Wie kann die Weihnachtstagung ein weiterwirkender Impuls sein?
Ein Beitrag aus der Weihnachtsausgabe der Zeitschrift DieDrei. Ich möchte im Folgenden versuchen, dem Ereignis der geistigen »Grundsteinlegung« der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in einer meditativ-lauschenden Art und Weise nachzugehen. Wie hat Rudolf Steiner am 25. Dezember 1923 in einer kultusartigen Handlung den Grundstein geformt? Im meditativen Hinlauschen kann ein eigenes Tätigsein in der Bildung und Gestaltung des geistigen Grundsteins entstehen und sich damaliges Geschehen mit heutigem zusammenschließen. Ich meine, dass wir diesen Schritt, der von der Beschreibung der Vergangenheit zur gegenwärtigen Verantwortungsübernahme führt, brauchen, wenn die Weihnachtstagung für kommende Zeiten weiterwirken soll.
Am 24. Dezember 1923 wurde die Weihnachtstagung von Rudolf Steiner feierlich eröffnet. Am Morgen des 25. Dezember 1923, zu Beginn der Zeremonie der »Grundsteinlegung«, bevor er die Meditation des Grundsteins das erste Mal sprach, sagte Rudolf Steiner folgendes: »Zuerst aber mögen unsere Ohren von diesen Worten berührt werden, um in unserem Sinne zu erneuern aus den Zeichen der Gegenwart heraus das alte Mysterienwort: ›Erkenne dich selbst‹.«[1]
Diese Worte sprechen von der Kontinuität des Mysterienwesens und zugleich von dessen Erneuerung. Während das alte Mysterienwesen für Nicht-Eingeweihte verborgen gehalten wurde und auf Mysterienverrat die Todesstrafe stand, gehört es zu den »Zeichen der Gegenwart«, dass sich eine Mysterienhandlung öffentlich und frei vollziehen sollte. Das bedeutet auch, dass es auf das freie Ergreifen und Vertiefen des Erlebten bei den Anwesenden ankam, auf ein Ergreifen, das vollkommen neu und nicht durch jahrtausendelange Erfahrungen und Gewohnheiten mit dem alten Mysterienwesen getragen war. Einer, der die Weihnachtstagung in großer Wachheit miterlebten und für den sie zum Zentralereignis seines Lebens wurde, war der damals gerade 30jährige Frederik Willem Zeylmans van Emmichoven. Er hat sich dann ein Leben lang meditativ mit dem »Grundstein« und der Grundsteinlegung beschäftigt. Ich will einige seiner Charakterisierungen, die er 1956 gegen Ende seines Lebens in dem Büchlein ›Der Grundstein‹ niedergelegt hat, an den Anfang stellen:[2] »Schon aus der ersten Ansprache war durch die Art, wie Rudolf Steiner sie hielt und mit einem besonderen Zeichen begann, sofort ersichtlich, dass nun eine Tat vollzogen wurde, die in der Mysteriengeschichte der Menschheit eine neue Phase einleitete.«[3]
Zeylmans hatte erlebt, dass er an einer öffentlichen Mysterienhandlung teilnehmen durfte, deren Tiefe und Bedeutung sich erst im Laufe der Zeit für die Menschheit offenbaren würde. Es sei um eine Art geistigen Versuch gegangen, nämlich »eine Gruppe von Menschen durch eine Einweihung auf höhere zukünftige Aufgaben vorzubereiten.«[4]
Er beschreibt in seinem Buch, dass sich diese Einweihung in drei Etappen vollzog: Die erste Stufe war die physische Grundsteinlegung für das erste Goetheanum (1913), die zweite der Brand des noch nicht vollendeten ersten Goetheanums (1922) und dann als drittes die Grundsteinlegung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft auf der Weihnachtstagung. Zeylmans zeigt damit einen Weg, wie man sich heutzutage dem Geschilderten annähern kann.
