum nicht gleich von SARS-2 gesprochen wurde, sondern von Corona. Das hat viele Missverständnisse ausgelöst. Wollte man Angstreaktionen vermeiden?
Ahrimans Wirken und der Materialismus
Wenn wir die Aussagen Rudolf Steiners zur Epidemie sichten, kommen viele Gesichtspunkte zum Tragen. Einer davon ist, dass die materialistische Weltauffassung und eine gewisse Verlogenheit unserer Zivilisation solche «Bazillenkrankheiten» weiter auf den Plan rufen werden.[6] Mit diesen Bazillen, wie es früher hieß, schickt uns die ahrimanische Gewalt Wesen, die uns plagen. Im Gegenzug erfinden wir mit ahrimanischer Intelligenz mRNA-Impfstoffe (mRNA: messenger ribonucleic acid, deutsch Boten-RNS), die uns ein Leben in Frieden vor diesen Biestern versprechen. Damit hat Ahriman erreicht, dass alles so bleiben kann, wie es ist, oder wie er es haben möchte.[7] Die Viren sind Bruchstücke genetischen Materials, die ausschließlich mit Hilfe parasitärer Nutzung des menschlichen oder tierischen Organismus eine Existenz haben und gegen die unser Immunsystem rebelliert. Unser genetisches Material, die eigentlichen Vererbungskräfte, die mit diesen Substanzen verbunden sind, ist ja eine Verfestigung in unserem Leibe, die auch einem ahrimanischen Einfluss aus ferner Vergangenheit zu verdanken ist. Über diese Leibbindung müssen wir im Inkarnationsprozess hinauskommen. Die Geistseele macht sich ihren Vererbungsleib, der von den Eltern herrührt, gefügig, so gut es gelingt.[8] Mit einer viralen Erkrankung wird unser Geistseelisches aktiv und versucht sich Wirkungsraum im Leibe zu verschaffen, indem es diesen Leib unter Fieber und Weh umbaut und sich gefügig macht. Das kann im Falle von COVID-19 auch einmal mit der Zerstörung des Leibes enden.
Zur Immunitätsfrage
Man kann sehr wohl impfen, die Frage ist nur, was mache ich innerlich, geistig-seelisch als Ausgleich, wenn ich mir die Erkrankung erspare? Wenn wir gemeinsam in den Abgrund blicken: Was kann getan werden im Inneren, dass sich dann auch im Außen etwas ändern kann? Wie kann ich so gesund werden, dass ich immer unabhängiger werde von den leiblichen Konditionen des Infiziert-werden-Könnens? In dem Zusammenhang hat es mich immer gewundert, wieso Rudolf Steiner den Jungmedizinern 1924 erklärt hat, was die inneren Konditionen zur Immunisierung gegenüber z. B. der Pockenerkrankung sind.[9] Mir scheint, was in diesem Vortrag vor fast 100 Jahren vorgebracht wurde, ist für uns wie ein Modell für die Zukunftsentwicklung: Die meditative Erarbeitung von realen Imaginationen ist ein geistseelisches Heilmittel. Im Falle der Pocken ist es die Imagination des Tierkreises in seinem weiblichen und seinem männlichen Aspekt. Steiner spricht es so aus, dass dieser Erkenntnisgewinn aber nicht einfach ein Gedanke der alltäglichen Art ist, sondern eine unter seelischen Schmerzen gewonnene reale Sicht auf den Kosmos. Das ist etwas anderes als das, was wir gewohnt sind. Damit ist auch das Potenzial von COVID-19 beschrieben. Damit ist auch beschrieben, dass die Berufung auf ein gutes Immunsystem das Eine ist, der reale Fortschritt in der Schulung von Imaginationen ein Anderes.
Der gesundenden Kraft der geisteswissenschaftlichen Arbeit kommt so eine neue und sehr reale, ja existenzielle Bedeutung zu: Ihr intensives Erüben bringt unser Geistiges real in Verbindung mit dem Geistigen in der Welt, wie es im ersten Leitsatz lautet. Daraus folgt Gesundung der Weltverhältnisse durch den gesundenden Menschen.
Unter diesem Aspekt eröffnet sich der Blick auf das Geistesleben als dem Ernährungsorgan des sozialen Organismus. Die Isolationen bringen eine soziale Unterernährung mit sich und damit ein nicht-heilsames Prinzip in die Krisenbewältigung. Es bietet sich hier aber die Chance zu erkennen, dass die gelingende menschliche Begegnung ein Heilmittel sein und immer mehr werden kann.
