„Soll man vielleicht in die Luft schießen?“
Rudolf Steiner und der Pazifismus. Ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift DieDrei.
Während des Ersten Weltkriegs kritisierte Rudolf Steiner mit deutlichen Worten die Parolen mancher Friedensfreunde. Es gebe verblendete Menschen – »sie nennen sich oftmals auch Pazifisten« – die scheinbar höchste Ideale verkünden und »einen dauerhaften, ganz vollkommenen Frieden« anstrebten. Allerdings mit militärischen Mitteln. Wer sage, er »kämpfe für den Frieden und müsse deshalb Krieg führen, Krieg bis zur Vernichtung des Gegners, um Frieden zu haben«, der rede nicht nur Unsinn, sondern lüge.[1] Bei anderer Gelegenheit wies Steiner auf einen Ausspruch des französischen Germanistikprofessors Henri Lichtenberger (1864–1941) hin, der meinte, es schade nichts, wenn der Krieg möglichst lange fortgesetzt werde, wenn nur am Ende ein dauerhafter Friede zustande komme. Die vielen Todesopfer hielt Lichtenberger für unwesentlich.[2]
Seit dem Ukrainekrieg 2022 scheint dieser »militante Pazifismus « wieder auf dem Vormarsch zu sein. Selbst die linksgrüne ›Tageszeitung‹ (taz) schreibt: »Frieden gibt es erst, wenn Russland militärisch besiegt ist.«[3] Die ehemals mächtige Friedensbewegung hat im Bundestag keine nennenswerte Lobby mehr, keine feste politische Heimat.[4] Wer an diplomatische Konfliktlösungen glaubt, wird als naiv verspottet. Denn dem »Bösen« (in diesem Fall: dem russischen Aggressor) dürfe nicht tatenlos zugesehen werden. Auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung wird der Krieg kontrovers diskutiert.[5]
War Rudolf Steiner nun ein Pazifist oder nicht? Friedrich Rittelmeyer gab darauf die Antwort: »Wie [er] nicht Nationalist war im engen Sinn, so war er nicht Pazifist im flachen Sinn. Das Zeitalter des Pazifismus ist das Zeitalter der großen Kriege, sagte er wohl.«[6] In seinen Äußerungen zum Ersten Weltkrieg habe sich Steiner der jeweiligen Situation angepasst, meinte sein erster kritischer Biograf Gerhard Wehr. Daher seien diese nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.[7] Steiners multiperspektivische Sichtweise kann in der Tat widersprüchlich erscheinen. So ist es kein Wunder, wenn manche Kritiker urteilen, Steiner habe als strammer Deutschnationaler die Kriegsführung des Kaiserreichs begrüßt, das Morden auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs als notwendiges Opfer verherrlicht und einem »rigiden Antipazifismus«[8] das Wort geredet. Dem stehen andere Äußerungen entgegen, die Steiner – schon vor dem Ersten Weltkrieg – als Friedensfreund erkennen lassen. Diesen Widerspruch erklärt Markus Osterrieder so:“ Steiner wertete das Anschwellen der pazifistischen Bewegungen (parallel zu der Zunahme materialistischer Gesinnungen) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts paradoxerweise als »das deutliche Zeichen, dass wir vor dem größten Kriege der Menschheit stehen«, genauso wie er der Auffassung war, dass die Zunahme der Appelle an eine neue Sozialität in Wirklichkeit das Anwachsen entwicklungsbedingter antisozialer Triebe unter den Menschen kaschiere.[9]„
So hielt Steiner den Militärdienst für eine selbstverständliche Bürgerpflicht, die auch mit einem spirituellen Schulungsweg vereinbar sei.[10] Das hinderte ihn aber nicht, die Theosophie bzw. Anthroposophie als ein Friedensprojekt zu sehen.