Für Zeylmans war auch deutlich geworden, dass die Weihnachtstagung eine weit umfassendere Bedeutung hatte als nur die Gründungsversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zu sein. So sagt er auch: »Das Ereignis der Weihnachtstagung von 1923 könnte nicht richtig beurteilt werden, wenn man in ihr eine Angelegenheit sähe, die nur für den Kreis von Mitgliedern wichtig ist. Der Sinn dieses Mysteriums, namentlich der Grundsteinlegung, ist von viel größerer Reichweite.«[5] Der Sinn und tiefere Zusammenhang dieses Mysteriums könne allerdings zunächst nur angedeutet werden, wobei sich das Wichtigste »überhaupt nicht in feste Form bringen [ließe], weil es sich um etwas Fortwirkendes handelt, das sich erst in ferner Zukunft voll offenbaren kann.«[6]
Das Fortwirkende
Was Zeylmans ein »Fortwirkendes« nannte, thematisierte Rudolf Steiner am 18. Januar 1924 gegenüber den Mitgliedern, indem er sagte, dass das während der Tagung Geschehene nichts Abgeschlossenes sei, sondern was zukünftig an Kraftzuwachs und an Lebendigkeit der Anthroposophie in der Gesellschaft geschähe, müsse in die Weihnachtstagung hineinfließen:
Und dasjenige, was zu Weihnachten hier geschehen ist, muss eigentlich so aufgefasst werden, daß es zunächst lange nicht fertig ist, lange nicht abgeschlossen ist, dass eigentlich das Wenigste von dem, was zu Weihnachten hier geschehen ist, als ein Abgeschlossenes gelten kann, sondern daß fortwährend in diese Weihnachtstagung Inhalt hineinfließen muss durch dasjenige, was weiter in der Anthroposophischen Gesellschaft geschieht.[7]
Dass ein Ereignis, dass menschliche Taten weiterwirken, und dass ihnen insofern etwas Nicht-Abgeschlossenes und Fortwirkendes eigen ist, sie also einen Samencharakter haben für sich später Entwickelndes, für Menschen, die daran anknüpfen – das gibt es nicht nur bei der Weihnachtstagung. Hier kommt jedoch etwas zum Tragen, was nur verständlich wird, wenn man bereit ist, die gewöhnliche Zeitvorstellung, dass die Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft fließt, umzuwenden. Dann blickt man auf Taten von Menschen und auf Ereignisse, die – von 1923/24 aus gesehen – in der Zukunft liegen, die direkt mit der Weihnachtstagung zu tun haben und real in diese »hineinfließen «, die Wirksamkeit der Weihnachtstagung in ihrem Fortwirken bestärkend, stützend, erneuernd, immer mehr erfüllend. Wenn man sich klar macht, was das heißt, bemerkt man, wie diese Umkehrung der Zeitrichtung einen direkt ins Geistige führt, in einen Bereich, für den die irdischen Zeitverhältnisse nicht relevant sind. Denn wenn ein Zukünftiges auf etwas in der Vergangenheit Begonnenes wirkt, dann ist die vorwärts gehende Zeit aufgehoben (oder zumindest ergänzt). Man kann so beginnen, meditativ in der wesenhaften Zeit zu leben.[8] In ihr verbinden sich damals gesäte Samen mit dem, was heute im Spirituellen daraus wird und werden will.
Es ist die Wesenswirksamkeit Michaels als Zeitgeist, welche die Zeiten umfasst und aufeinander bezieht. Dies gilt gerade dann, wenn es um die Anthroposophie geht. In Michaels Wesen ist die Zeit – in gewisser Hinsicht – aufgehoben. Durch ihn kann, was heute als Anthroposophie lebendig lebt, stärkend auf die Weihnachtstagung zurückwirken, während andererseits deren Substanz und Kraft sowie die Wirksamkeit des Grundsteins heute von Menschen gefunden werden können- und zwar in dem Geist, der im menschlichen Herzen leben möchte![9]
Grundsteinbildung
Nachdem Rudolf Steiner bei der Grundsteinlegung die sogenannten »mikrokosmischen Strophen« des Grundsteins vorgetragen hatte, sprach er darüber, wie er einen jahrzehntelangen Forschungsprozess zur Dreigliederung des geistig-seelisch-leiblichen Menschen in der Zeit des Ersten Weltkrieges auf den Punkt bringen konnte, wodurch das »Erkenne dich selbst« des Apollontempels von Delphi sich neu, nämlich dreifaltig gestaltete. Diese Erneuerung und Transformation werde, so Rudolf Steiner, durch die »Durchlebung des Herzens mit Anthroposophia« möglich, indem der Mensch