Zur Impffrage
Der Gewinn von Lebenszeit zur Arbeit an der Selbst- und Welterkenntnis durch eine Impfung kann wichtig sein. In einer wirklichkeitsgemäßen Abschätzung der Ressourcen unserer Gesundheit ist es wohl so, dass wenige so gesund sind, dass COVID-19 sie insbesondere im höheren Alter nicht betrifft. Das verdient Schutz, in welcher Form auch immer. Aber wie wirken die so rasch und überraschend entwickelten Impfstoffe und wie kann das aus der derzeitigen Sicht beurteilt werden? Es sind gerade wenige Monate zu überschauen, die in der Pharmakovigilanz (Arzneimittelsicherheit) intensiv beobachtet werden. Mit der Entwicklung der mRNA-Technologie betreten wir aber mit einiger Sicherheit eine neue Ära des Impfens überhaupt. Die Frage nach den Langzeitfolgen stellt sich bei diesen Impfstoffen noch anders, als wir es von z. B. den Grippe-Impfstoffen kennen, denn die Inhaltsstoffe sind gegenüber den konventionellen Impfstoffen deutlich übersichtlicher. Die neuen Impfstoffe bestehen quasi nur aus der in Lipide (wasserunlösliche Naturstoffe) ein gekapselten mRNA und einer Suspensionsflüssigkeit, in der die Lipid bläschen schwimmen. In dieser Flüssigkeit ist Polyäthylenglykol (PEG) enthalten, das auch sonst in Arzneimitteln verwendet wird, gegen das aber allergische Reaktionen auftreten können. Daher sollen schwer allergische Menschen zunächst damit nicht geimpft werden. Bei den Langzeitfolgen ist in den Monaten seit der Verwendung nichts aufgetreten, was nicht schon bekannt war. Die in der Presse genannten Todesfälle sind auf die schweren Grunderkrankungen sehr alter Menschen zurückzuführen – und ich frage mich, wie man auf den Gedanken kommen kann, solche Menschen überhaupt zu impfen. In solchen Fällen ist der Impfeingriff sicher eine Überforderung und damit eine Kontraindikation. Um zu verstehen, wie die Wirkungsweise ist, braucht es etwas «Biologie der gymnasialen Oberstufe»: Die mRNA wird normalerweise im Zellkern gebildet durch den Prozess der Transkription, also ein Umschreiben der Erbinformation von der DNA auf die RNA. Mit einer Zusatzinformation wird diese RNA zum Botenstoff: der mRNA, die den Zellkern verlässt und im Zellplasma zu den Ribosomen gelangt. Dort wird sie direkt eingesetzt und im Prozess der Translation in eine Reihe von Aminosäuren übersetzt. Danach zerfällt sie innerhalb von Tagen. Diese Reihe von Aminosäuren bildet in diesem Prozess die chemische Grundstruktur der Eiweiße. Durch Faltungs- und Reifungsschritte wird daraus ein funktionsfähiges Eiweiß.
Wenn nun mRNA als Impfstoff verwendet wird, dann wird sie im Zellplasma direkt an den Ribosomen in die Translation eingeführt. Die Codierung dieser mRNA enthält den Grundbauplan für bestimmte Oberflächenstrukturen des Virus. Das so entstandene Viruseiweiß wird aus der Zelle ausgeschieden und außerhalb der Zelle den Angriffen unseres Immunsystems ausgesetzt. Der dadurch ausgelöste Lernprozess des Immunsystems ist die Immunisierung. Mit dem mRNA-Impfstoff wird also nicht wie zuvor eine Virusoberflächen-Eigenschaft direkt geimpft, sondern deren Bauplan. Das hat Konsequenzen für den ganzen Herstellungsprozess des Impfstoffs. Der Herstellungsprozess ist, wie die Hersteller anmerken, eigentlich vegan, d. h. es werden nicht wie sonst Hühnerembryonen zur Züchtung der Viren genommen. Die mRNA entsteht in einer zellfreien Retorte.