Friedensprojekt Anthroposophie
Am 12. Oktober 1905 sprach Rudolf Steiner in einem öffentlichen Vortrag über Bertha von Suttner und bezeichnete darin auch die theosophische Bewegung als Friedensbewegung. Es gebe zwar Theosophen, die wie die Darwinisten von der Notwendigkeit von Kampf und Krieg überzeugt seien, doch eine »wirkliche Friedenserkenntnis ist eine solche, die nach Geist-Erkenntnis strebt, und die wirkliche Friedensbewegung ist die geisteswissenschaftliche Strömung. Sie ist die Friedensbewegung, so wie in der Praxis einzig und allein eine Friedensbewegung sein kann, weil sie ausgeht auf das, was im Menschen lebt und der Zukunft entgegengeht.«[11] Und weiter: „Da müssen wir nicht nur von Friede sprechen, den Frieden als Ideal hinstellen, Verträge schließen, Schiedsgerichtssprüche herbeisehnen, wir müssen das geistige Leben, das Spirituelle pflegen, dann rufen wir in uns die Kraft hervor, die als Kraft der gegenseitigen Hilfeleistung sich über das ganze Menschengeschlecht ausgießt. Wir bekämpfen nicht, wir tun etwas anderes: Wir pflegen die Liebe, und wir wissen, dass mit diesem Pflegen der Liebe der Kampf verschwinden muss. Wir stellen nicht Kampf gegen Kampf. Wir stellen die Liebe gegen den Kampf. Wir arbeiten an uns in der Ausgießung der Liebe und begründen eine Gesellschaft, die auf Liebe gebaut ist.[12]“
Bei einer Fragenbeantwortung am 8. Juni 1907 erklärte Rudolf Steiner: »Heute sind wir in zwei Strömungen drinnen: Erstens, um die spirituellen Strömungen aufzunehmen. Die höchste geistige Erkenntnis führt dazu. Zweitens das Böse des Egoismus zum Höchsten auszuprägen.« Die gegenwärtige Zeitepoche werde zugrunde gehen durch einen Krieg aller gegen alle: „Die Seelen sind nicht zum Bösen verdammt, die Rassen sind es. Deshalb soll der Mensch nicht an der Rasse, nicht an dem Äußeren, festhalten, sondern die Seele muss sich höher hinauf entwickeln.[…] Durch den Mars-Einfluss sind wir kriegerisch geworden. Kriege werden noch furchtbarere am Ende der 5. Kulturzeit [bis 3573 n.Chr.] stattfinden, ehe der Krieg ganz aufhört.[13]“
In Anlehnung an den ersten Grundsatz der Theosophischen Gesellschaft, den Kern einer universellen Bruderschaft der Menschheit zu bilden, ohne Unterschied von Herkunft; Glaube, Geschlecht und Hautfarbe, sagte Rudolf Steiner 1911: „Wenn wir wirklich den Wahrheitskern suchen in allen Religionen, so bedeutet er den Frieden.[…]. Die Wahrheit, sie bedeutet und bewirkt Frieden in der Welt. Und dieser Frieden, das ist die Seele der neuen Welt. Und zu dieser Seele, die als Geisteswissenschaft aller Menschen inmitten aller Erdenkultur über die ganze Erde hin walten soll, muss Anthroposophie führen. […] In der Zeit des Friedens erkennt man nicht mehr den Zweck eines Schwertes, sondern verwendet es als Pflugschar.[14]“
Am 12. März 1913 wurde Steiner gefragt, ob man in einem Krieg, der »eigentlich ein Raubzug ist«, den Gegner töten solle – »oder soll man vielleicht in die Luft schießen?« Er antwortete: »Wenn A[nthroposophie]. sich verbreitet, wird schon Frieden werden. Das Vertrauen in die Anthroposophie ist wichtiger als solche Fragen … «[15] So gab er sich noch im Juli 1914 zuversichtlich: Auch wenn die anthroposophische Bewegung noch sehr klein sei, so werde sie doch wachsen wie »eine Friedenssonne, eine Sonne der Liebe und Harmonie über die Menschen hin.«[16]
Während des Ersten Weltkrieges
Schon 1912 beabsichtigte Christian Morgenstern, Rudolf Steiner für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. In einem Brief an das Nobelpreiskomitee (der allerdings Entwurf blieb) bezeichnete er ihn als »einen der größten Förderer des Weltfriedens«. Denn: »Wenn heute jemand für die brüderliche Annäherung der Menschen an einander wirkt, so ist es dieser Mann, der allein durch seine Persönlichkeit Angehörige der verschiedensten Nationalitäten in edelstem geistigen Streben vereinigt.«[17]