fühlend und wollend erkennen lernt, was er eigentlich tut, indem er, die Weltengeister ihn belebend, durch seine Glieder sich hineinstellt in die Raumesweiten, dann erkennt im tätigen Erfassen der Welt – nicht im leidenden, passiven Erfassen der Welt, sondern im aktiven, tätigen Erfassen der Welt, indem er seine Pflichten, seine Aufgaben, seine Mission in der Welt erfüllt – das Wesen der allwaltenden Menschen- und Weltenliebe, die da ist ein Glied im Gesamtweltenwerden.[10]
Indem wir nicht nur denkend, sondern auch fühlend und wollend erkennen lernen, können wir bemerken, wie wir in der Erfüllung unserer Aufgaben durch unseren Willen tief mit der Welt und den anderen Menschen verbunden sind. Gerade wenn man im inneren Hineinlauschen in diese Dimensionen des Willens die Vorstellungen und Gedanken zurückstellt, bemerkt man, wie man dadurch zur Liebe, die im Willen wirkt, vorstoßen kann. Steiner nennt das die »allwaltende Menschen- und Weltenliebe «, denn die Menschenliebe hat ihren makrokosmischen Hinter- und Keimgrund in der Weltenliebe. Für den Kopf, in dem wir uns zunächst als Menschen beheimatet fühlen, ist dieses Gebiet einer umfassenden geistigen Liebe, die alles durchzieht und ernährt, etwas, das er nicht kennt und nicht bemerkt, weil er selbst wie losgelöst davon existiert. Im Hin absteigen in ein tieferes, mit dem Herzen und mit dem Willen verbundenes Erkennen, finden wir diese Liebe in uns selbst und in der Welt. Die eigene Tätigkeit der selbstlosen Liebe wird zum Organ, um die Kräfte der Liebe auch in der Welt zu finden. Dieser Gang in die Tiefe des eigenen Wesens ist mit dem Überschreiten einer Bewusstseinsschwelle verbunden. Hier lauern verschiedene Gefahren, die mit schlafenden oder halbschlafenden Aspekten des eigenen Doppelgängers verbunden sind und die Liebe egoistisch und sinnesgebunden machen. Die Liebeskräfte, die sich zum Grundstein gestalten, gewinnen dann die ihnen angemessene Qualität, wenn der Mensch in der Lage ist, das Überpersönlich- Geistige der Liebe in sich zu verwirklichen.
Wir arbeiten und handeln als Menschen immerzu, und stets kann es die Frage sein, ob und wie weit Handlungen selbstlos aus Liebe oder aus egoistischen Gründen und Motiven getan werden. Warum tue ich etwas Bestimmtes für andere Menschen? Was sind meine inneren Motive und Triebfedern? Denke ich dabei letztlich an mich, vielleicht auch nur in versteckten Tiefen der Seele, oder sind es wirklich die anderen Menschen, für die ich handle? Will ich zur wahren Liebe kommen, dann beginnt eine weitreichende Transformation des Kräftebereichs des eigenen Willens; verbunden mit der immer wieder zu stellenden Frage und Ehrlichkeit der Selbsterkenntnis: Ist etwas selbstlos und aus Liebe getan – oder stehe ich mir mit meinem Egoismus selbst noch im Wege? Vieles muss losgelassen, manches richtiggehend geopfert werden. Ein Satz von Meister Eckhart gibt das, worum es geht, und was mit einer über Jahre gehenden Selbsterziehung und oft mit Schicksalsprüfungen verbunden ist, sehr treffend wieder: »Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich nicht noch mehr lassen.«[11] Eine starke und alles umfassende Liebe, die nicht mehr ausschließend ist, sondern in der sich der Einzelne als Teil der Totalmenschheit realisiert, kann hier geboren werden.
Im Grundsteinspruch wird dieser Bereich der tieferen Selbst- und Welterkenntnis durch das »Geist-Erinnern« zugänglich. Gemeint ist hiermit nicht ein normaler Erinnerungsvorgang, sondern ein In-die-Tiefe-Dringen, ein Ins-Geistige-Dringen, hin zu den Grund- und Haltekräften im Menschen, aber auch in der gesamten Schöpfung.