Es wurde immer wieder behauptet, dass die Impfung unser Erbgut verändern könne. Das ist nicht der Fall, weil es im Menschen keinen Katalysator für die Rückübersetzung von RNA in DNA gibt. Was die Impfung nicht kann, kann aber wohl in Teilen das Virus. In jüngeren Arbeiten wurde festgestellt, dass die Virusinfektion Spuren in der DNA hinterlassen kann, obwohl das Corona-Virus kein Enzym für die Rückübersetzung von RNA in DNA besitzt. Darin unterscheidet es sich vom HI-Virus, das eine sogenannte reverse Transskriptase hat, mit deren Hilfe es sich in die DNA des Wirts einschleusen kann. Die Fehlinformation an diesem Punkt ist, dass für das Virus gelten kann, was für die Impfung nicht gilt. Die Wirkungen der Impfung gehen nicht in die DNA über.
Eine weitere wichtige Frage ist, wie die mRNA in die menschliche Zelle hineingebracht werden kann. In dem Zusammenhang hat sich in den letzten Jahren eine pharmakotechnische Neuerung entwickelt, die auch in Verbindung mit der Mistelforschung steht. Mit Hilfe von oligomolekularen Lipidmembranen können Trennungselemente in wässrigen Suspensionen hergestellt werden. So wird die mRNA in solche Lipidkügelchen eingeschlossen, deren Durchmesser im Nanometer-Bereich liegen. Diese Hohlkörperchen sind in der Lage, an Zellmembranen anzudocken und ihren Inhalt in die Zelle zu entlassen. Diese Möglichkeit besteht nun für viele Substanzen, sei es Mistelsaft, seien es andere onkologisch wirksame Substanzen. Das ist ein wesentlicher Punkt, warum die Impfstoffentwicklung in eine neue Ära übergeht. Ein anderer Punkt ist, dass die Anpassung von Impfstoffen durch leichte Veränderungen in der mRNA innerhalb von Wochen vollzogen werden kann. Auch das eröffnet völlig neue Perspektiven.
Mit dieser neuen Technologie eröffnen sich aber nicht nur neue Perspektiven, sondern auch gewaltige ethische und menschliche Entwicklungsfragen. Da wir womöglich in absehbarer Zeit einfach alles werden wegimpfen können, wird dem Menschen ein quasi «hindernisfreies» Leben beschert. Die Erfahrung des ErkrankenKönnens ist aber aus anthroposophischer Sicht ein evolutionierendes Element des Menschendaseins. Die Hinweise Rudolf Steiners hinsichtlich des Impfens enthalten alle die Frage: Was tue ich innerlich, pädagogisch oder in der Selbsterziehung, um gegenüber dem Ersparen einer Erkrankung die innere Entwicklung dennoch voranzubringen? Das eine kann nur in Freiheit vollzogen werden, eine Erkrankung ist demgegenüber eine Zwangslage. Der Sinn der Menschheitsentwicklung erfüllt sich aber nicht durch den Erfindungsreichtum, es sich noch bequemer zu machen – das sind die Ausläufer der Verstandesseele, die es in unserer Zeit neu zu integrieren gilt.
Die Pandemie stellt uns mit aller Deutlichkeit mithilfe des oben genannten Abgrunds vor unsere tiefsten Entwicklungsfragen. Diese Entwicklungsfragen sind in eminentem Sinn individuelle Fragen, die wir aber als Gemeinschaft erleben. Wir brauchen zur Lösung das Gespräch unter Menschen, wir brauchen das Bewegen der gemeinsamen Entwicklungsfragen und dann die individuelle Entscheidung, für sich und andere. Denn meine Impfentscheidung hat immer auch konkrete Folgen für meinen Nächsten: Das Individuum und die Menschheit, so lautet die Anforderung.
In die Impfentscheidung fließen viele Gesichtspunkte ein. Wichtig ist mir der Hinweis, dass die eigenen Ressourcen im Hinblick auf das Überstehen-Können einer Krankheit nicht selten überschätzt werden. Weiter erfordert die gesellschaftliche Gesamtsituation ein entschiedenes Handeln, vor allem, um unsere Kinder zu schützen. Vielleicht können sich die Erwachsenen impfen lassen, um ihrer Kinder willen, damit endlich der Schulbetrieb und das soziale Miteinander der Kinder wieder in die Bahnen kommen. Die Meinung, jetzt auch noch Kinder impfen zu wollen, teile ich in dieser Pandemie in keiner Weise. Und ja, die ältere Generation ist klug genug für sich selber zu schauen. Diese Pandemie ist keine Kinder-, sondern eine Erwachsenenangelegenheit. Die Erwachsenen sollten sich nicht ihren Kindern in den Weg stellen mit ihren eigenen Bedürfnissen. Gleichwohl war es richtig, diejenigen zuerst zu impfen, die gefährdet sein könnten. Was dann kommt, muss im gesellschaftlichen Diskurs entwickelt werden.