In fast allen Steinerbiografien wird erwähnt, dass während des Ersten Weltkriegs im schweizerischen Dornach zahlreiche Angehörige kriegführender Nationen friedlich zusammenarbeiteten: »Für ein Völkerzusammenleben der Zukunft schuf er die Anfänge. In dem Land, in dem der Völkerbund tagte, entstand der Völkerbau, an dem während des Krieges mehr als zwölf Nationen miteinander arbeiteten: das Goetheanum.«[18]
Kurz nach Kriegsausbruch 1914 hielt Steiner in Dornach einen Erste Hilfe-Kurs ab, der als »Samariterkurs« bekannt wurde.[19]
Er war deutlich christlich motiviert und verbunden mit einem Appell an die Harmonie zwischen den Angehörigen verschiedener Nationen. Das Industrieunternehmen Lanz unterhielt in Mannheim ein eigenes Lazarett, das der Anthroposophin Helene Röchling unterstand. Das dem dortigen Pflegepersonal ausgehändigte Amulett ›Den Helfern der Heilung‹ ging auf einen Entwurf Steiners zurück.[20] Einige öffentliche Vorträge Steiners in Deutschland wurden damals auch zugunsten des Roten Kreuzes veranstaltet. Seit Kriegsbeginn spendete Rudolf Steiner regelmäßig für das österreichisch-ungarische Rote Kreuz. Im Juni 1917 wurde ihm vom k.u.k. Generalkonsul in Basel das Kriegskreuz dritter Klasse für Zivildienste verliehen.[21]
„ Am 21. Dezember 1916 erklärte Rudolf Steiner, das Weihnachtsfest habe nur dann einen Sinn, wenn man das Wort des Evangeliums »Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind!« (Lk 2,14) ernstnehme. Zwar werde die allgemeine Friedenssehnsucht derzeit angebrüllt, es sei aber zu hoffen, »daß in den Seelen Umkehr eintreten kann, und daß an die Stelle des Anbrüllens der Friedenssehnsucht christliches Empfinden, Friedenswille trete.«[22] Gleichzeitig kritisierte er die Pazifisten dafür, »möglichst unklare Phrasen unter die Menschheit zu bringen, die sich aber einschmieren in das menschliche Gefühlsleben«[23]. Man müsse den Pazifisten „entgegenstellen das Programm, den Christus der Menschheit zugänglich zu machen; dann würde Friede, dauernder Friede kommen, so weit er auf der Erde überhaupt möglich ist. […] Wir haben es sogar erlebt, daß von dem Stellvertreter Christi auf Erden ein Friedensprogamm ausgegangen ist. Aber sehr viel werden Sie da vom Christus nicht drinnen gelesen haben![24]“
In seinem eigenen Friedensprogramm war vom Christus allerdings auch nicht die Rede, jedenfalls nicht explizit. Seine an führende Persönlichkeiten der Mittelmächte gerichteten Memoranden skizzierten vielmehr jene Gedanken, aus denen er später die Dreigliederung des sozialen Organismus entwickelte.[25]
Die betreffenden deutschen und österreichisch-ungarischen Staatsmänner griffen seine Vorschläge aber nicht auf. So machte Steiner im März 1919, noch vor Abschluss des Friedensvertrags von Versailles, seine Reformvorschläge öffentlich, um dem Programm der Siegermächte ein mitteleuropäisches entgegenzusetzen: »Er sah in den Bedingungen, auf die der Versailler Vertrag zusteuerte, tendenziell eine Ursache künftiger sozialer Katastrophen.«[26] Nach dem von ihm initiierten ›Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt‹, der prominente Unterzeichner fand, kam von Württemberg aus eine Volksbewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus in Gang, die eine neue Art der Gewaltenteilung anstrebte. Wäre sie erfolgreich gewesen, hätte sie vielleicht dazu beitragen können, den Aufstieg Hitlers und einen neuen Weltkrieg zu verhindern. Nach dem Scheitern dieses Erneuerungsversuches sah Steiner jedenfalls eine düstere Zukunft voraus: »Die großen Konflikte, welche die furchtbaren Katastrophen der letzten Jahre hervorgerufen haben, sie haben einen großen Teil der Erde schon in ein Trümmerfeld verwandelt. Weitere Konflikte werden folgen. Die Menschen bereiten sich vor zu dem nächsten großen Weltkriege.«[27]