Die zweite Dimension der Selbsterkenntnis, die für die Bildung des Grundsteins benötigt wird, ist das »Geheimnis, das da waltet zwischen Lunge und Herz- in dem innerlich wahrnehmbar ausgedrückt wird, wie die Weltenrhythmen, die durch Jahrtausende, durch Äonen wirken, in Puls- und Blutrhythmus hereinschlagen und Weltbeseelung im Menschen erwecken. Wird dies mit dem Herzen als Erkenntnisorgan erfahren, dann kann der Mensch erleben,
wie die Weltenbilder, die gottgegebenen, den Kosmos aus sich heraus tatkräftig offenbaren. Wie man im wirkenden Sich-Bewegen erfasst die waltende Weltenliebe, so wird man die Urbilder des Weltenseins erfassen, wenn man in sich fühlt den geheimnisvollen Übergang zwischen Weltenrhythmus und Herzensrhythmus und durch diese wiederum den Menschenrhythmus, der geheimnisvoll seelisch-geistig sich abspielt zwischen Lunge und Herz.[12]
Mit dem Bewegungsmenschen, d.h. im Stoffwechsel-Gliedmaßenbereich, erfassen wir in der Selbsterkenntnis die Liebe. Den mittleren, rhythmischen Menschen erfassen wir zunächst im Erleben des Atems in seinem Verhältnis zum Herzschlag. Wenn man sich darauf einlässt – viele Menschen machen heute Atemmeditationen – so merkt man, wie man dadurch in ein Geöffnetsein und in etwas Non-Duales hineingeführt wird. Verstärkt man diese Bemühungen und bleibt darin wach, so kann der Übergang zwischen dem eigenen Atem- und Herzrhythmus und den Weltenrhythmen erlebbar werden.
Was im Kleinen sich darin andeutet, dass beim Atmen die innere Luft nach außen geht und äußere Luft nach innen genommen wird, rhythmisch wechselnd, das hat auch eine kosmische Dimension: Ich kann erleben, wie das Verhältnis zu den Planeten, insbesondere zu Sonne und Mond, intensiver, ja innig wird. Sie beginnen, zu mir zu sprechen. Ich beginne, mit ihnen mitzuleben. Ja, ich fange an, das, was außen ist und dort den rhythmischen Tages- und Jahreslauf gestaltet, auch in mir zu erleben. Und ich beginne umgekehrt, mich selbst im Äußeren zu erleben. So wird es eigenes Erleben, dass die Sonne neben ihrer physischen Sichtbarkeit auch ein »Urbild des Weltenseins«, ein »Weltenbild« ist. Und wenn ich sie als solches wahrnehmen kann, dann merke ich, wie sie in mir, in allen Menschen und zugleich in aller Kreatur wirkt. Sinnliche und übersinnliche Sonnenkräfte durchwirken die Welt. Im Grundsteinspruch wird diese Tätigkeit, die sich auf die Rhythmen des Kosmos, der Natur und des gesamten Umkreises richtet, die mit ihnen wahrnehmend mitlebt und im Wahrnehmen Geistiges empfängt, das »Geist-Besinnen« genannt.
Die dritte Dimension der Selbsterkenntnis eröffnet sich ebenfalls dem fühlenden Wahrnehmen und Erkennen:
Und wenn der Mensch in der richtigen Weise fühlend wahrnehmen wird, was sich offenbart in seinem Hauptessystem, das da ruhet auf seinen Schultern, auch wenn er geht, dann wird er, sich erfühlend in seinem Hauptsystem, die Herzenswärme ausgießend in sein Hauptessystem, die waltenden, wirkenden, webenden Weltgedanken in seiner eigenen Wesenheit erleben.[13]
Im rhythmischen System erleben wir uns, wenn wir uns im fühlenden Bewusstsein mit den Rhythmen in unserem Inneren mitbewegen und dann bemerken, wie diese nicht zu trennen sind von den kosmischen Rhythmen. Innerer und kosmischer Rhythmus befinden sich ineinander, gehen ineinander über. Im Erleben des menschlichen Hauptes hingegen kommen wir zu dem Erlebnis der Ruhe und Abgeschlossenheit. Selbst wenn der Körper sich bewegt, ist der Kopf in relativer Ruhe. Diese Abgeschlossenheit des Kopfes gilt zunächst auch für das Gedankenleben. Da, wo sich aber die Wärme des Herzens in das Haupt ausgießt, das Kopfdenken selbst zum Herzdenken wird, beginnen wir die »waltenden, wirkenden, webenden Weltgedanken« zu erleben. Es ist gerade das vom persönlichen Fühlen gereinigte Herz in seiner Beziehung zum Kopf, das die engen, noch an das Persönliche und die sinnlichen Vorstellungen gebundenen Gedanken verwandelt und weitet, sodass sie in eine Beziehung zu den Weltgedanken kommen können. Die Beschäftigung mit der Anthroposophie, mit Gedanken, die das Geistige der Welt zu beschreiben versuchen, ist hier hilfreich, wenn man lernen will, sich im Denken und im Überschauen von Zusammenhängen zu erweitern. Im Grundsteinspruch wird diese dritte Art von Tätigsein als »Geist- Erschauen« angesprochen.
