Affirming – Nurturing – Trusting: an Education for Today and Tomorrow
Weltlehrertagung 2023 am Goetheanum
Am Ostermontag begann die 11. Weltlehrertagung, die von 10. bis 15. April 2023 in Dornach (Schweiz) stattfand. Im Jahr des 100-jährigen Jubiläums seit der Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft versammelten sich knapp 1.000 Waldorferzieher:innen und Lehrer:innen sowie Dozent:innen, Student:innen und Adminstrationsmitarbeiter:innen an Waldorfkindergärten, Waldorfschulen, Waldorfausbildungsstätten und Einrichtungen aus 61 Ländern am Goetheanum, dem Sitz der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft
und Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.
Die Tagung wurde von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum und von der „Internationalen Konferenz für Steiner Waldorf Pädagogik“ (Haager Kreis) veranstaltet. Mit dem Thema «Affirming – Nurturing – Trusting, an Education for Today and Tomorrow», hat die Tagung sich einigen zentralen pädagogischen Fragen zugewendet, die entscheidend sind für die Biografien der Kinder und Jugendlichen und für die soziale Welt überhaupt.
Im Jahr 2019 feierten wir 100 Jahre Waldorfschulbewegung mit Fragen nach den Kernimpulsen der Waldorfpädagogik für die kommenden 100 Jahre. Wenige Monate später begann die Corona-Pandemie, durch die, für einen Augenblick, die Welt stillzustehen schien. Fragen, Visionen für die Zukunft, wurden plötzlich still oder verblassten. Man fragte sich, wie es überhaupt weitergehen sollte, ob es weitergehen sollte. Es war, als ob eine Zeit zu Ende gekommen wäre.
Es war eindrucksvoll, wie in der postpandemischen Welt so viele Menschen, die tagtäglich Waldorfpädagogik für Kinder und Jugendliche möglich machen, den Großen Saal füllten, Menschen aus den Niederlanden bis nach Sansibar, von Tansania, Kenia, Israel, Palästina bis Australien, von Brasilien, Argentinien, Guatemala, Myanmar, Kambodscha, von den Vereinigten Staaten, Deutschland, Russland, Ukraine, Japan, Taiwan, China, Portugal, Griechenland, um einige der vielen Länder zu erwähnen. Und so erklang im täglichen Morgensingen tausendstimmig ein mächtiger Chor aus allen Himmelsrichtungen, aus Norden, Süden, Osten und Westen, den eine Kollegin aus den Niederlanden meisterhaft geleitet hat und den überfüllten Saal zur Begeisterung führte!
Constanza Kaliks eröffnete die Tagung mit Worten zum Lernen in einer gemeinsamen Welt. Anschließend forderte uns der katalanische Philosoph Josep Maria Esquirol in seinem Eröffnungsvortrag „Das Menschliche im Menschen kultivieren“ dazu auf, mehr Mensch und mehr Welt zu werden. Der Psychiater Thomas Fuchs sprach von der Entwicklung des Selbstbewusstseins in der menschlichen Biografie, von „Leib-Sein“ beim kleinen Kind bis „Körper-Haben“ ab der Pubertät bis zum Erwachsenenalter, wobei diese Unterscheidung vorwiegend in der deutschen Sprache gemacht wird, da andere Sprachen unterscheiden nicht zwischen Leib und Körper. An dieses Motiv knüpfte Wilfried Sommer an und stellte phänomenologisch mittels eines physikalischen Experiments das Lernen im Zusammenhang von Leib und Körper dar.
Berührend war die Ansprache von Kathy MacFarlane, langjährige Erzieherin aus Neuseeland, zu Kreativität und Mitgefühl, in der sie von ihrer persönlichen Erfahrung sprach, über das kindliche Spiel und wie sich die Werte und Erziehungsziele verwandeln – wie zum Beispiel von der Generation ihrer Großeltern, in der es am wichtigsten war, genügend Essen auf dem Tisch zu haben, von der Generation ihrer Eltern, in der Karriere zählte, von ihrer eigenen Generation, die sich wünschte, ein sinnerfülltes Leben zu führen und schließlich, was sie sich für ihre Kinder erhofft: Dass sie wissen, wer sie sind.
Ein zentrales Motiv, das auf verschiedenste Weise in der Tagung inspirierend wirkte, brachte Mihal Ben Shalom, Klassenlehrerin aus Israel. In verschiedenen Beispielen aus ihrer Unterrichtserfahrung in Form von imaginären „Postcards“ plädierte sie für das Gehen in der Natur, walking in Nature, als wertvolles pädagogisches Mittel mit einer gesundenden Wirkung auf Leib, Seele und Geist, nicht zuletzt auch für uns Erziehende und Lehrende: „It opens our spirit, we find our feet and l learn to trust.“
Fragen zur Identität und Zugehörigkeit wurden in der Tagung auch bewegt. Michael Zech betonte in seinem Vortrag „Geschichte als Bildungs- und Selbsterfahrung“, wie sich selbst zu sein heißt, „sich fremd zu fühlen in der eigenen Zugehörigkeit, sich unterwegs heimatlich fühlen“, und wie wichtig es sei, die Lehrplanangaben zum Geschichtsunterricht der Waldorfschule in den kulturellen Kontext des jeweiligen Landes und der zu unterrichtenden Kindern zu stellen und weiterzuentwickeln.