Ausblick
Wir müssen damit rechnen, dass die Lebenserwartung in den europäischen Gesellschaften messbar sinkt. Nach meiner Einschätzung ist die Pandemie im Sommer 2021 vermutlich nicht zu Ende. Anders als die Pocken lassen sich Corona-Viren nicht einfach so ausrotten. Aller Voraussicht nach muss im nächsten Winter wieder mit Infektionswellen gerechnet werden, möglicherweise auch in den weiter folgenden Wintern. Da wir nicht wissen, wie lange die Immunisierung durch die aktuellen Impfstoffe vorhält und ob diese in einem Jahr noch gegen die dann zirkulierenden Varianten wirken, bleiben die Prognosen unsicher. Die Impfungen haben aber eine mildernde Wirkung auf den Gesamtverlauf und bewirken eine zeitliche Streckung des Geschehens. Das sollten wir nicht geringschätzen.
Die These, dass aufgrund von Umweltsünden und der Begegnung von Wildtier und Mensch Viren vom Tier zum Menschen übertragbar werden, ist wohl berechtigt, wenn auch noch unsicher. Die These, dass Umweltsünden zugleich eine Versündigung an uns selbst sein können, müsste sich noch verbreiten. Wenn tierische Ausscheidungsprodukte auf den Menschen übergehen können, müssen wir die IchQualität so zu stärken suchen, dass diese Assimilation einer tierischen Qualität nicht bestimmend wird. Insofern ist der Begriff «Herdenimmunität» unglücklich. Die Viren können als Symptom verstanden werden, sie sind wie ein physisches Korrelat für tierische/seelische Prozesse aufzufassen, die sich in der Projektion als Biester erleben lassen, deren Überwindung aber eine Reifung bedeuten kann. Es sind aber immer existenzielle Prozesse, die auch das Überleben des Leibes in Frage stellen können. Die imaginative Erkenntnisarbeit darf nicht unterschätzt werden, sie ist in ihrer Intensität wie ein Krankheitsprozess, der aber rein im Geistig-Seelischen verläuft und Physisch-Ätherisches unberührt lässt – und sie ist mehr als ein Nachdenken. Wir können aber festhalten: Die Verwandlung im Außen gelingt mit der Verwandlung im Inneren.
Christian Schikarski, geboren 1951 in Frankfurt/M. Dort in der Waldorfschule bis 1971. Nach diversen Praktika und drei Semestern am Priesterseminar der Christengemeinschaft Studium der Medizin in Tübingen. Als Arzt tätig seit 1983 in verschiedenen Kliniken, darunter etwa 20 Jahre am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Seit 2016 niedergelassen in eigener Praxis in Richterswil (CH).[10]
[1] Bei Kinderkrankheiten ist die Situation anders zu beurteilen. Dies kann im Gebiet der Kindermedizin besser besprochen werden.
[2] Rudolf Steiner: Die Schwelle zur Geistigen Welt. (GA 17). Darin das Kapitel «Von dem Vertrauen, das man zu dem Denken haben kann».
[3] Rudolf Steiner: Wahrspruchworte. (GA 40), Dornach 1998, S. 273 («Für Helmuth v. Moltke auf einer Photographie 11. Dezember 1915»).
[4] Die Zahlen zur Pandemie. In «Süddeutsche Zeitung» vom 5.1.2021, Rubrik «Wissen».
[5] Direkte Angehörige von mir und ich selbst haben sie durchlitten und können das erste Verlaufsstadium mit eigenen Erfahrungen belegen.
[6] Rudolf Steiner: Kosmogonie […]. (GA 94), Vortrag vom 22.6.1907.
[7] Vgl. Rudolf Steiner: Die soziale Grundforderung unserer Zeit. In geänderter Zeitlage. (GA 186), Vortrag vom 21.12.1918.
[8] Vgl. Rudolf Steiner: Heilpädagogischer Kurs. (GA 317), Vortrag vom 25.6.1924.
[9] Rudolf Steiner: Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst. (GA 316), Vortrag vom 9.1.1924