Allerdings betonte Steiner, es sei »unmöglich, von einer restlosen Lösung der sozialen Frage überhaupt zu sprechen«[28], weil es auf dem physischen Plan keine Vollkommenheit gebe und sich alles »im zyklischen Umschwunge notwendigerweise wieder vernichten wird«, weshalb »man nur in dieser relativen Weise, indem man die Entwickelungsimpulse eines bestimmten Zeitalters erkennt, auch sozial denken kann.«[29] Nimmt also der Pazifismus eine zukünftige Entwicklungsstufe der Menschheit voraus, auf der die Erde ein »Planet der Liebe«[30] werden soll, wie Steiner wiederholt gesagt hat? Für Rudolf Steiner war eine moralische Weltordnung jedenfalls notwendig an den Erwerb höherer Fähigkeiten gebunden: »Nur wenn die Menschen wollen, schreitet die Welt vorwärts. Dass sie aber wollen, dazu ist bei jedem die innere Seelenarbeit notwendig.«[31]
Bekanntschaften Mit Pazifisten
Obwohl er also die pazifistischen Programme für abstrakt und realitätsfern hielt, respektierte Rudolf Steiner die dahinter stehende humanitäre Gesinnung. Im Jahr 1900 veröffentlichte er im sozialdemokratischen ›Vorwärts‹ einen Aufsatz zum 70. Geburtstag der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach. Darin erwähnt er den »Kultus des guten Herzens«, mit dem Bessergestellte die Not des Proletariats zu lindern suchten. Dieser Charakterzug sei auch Bertha von Suttner eigen und habe sie zur »Einleitung der bekannten Friedensbewegung« geführt.[32]
Der österreichische Pazifist Johannes C. Barolin (1857–1934) wandte sich am 14. April 1911 brieflich an Steiner und schickte ihm sein Buch ›Der Schulstaat. Vorschläge zur Völkerversöhnung und Herbeiführung eines dauerhaften Friedens durch die Schule‹ (Wien & Leipzig 1909) zu, mit der Widmung: »Dem hochgeehrten/ Herrn Dr. Rudolf Steiner/ in Verehrung / gewidmet / Wien, 15. April 1911 / Johannes C. Barolin«[33]. Von einem Zusammentreffen der beiden ist nichts bekannt.
Anders verhielt es sich mit dem Pazifisten – und bedeutendem Astronomen – Wilhelm Julius Foerster (1832–1921): »Bevor ich im Frühling 1919 von der Schweiz aus nach Stuttgart zu der ersten Vortragstournee gefahren bin, kam ein weltbekannter Pazifist zu mir, der den ›Aufruf an das Deutsche Volk und die Kulturwelt‹ unterschreiben wollte, aber etwas zögerte und noch einige Informationen über diesen Aufruf haben wollte.«[34] Hans Kühn hatte dieses Gespräch vermittelt: »Foerster war glühender Pazifist und man konnte wohl annehmen, dass er für die Argumente Steiners in der Kriegsschuldfrage einiges Interesse zeigen würde.«[35] Doch Foerster ließ sich letztlich nicht überzeugen.
Foerster vertrat einen ethisch begründeten Pazifismus. Er war Gründungsmitglied und Vorsitzender der ›Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur‹, Gründungsmitglied der ›Deutschen Friedensgesellschaft‹, und leitete den ›Verein zur Abwehr des Antisemitismus‹, in dessen Mitteilungen auch Steiner publiziert hat. Das Programm der ›Gesellschaft für ethische Kultur‹ hielt Steiner allerdings für eine rückständige Lebensauffassung, obwohl »unter den Gründern der Gesellschaft sich Männer befinden, die ich hochschätze«. Er machte sich über die »Humanitätsapostel « lustig, die sich auf Kants Sittenmaxime berufen. Ein Bekenner des individuellen Anarchismus, wie er damals einer war, lasse sich nicht vorschreiben, wie er zu leben habe.[36]
Darüber hinaus war Foerster Vorsitzender des ›Vereins für Hochschulpädagogik‹, in dem Steiner ebenfalls Mitglied war. Im ›Magazin für Litteratur‹ referierte er Foersters Vortrag vom 21. November 1898 über ›Schule und Hochschule‹.[37] Auch in seinen ›Schulungskursen für Redner und aktive Vertreter des Dreigliederungsgedankens‹ von 1921 erwähnte er Foerster: „Wir dürfen uns nicht irgendwie kaptivieren lassen von solchen Tiraden, wie sie zum Beispiel Förster [sic!] oder ähnliche Leute der Welt vortragen. Das sind schöne Redensarten, aber sie dringen nicht ein in das materielle Leben, weil die Betreffenden, die sie vortragen, selber vom materiellen Leben nichts verstehen, sondern glauben, durch Predigen ließe sich die heutige materielle Welt irgendwie weiterbringen.[38]“