Die Formung des Grundsteins
Nachdem die drei Weltenkräfte, die mit der Dreigliedrigkeit der menschlichen Organisation und mit Wollen, Fühlen und Denken verbunden sind, in der esoterischen Handlung der Grundsteinlegung aktualisiert wurden, wurde zu der Aufgabenstellung übergeleitet, diese Selbst- und Welterkenntnis in ihrer individuellen und zugleich kosmischen Dimension in sich selbsttätig zu vollziehen: »Übe …«. Und dann verknüpfte Rudolf Steiner diese Kräfte des Weltenseins, der Weltenbilder und der Weltgedanken mit den in den »Tiefen« wirkenden Vaterkräften, den im »Umkreis« wirkenden Sohneskräften und mit den in den »Höhen« wirkenden Geistkräften. Aus dieser dreifachen »Weltensubstanz«, d.h. aus der Weltenliebe des Vaters, die in unseren Gliedmaßen lebt und die wir im erwachenden Willen erfassen, aus den Urbildern des Sohnes, die in unserem rhythmischen System leben und die wir fühlend erfassen, und aus den Weltgedanken des Geistes, die wir in unserem fühlenden Denken erfassen, wurde der Grundstein geschaffen:
[U]nd wenn wir diese drei Kräfte, die Kräfte der Höhen, die Kräfte des Umkreises, die Kräfte der Tiefen in diesem Augenblicke vereinigen in einer gestaltenden Substanz: dann können wir in unserem Seelen-Erfassen dem Welten-Dodekaeder das Menschen-Dodekaeder gegenüberstellen. Und aus diesen Kräften: aus dem Geist der Höhe, aus der Christus-Kraft des Umkreises, aus der Vater-Wirksamkeit, der schöpferischen Vatertätigkeit, die aus den Tiefen strömt, wollen wir in diesem Augenblicke in unseren Seelen den dodekaedrischen Grundstein formen […].[14]
Der Grundstein und das Leben
Den aus der »Weltensubstanz« des kosmischen Menschen und aus der Trinität zusammengefügten und zu einer »gestaltenden Substanz« geformten Grundstein legte Rudolf Steiner in einer ins Urbildliche reichenden Mysterienhandlung in die Herzen jener anwesenden Menschen, die das Geschehen aktiv mitvollziehen wollten. Bei diesem Grundstein handelt es sich um einen immer wieder von neuem zu erringenden Gestaltungs- und Schöpfungsprozess. Der Grundstein ist immer neu. Er kann zwar für einen bestimmten Moment zu einer bestimmten Form gebracht werden, doch für den nächsten Augenblick braucht es bereits eine neue Gestaltung. Denn der Grundstein soll ja immer lebensbezogen sein. Indem Rudolf Steiner den Grundstein als eine völlig neue geistige »Substanz« schuf, führte er zugleich einen Weg, der lehren kann, wie die meditativen Vollzüge und Selbsterkenntnisprozesse aussehen, welche die Grundlage der je eigenen Grundsteinbildung sind.[15]
Die Grundlage der Grundsteinbildung ist die Liebe, die mit dem väterlichen Urgrund verbunden ist. Zugleich ist Liebe ja immer konkret, bezogen auf bestimmte Menschen, auf konkrete Situationen. So ist also die erste Frage: Kann ich innerlich so mit den jeweiligen Menschen und der jeweiligen Aufgabe verbunden sein, dass in meinem Tun die Liebe wirkt? Dann braucht diese Liebe aber auch den Bereich, aus dem sie sich konkret und produktiv gestaltet. Und hier kommt die zweite Richtung ins Spiel, die mit dem Christus verbundenen Umkreiskräfte. Von dort kommen uns »Weltenbilder«, Imaginationen, Ausblicke zu, die wir mit der Liebe verbinden können.