Ein wunderbares Beispiel der Kontextualisierung des anthroposophischen Impulses in einem asiatischen Kulturraum folgte in der herzerwärmenden Darstellung von Ya Chih Chan: Die Eurythmielehrerin aus Taiwan zeigte in ihrem Beitrag „Der Leib als lebendiges Zen und seine Heilkraft“, wie sie in ihrem persönlichen Studium das Prinzip von Zen im Zusammenhang mit der Anthroposophie erarbeitet hat und dieses ein universelles Motiv sei.
Schließlich widmeten wir uns den Themen der Gesundheit und Resilienz. Tomáš Zdražil sprach über Gesundheit, das Bedürfnis nach Sinn und Freundschaft, über die Naturentfremdung im Sinne eines „Nature Deficit Disorder“ und die Wichtigkeit von Bewegung und Ernährung. In Zukunft, sinngemäß nach Rudolf Steiner, sollte der „Lehrer als Arzt und das Kind als Heilmittel, als ein potenzierter Tropfen eines Medikamentes für die Kulturentwicklung der Gesellschaft“ angeschaut werden in unserem pädagogischen Streben, mit der „aus der Menschenerkenntnis resultierenden Liebe zum Menschen“. Linda Williams, Klassenlehrerin aus den Vereinigten Staaten, erzählte auf bewegende Weise anhand zweier Biografien von Unterdrückung, Trauma, Zugehörigkeit und Resilienz. Als Antidot nannte sie u.a. die Freude und die liebevolle Begleitung des Kindes durch einen Erwachsenen. Sie plädierte für eine Pädagogik der Zugehörigkeit im Sinne von Ubuntu, „am Anderen erwachen“, I am because you are and because you are therefore I am (ich bin, weil du bist und weil du bist, bin ich).
Darüber hinaus gab es vormittags Vertiefungsgruppen zu den Themen der Vorträge, in denen die Internationalität, Interkulturalität und Interreligiosität der Konferenz sichtbar wurde. Und dennoch war es unglaublich schön zu merken, dass trotz aller Unterschiedlichkeit und Diversität, unabhängig von wo wir auf dieser Welt sind und wirken, wir als Waldorfweltkollegium, wie Zdražil uns herzlich begrüßte, dieselben Fragen, Sorgen, Werte und Impulse teilen. Verschiedene Foren widmeten sich nachmittags weiteren pädagogischen und aktuellen Fragen, wie zum Beispiel nach einer Vertiefung der kulturellen Verankerung des Curriculums in einer für die kulturelle Vielfalt wacher werdenden Welt. Schließlich dienten die vielen künstlerischen Angebote und Workshops der inhaltlichen Fortbildung und dem Austausch, wie beispielsweise zum Thema der Selbsterziehung der Lehrkräfte und einer meditativen Vertiefung unseres pädagogischen Wirkens.
Darüber hinaus wurden wir mit wunderbar ergreifenden Aufführungen beschenkt: Bothmergymnastik mit Schüler:innen aus der Waldorfschule Solymár, Ungarn, ein Oratorium mit Chor und Orchester der Rudolf-Steiner-Schule Wien-Mauer, ein Konzert von armenischen Volksliedern mit Schüler:innen der Waldorfschule Jerewan sowie Eurythmie der Goetheanum-Bühne und der Eurythmieschule.
Die zwei letzten Vorträge hielten Philipp Reubke und Constanza Kaliks, die gemeinsam die Pädagogische Sektion leiten. Reubke erwähnte, wie wichtig es ist, dass wir uns bemühen, den Raum zu schaffen, damit das Kind so wird, wie es werden soll von sich aus und nicht wie wir es wollen. Beide regten uns Pädagog:innen aus aller Welt an, uns in nächster Zukunft mit dem Vortragszyklus zu beschäftigen, den Rudolf Steiner vor genau 100 Jahren zu Ostern 1923 gab: Die Pädagogische Praxis (GA 306).
Constanza Kaliks sprach zum Abschluss der Tagung über Rudolf Steiners Impuls für die Wirklichkeit des Menschen und zur Entstehung der heutigen Naturwissenschaft. Sie brachte uns anhand einer Ellipse (analog: der Lehrer) mit ihren zwei Brennpunkten (analog: das Kind, die Welt) näher, wie sich die Beziehung zwischen Kind und Pädagoge, die manchmal näher am Kind ist, manchmal näher an der Welt, in einem ständigen Bewusstsein im Laufe der Kindesentwicklung verändert und Kind und Welt in ein immer selbstständigeres Verhältnis zueinander treten. Beide Brennpunkte nähern sich und die Ellipse wird immer mehr zu einem Kreis. Dadurch verwandelt sich auch die Beziehung zwischen dem Pädagogen und dem Kind in einem beweglichen, dynamischen Prozess. Ein wunderbares, anschauliches Bild der pädagogischen Beziehung.
Bereichert, inspiriert und tief bewegt kehrten wir zurück in unsere Länder, zu unseren Wirkungsorten, zu den Kindern und Jugendlichen, die uns anvertraut wurden. Wir bleiben aber verbunden.
In diesem Sinne ist zu hoffen, dass es der Waldorfbewegung gelingt, für die nächsten 100 Jahre die Waldorfpädagogik weltweit über die Waldorfschule hinaus so zu entwickeln, dass sie in die Welt strahlt und vielen Kindern zugutekommt für die gemeinsame Gestaltung einer menschlicheren Welt, einer Welt, in der wir noch mehr Mensch werden.
Olívia Girard | geb. 1979, ist Kinderrechtlerin, Klassenlehrerin und Lehrerin für Freie Religion an der Freien Waldorfschule am Prenzlauer Berg, Berlin.