Kurt Eisner schließlich begann Ende 1916 in München wöchentliche Diskussionsabende abzuhalten, an denen neben Erich Mühsam und Ernst Toller etliche Sozialdemokraten, Anarchisten und Kommunisten sowie »merkwürdige Menschen mit anthroposophischen Ideen und pazifistische Dichter«[39] teilnahmen, wie sich der Schriftsteller Oskar Maria Graf erinnerte. Eisner, dem Rudolf Steiner einst seine ›Philosophie der Freiheit‹ zugesandt hatte,[40] begegnete diesem am 6. oder 7. Februar 1919 in Bern, wo Eisner – inzwischen bayrischer Ministerpräsident geworden – an einer Sozialistenkonferenz teilnahm. Kurz danach, am 11. März 1919, nahm Rudolf Steiner in Bern an einer öffentlichen Kundgebung teil, die im Zusammenhang mit einer vom 6. bis 14. März stattfindenden Internationalen Völkerbunds- Konferenz stand, zu der viele prominente Pazifisten erschienen. Am gleichen Tag abends sprach Steiner öffentlich über ›Die wirklichen Grundlagen eines Völkerbundes‹.[41]
Pazifistische Anthroposophen?
Rudolf Steiners engste Mitarbeiter teilten seine Skepsis gegenüber dem Pazifismus. Ihm nahestehende Pfarrer wie Paul Klein und Friedrich Rittelmeyer predigten zu Kriegsbeginn im damals üblichen patriotischen Duktus.[42] Auch Rittelmeyers enger Freund Michael Bauer, einer der fortgeschrittensten esoterischen Schüler Steiners, der 1913 in den Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft gewählt worden war, dachte ähnlich, wie sein Biograf Christoph Rau berichtet: „Zu stark lebte in ihm die Vorstellung, dass in Natur- und Menschenwelt ein ununterbrochenes Ringen herrscht. Selbst den Verzicht auf Gewalt bei höher gesinnten Menschen wollte er nicht anerkennen, da dieser vergleichbar wäre einem Farmer, welcher seine Schafe ruhig den Wölfen überlasse, da sie auch ein Recht auf Leben hätten. Wahrer Friede schließe den Streit mit der Welt und dem Bösen ein und werde durch solches Gewappnetsein gefördert.[43]“
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einzelne Anthroposophen, die den Friedensgedanken in den Vordergrund stellten. So die Historikerin Renate Riemeck, die 1960 zu den Gründungsmitgliedern der ›Deutschen Friedensunion‹ (DFU) gehörte.
Anders verhielt es sich mit dem Gedanken der Völkerverständigung. Die international zusammengesetzte Zuhörerschaft des ›Summer Art Course‹ in Dornach fasste im August 1921 angesichts der zunehmenden gegnerischen Angriffe aus der katholischen und völkischen Ecke auf Rudolf Steiner eine Resolution, die in der Presse verschiedener Länder veröffentlicht wurde. Demnach werde am Goetheanum ein Weg zur Verständigung der Völker auf geistiger Grundlage gezeigt, der nicht in abstrakten Programmen (wie Woodrow Wilsons 14 Punkte) bestehe. Albert Steffen schrieb in seinem Kursbericht, die Anthroposophie könne ein »wahres Weltbürgertum nicht nur predigen, sondern auch begründen«, weil sie »etwas von dem kosmischen Ursprung des Menschen weiß«[44]. Das Thema Völkerverständigung stand ebenfalls im Mittelpunkt des großen Wiener Anthroposophen-Kongresses Pfingsten 1922.
So gehörte, trotz aller Kritik Rudolf Steiners am Pazifismus, die Anthroposophie für ihre nationalsozialistischen Gegner eindeutig in dessen Lager. Ein SD-Bericht vom 7. Februar 1935 erklärte »die anthroposophische Weltanschauung, die in jeder Beziehung international und pazifistisch eingestellt ist, für schlechthin unvereinbar mit der nationalsozialistischen.«[45] Auch das auf den 1. November 1935 datierte Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft durch Reinhard Heydrich stellte fest, diese sei »international eingestellt und unterhält auch heute noch enge Beziehungen zu ausländischen Freimaurern, Juden und Pazifisten.«[46] Das SD-Hauptamt Berlin tadelte im Mai 1936, die Anthroposophie habe »in verhängnisvoller Weise allen antivölkischen und anti-nationalen, überstaatlichen, pazifistischen und insbesondere jüdischen Einflüssen offengestanden«[47]. Und ein Bericht des Reichssicherheitshauptamtes von 1941 folgerte, dass die Anthroposophie, weil sie »im wesentlichen nur eine leibliche Vererbungslehre« anerkenne und damit einer »rein äußeren Rasseauffassung« anhänge, »auch zu einer internationalen pazifistischen Einstellung kommen«[48] müsse.