Die äußeren und inneren Situationen, die Schritte und Taten fordern, sind stets individuell. So braucht es immer wieder neue Bilder und Vorblicke, durch die wir dem Handeln eine situativ angemessene Gestalt geben können. Ein künstlerischer Sinn, der die Tatsachen kennt, aber nicht bei ihnen stehenbleibt, sondern leitende Bilder und Gestaltungen entwickeln kann, vermag hier vieles zu bewirken. Gerade dann, wenn sich der Mensch wirklich ins Offene stellt und aufgehört hat, aus den Mustern und Vorgaben der Vergangenheit zu handeln, wenn er durch das eigene Handeln die Zukunft hereinholen will, dann braucht er Bilder, die seinem Handeln die Form geben.
Solche »Weltenbilder« und Imaginationen können einem zukommen, wenn man sich angewöhnt, sich z.B. abends vor dem Schlafengehen mit einem Problem zu beschäftigen, das man am nächsten oder einem der nächsten Tage lösen will. Das kann ein soziales, pädagogisches oder auch technisches Problem sein. Wenn sich ein Lehrer z.B. abends mit einem Schüler beschäftigt, ist es oft so, dass er am nächsten Tag weiß, was er tun kann, um mit diesem Schüler in eine gute Richtung zu kommen. Und wenn ein Mensch mit Leitungsaufgaben zwischenmenschliche Konflikte geistig »besinnt«, indem er darauf achtet, ob ihm Gestaltungsmöglichkeiten für sein Handeln zukommen, dann ist auch das eine Vorgehensweise, die mit dem sich immer neu bildenden Grundstein verbunden ist.
Als drittes braucht es mit der Liebe verbundene »Weltgedanken «, durch die die Handlungen geistig ihr Glanzlicht, ihre Orientierung und Ausrichtung bekommen. So frage ich mich: Mit welchem ideellen Zusammenhang will ich meine konkrete Handlung verbinden? In welchen geistigen Strom stelle ich mein Handeln hinein? Auch hier ist es so, dass je nach dem, wo man tätig ist und was man genau tut, die umfassenden Gedanken, welche die Tätigkeit von oben her ordnen und tragen, eben unterschiedlich sind. In der ›Philosophie der Freiheit‹ Rudolf Steiners wird dieser dritte Bereich als derjenige der Motive beschrieben. Wenn meine Motive nicht mehr »gebunden« sind, sondern ich frei Ausschau halten und mich mit einem für die Handlung angemessenen umfassenden Gedanken begnaden lassen kann, dann wird mein Handeln durch eine moralische Intuition gehalten und überstrahlt.
So sind es die Kräfte der Liebe, die Gestaltungs- und Formkräfte, die aus dem »Geist-Besinnen« und aus der Schau geboren werden, sowie die Kräfte des Denkens, verbunden mit dem geistigen Licht, die im Grundstein immer von neuem verbunden und in Zusammenklang gebracht werden können. Möglich geworden ist das alles, weil es die Mysterienhandlung der Grundsteinlegung gegeben hat!
Wesentlich aber ist doch, dass wir mit den Tätigkeiten, die den Grundstein bilden und die ihn immer erneuern, sei es in der Liebe, sei es im Schauen, sei es im Denken, immer auch weltbezogen sind. Ich bin einerseits mit mir selbst verbunden, weil die Liebe, das Schauen und das Denken Ideale darstellen und ich immer wieder prüfen muss, wie weit ich in meinem Tätigsein zum eigenen höheren Wesen durchstoße. Und dann bin ich mit der Welt, mit ganz bestimmten Menschen, mit konkreten sozialen, sachlichen, pädagogischen oder künstlerischen Aufgabenstellungen und Verpflichtungen verbunden, wo ich hoffen darf, etwas bewegen zu können, Dinge in eine gute Richtung zu lenken. In dem Sinne, wie es am Ende des Grundsteinspruches heißt, wo dieser in eine Art Gebet und Bitte übergegangen ist:
Dass gut werde,
Was wir aus Herzen
Gründen,
Was wir aus Häuptern
Zielvoll führen wollen.[16]
Eine radikale Umstülpung
Worin besteht die Bedeutung der Weihnachtstagung mit ihrem Kern der Grundsteinlegung? Warum sprach Rudolf Steiner von einem »Welten-Zeitenwende-Anfang«[17]? Wie kann man es verstehen, dass durch diese Tagung für die Mysteriengeschichte der Menschheit eine neue Phase begann? Und was bedeutet Zeylmans oben zitierte Formulierung, dass die Grundsteinlegung ein Versuch war, eine Gruppe von Menschen durch eine Einweihung auf zukünftige Aufgaben vorzubereiten? Die Grundsteinlegung war eine zeremonielle Handlung, in der durch Rudolf Steiner – durch den Michaels Geist wirkte – etwas vollkommen Neues für alle Menschen, die daran anknüpfen wollen, geschaffen wurde. Ich habe es, weil hier auch die Worte fehlen, worum es sich hierbei handelte, ein neues Urbild genannt, das sich in den Herzen der Menschen findet. Dieses unmittelbare Hereinwirken des Geistes in die physische Welt durch die Tat Rudolf Steiners ist Michaels Wirksamkeit. Dieses Urbild wirkt jedoch nicht zwingend. Es ist in die Freiheit des einzelnen Menschen gestellt. Michaelmysterien sind Willensmysterien. Im Menschen, der die umfassende Liebe zu allem Seienden in der Welt in der Tiefe seiner Seele findet, und der aus seinem sich wandelnden Fühlen dieser Liebe eine Gestaltung für das Handeln gibt und durch sein Denken den Sinn seines Tuns im Geistigen erschaut, arbeitet an der Erneuerung und Wandlung der Welt. Tiefste Esoterik und das Exoterische der äußeren Verhältnisse werden immer mehr zusammenfinden durch die Menschen, die den Weg Michaels gehen. Für Organisationsfragen, Finanzfragen, gesellschaftliche Gestaltungs- bzw. Dreigliederungsfragen, Bildungsfragen etc. werden Wege und Antworten gesucht und gefunden, die zusammenklingen können mit den innersten Herzensanliegen der Menschen, die so arbeiten.
In den alten vorchristlichen Mysterien waren einzelne vorherbestimmte Menschen auserwählt und wurden eingeweiht. Alles spielte sich in streng hierarchisch geordneten Verhältnissen ab. Die Eingeweihten wirkten teils offenkundig, teils auch im Verborgenen in die Welt hinein. Ihnen kam aufgrund ihres spirituellen Standes und ihrer Fähigkeiten eine hohe Anerkennung zu. Heute hingegen trifft das zu, was Christus gegenüber den Jüngern am Kardienstag in dem Gleichnis von der königlichen Hochzeit ausspricht: Jeder Mensch kann zur Hochzeit geladen werden, weil die ursprünglich Geladenen nicht kommen.[18] Übertragen auf den Impuls der Weihnachtstagung bedeutet dies, dass jeder Mensch, der sich ins Offene von Todeserfahrungen und Auferstehen hineinstellt und nicht an heute nicht mehr tragfähigen hierarchischen Strukturen festhält, die alles durchdringende Wirksamkeit Michaels, die ihn zur Hochzeit führt, erfahren kann. Eine nicht radikal genug zu verstehende Umstülpung hat stattgefunden! Im Inneren des einzelnen Menschen möchte das Himmelreich beginnen, und es hat bereits begonnen! Menschen, die diesen Weg gehen, finden auch zusammen, erkennen einander und streben nach gegenseitiger Ergänzung. Denn der Boden, auf dem der Grundstein ruht, das sind die »Herzen in ihrem harmonischen Zusammenwirken, in ihrem guten, von Liebe durchdrungenen Willen, gemeinsam das anthroposophische Wollen durch die Welt zu tragen.«[19]