Dem ist nicht unbedingt zu widersprechen.
WOLFGANG G. VÖGELE | geb.1948 in Mannheim, Studium der Geschichte und Soziologie in Heidelberg, Waldorflehrer in Österreich, Mitarbeit am Rudolf Steiner Archiv Dornach, freier Journalist (u.a. für die Nachrichtenagentur NNA), seit 1998 Publikationen zur Biografie Rudolf Steiners.
[1] Vortrag vom 18. Dezember 1916 in Rudolf Steiner: ›Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit – Erster Teil‹ (GA 173), Dornach 1978, S. 221.
[2] Vgl. Vortrag vom 14. Oktober 1917 in ders.: ›Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis‹ (GA 177), Dornach 1999, S. 140f. Steiner bezeichnete diese Denkweise als »ahrimanisch«, vgl. a.a.O., S. 160.
[3] Dominic Johnson: ›Frieden schaffen mit mehr Waffen‹ – https://taz.de/Waffenlieferungen-an-die-Ukraine/!5857874
[4] Philipp Gassert: ›Wo ist die Lobby der Pazifisten hin?‹ – www.zeit.de/politik/deutschland/2022-05/pazifismus-friedensbewegung-ukraine-deutschland-geschichte
[5] Vgl. die Bei träge in dieser Zeitschrift zum Ukrainekrieg.
[6] Friedrich Rittelmeyer: ›Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner‹, Stuttgart 1953, S. 101.
[7] Gerhard Wehr: ›Rudolf Steiner – Leben, Erkenntnis, Kulturimpuls. Eine Biographie‹, Zürich 1993, S. 248.
[8] Helmut Zander: ›Anthroposophie in Deutschland‹, Göttingen 2007, S. 1264. Der Historiker Markus Osterrieder hat diese Behauptung widerlegt, vgl. ders.: ›Welt im Umbruch‹, Stuttgart 2014, S. 977.
[9] Markus Osterrieder: ›Welt im Umbruch – Nationalitätenfrage, Ordnungspläne und Rudolf Steiners Haltung im Ersten Weltkrieg‹, Stuttgart 2014, S. 978. Osterrieder zitiert hier die Vorträge vom 8. September 1918 in Rudolf Steiner: ›Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit‹ (GA 184), Dornach 2002, S. 76; und vom 15. Dezember 1918 in ders.: ›Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage‹ (GA 186), Dornach 1990, S. 257f.
[10] Vgl. Rudolf Steiner: ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ (GA 10), Dornach 1993, S. 81.
[11] Ders.: ›Die Welträtsel und die Anthroposophie‹ (GA 54), Dornach 1983, S. 53f.
[12] A.a.O., S. 55f.
[13] Ders.: ›Fragenbeantwortungen und Interviews‹ (GA 244), Basel 2022, S. 159.
[14] Ders.: ›Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit‹ (GA 130), Dornach 1995, S. 287f. Steiner bezog sich hier auf ein Gedicht des österreichischen Dichters und liberalen Politikers Anastasius Grün (1806–1876) der ein bekanntes Bibelwort (Mi 4,3) aufgriff. »Schwerter zu Pflugscharen« wurde später zu einer Parole der Friedensbewegung.
[15] GA 244, S. 476.
[16] Vortrag vom 6. Juli 1914 in ders.: ›Wege zu einem neuen Baustil‹ (GA 286), Dornach 1982, S. 108.
[17] Zitiert nach ›Christian Morgenstern und Rudolf Steiner. Zum 100. Geburtstag von Christian Morgenstern am 6. Mai 1971‹ (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe 33), Dornach 1971, S. 18f.
[18] Friedrich Rittelmeyer: op. cit., S.101.
[19] Vgl. ›Das Geheimnis der Wunde. (»Samariterkurs«)‹ (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe 108), Dornach 1992.
[20] ›Rudolf Steiner in Mannheim. Briefe – Dokumente – Chronik‹ (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe 120), Dornach 1998, S. 28.
[21] Vgl. ›Rudolf Steiner 1861–1925. Eine Bildbiografie‹, hrsg. von David Marc Hoffmann, Albert Vinzens, Nana Badenberg & Stephan Widmer, Basel 2021, S. 289.
[22] GA 173, S. 240.
[23] Vortrag vom 15. März 1916 in Rudolf Steiner: ›Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges‹ (GA 174b), Dornach 1992, S. 173f.
[24] Vortrag vom 29. November 1917 in ders.: ›Der Tod als Lebenswandlung‹ (GA 182), Dornach 1996, S. 33f. Papst Benedikt XV. hatte am 1. August 1917 sein Apostolisches Schreiben ›Dès le début‹ veröffentlicht, das Friedensverhandlungen anregte, doch ohne Wirkung blieb.
[25] Die Memoranden sind enthalten in ders.: ›Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915 – 1921‹ (GA 24), Dornach 1982, S. 339-385.
[26] Uwe Werner: ›Rudolf Steiner zu Individuum und Rasse. Sein Engagement gegen Rassismus und Nationalismus‹, Dornach 2011, S. 63f.
[27] Vortrag vom 25. Dezember 1920 in ders.: ›Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen‹ (GA 202), Dornach 1993, S. 256.
[28] Vortrag vom 1. Dezember 1918 in ders.: ›Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage‹ (GA 186), Dornach 1990, S. 57.
[29] A.a.O., S. 58.
[30] Erstmals erwähnt in Rudolf Steiner: ›Kosmogonie‹ (GA 94), Dornach 2001, S. 35.
[31] Ders.: ›Geisteswissenschaft und Soziale Frage‹, in: ›Lucifer – Gnosis‹ (GA 34), Dornach 1987, S. 221.
[32] Ders.: ›Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 – 1902‹ (GA 32), Dornach 2004, S. 59.
[33] Martina Maria Sam: ›Rudolf Steiners Bibliothek‹, Basel 2019, S. 909.
[34] Rudolf Steiner: ›Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung‹ (GA 199), Dornach 1985, S. 276.
[35] Hans Kühn: ›Dreigliederungs-Zeit – Rudolf Steiners Kampf für die Gesellschaftsordnung der Zukunft‹, Dornach 1978, S.
[36] Rudolf Steiner: ›Eine Gesellschaft für »Ethische Kultur«‹, in ders.: ›Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901‹ (GA 31), Dornach 1989, S. 170f.
[37] Vgl. a.a.O., S. 289-295.
[38] Vortrag vom 13. Februar 1921 in ders.: ›Wie wirkt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus?‹ (GA 338), Dornach 1986, S. 71. Möglicherweise bezog sich Steiner hier auf dessen Sohn Friedrich Wilhelm Förster (1869–1966), der ebenfalls ein engagierter Pazifist war.
[39] Oskar Maria Graf: ›Theresienwiese November 1918. Eine Erinnerung an Felix Fechenbach‹, zitiert nach Bernhard Grau: ›Kurt Eisner. Eine Biographie‹, München 2001, S. 325.
[40] Vgl. Rudolf Steiner: ›Briefe Band II: 1890-1925‹ (GA 39), Dornach 1987, S. 194f.
[41] Vgl. ›50 Jahre »Die Kernpunkte der sozialen Frage« 1919-1969‹ (Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe 24/25), Dornach 1969, S. 14ff. und 23ff. Der Vortrag vom 11. März ist enthalten in ders.: ›Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung‹ (GA 329), Dornach 1985, S. 13-40.
[42] Vgl. Wilhelm Pressel: ›Die Kriegspredigt 1914-1918 in der evangelischen Kirche‹, Göttingen 1967.
[43] Christoph Rau: ›Michael Bauer – Sein Leben und seine Begegnung mit Friedrich Rittelmeyer‹, Dornach 1995, S. 71.
[44] Zitiert nach Rudolf Steiner: ›Kunst und Anthroposophie‹ (GA 77b), Dornach 1996, S. 218.
[45] Zitiert nach Uwe Werner: ›Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus‹, München 1999, S. 67.
[46] Zitiert nach a.a.O., S. 76.
[47] Zitiert nach a.a.O., S. 384.
[48] Zitiert nach a.a.O., S. 427.