Das Goetheanum, verstanden im Sinne dieser sich vollziehenden Umstülpung, könnte eine seiner Aufgaben darin finden, Herzorgan für die auf der geschilderten Grundlage arbeitenden Menschen und Impulse zu werden. Das Herz-Kreislaufsystem bildet sich in der embryonalen Entwicklung dadurch, dass an verschiedenen Orten sogenannte Blutinseln entstehen, aus denen sich dann Gefäßabschnitte bilden. Diese fügen sich zu immer größer werdenden Gefäßabschnitten zusammen, in denen sich das Blut bewegt. Dann findet die Herzanlage Anschluss an die Blutgefäße, und das Herz beginnt zu schlagen! Das Herz ist eben keine Pumpe. Die embryonale Herzentwicklung kann als Urbild für alles Lebendige, aber auch für die Art, wie das Seelisch-Geistige der Menschen sich gegenseitig wahrzunehmen lernt und beginnt, sich aufeinander zu beziehen und zusammenzuarbeiten, gesehen werden. Die Impulse des geistig Erarbeiteten strömen zum Zentrum hin und werden dort wahrgenommen. Daraus ergeben sich neue, schöpferische Ideen und Kräfte, die wieder in den Umkreis strömen. Auf dieser Grundlage könnte sich ein gemeinsames Verständnis einstellen, dass das Goetheanum nicht allein ein physischer Ort ist, sondern dass die Menschen, die in der angedeuteten Art und Weise arbeiten, auf der Grundlage eines geistigen Baues, des geistigen Goetheanums zusammengehören.[20]
Corinna Gleide, Studium der Germanistik, Anglistik, Pädagogik und Geschichte in Tübingen, Leeds (GB) und Berlin. 2002 Mitbegründung des D.N. Dunlop-Instituts für anthroposophische Erwachsenenbildung, Sozialforschung und Beratung in Heidelberg (www.dndunlop-institut.de). Dozentin der Akademie für Waldorfpädagogik in Mannheim und des Erzieherseminars in Stuttgart. Autorin mehrerer Bücher sowie seit 2015 Redakteurin der Zeitschrift DIE DREI. Schwerpunkte der Seminar- und Vortragstätigkeit sind Meditation und Schulungsweg, Christologie, der Gral sowie Gemeinschaftsbildungsprozesse.
[1] 1 Rudolf Steiner: ›Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/1924‹ (GA 260), Dornach 1963, S. 60.
[2] Frederik Willem Zeylmans van Emmichoven: ›Der Grundstein‹, Stuttgart 1980. Nachdem das Buch lange vergriffen war, hat der Verlag Freies Geistesleben es dankenswerterweise dieses Jahr wieder aufgelegt.
[3] A.a.O., S. 27.
[4] A.a.O., S. 11.
[5] A.a.O., S. 10.
[6] Ebd. Hervorhebung von mir.
[7] Rudolf Steiner: ›Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft‹ (GA 260a), Dornach 1987, S. 91.
[8] Vgl. Christoph Hueck: ›Evolution im Doppelstrom der Zeit‹, Stuttgart 2023; sowie Gunhild von Kries: ›Zeit heilt. Begegnungen mit dem Klang der Zeit‹, Schaffhausen 2003.
[9] Rudolf Steiner: ›Anthroposophische Leitsätze‹ (GA 26), Dornach 1982, S. 65ff.
[10] GA 260, S. 62.
[11] Josef Quint (Hrsg.): ›Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate‹, München 1963, S. 57.
[12] GA 260, S. 62.
[13] A.a.O., S. 62f.
[14] A.a.O., S. 63f.
[15] Zu den Schritten dieser eigenen Grundsteinbildung vgl. Corinna Gleide: ›Die Geburt der geistigen Sonne‹, Stuttgart 2021; sowie dies.: ›Die drei Tätigkeiten der Grundsteinbildung als »gestaltende Substanz«‹, in Steffen Hartmann: ›Gilgamesch und Enkidu. Eine weltgeschichtliche Freundschaft‹, Stuttgart 2021, S. 348.
[16] GA 260, S. 66
[17] A.a.O., S. 281
[18] Vgl. Mt 21,1f.
[19] GA 260, S. 64f.
[20] Rudolf Steiner hat diesen Aspekt unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder betont. Das geistige Zusammenstehen- und Wirken hätte z.B. bewirken können, dass das erste Goetheanum nicht ein Opfer der Flammen hätte werden müssen. Rudolf Steiner ging mit diesem Gedanken sogar noch weiter; so wurde beispielsweise das Biologische Institut von Lili und Eugen Kolisko in Stuttgart als ›Biologisches Institut am Goetheanum‹ bezeichnet. Für ihn war »das physische Goetheanum bloß das äußere Symbolum [...] für unser geistiges Goetheanum«. – A.a.O., S. 280.