Wissenschaft und Esoterik – Kolloquium in Stuttgart
Sind spirituelle und esoterische Weisen der Welterschließung von vornherein unwissenschaftlich, gar wissenschaftsfeindlich, wie in letzter Zeit in den öffentlichen Medien immer wieder angeprangert wird? Schließen sich Wissenschaft und Esoterik grundsätzlich aus?
Mit dem Kolloquium „Plurale Wissenschaft und Spiritualität auf dem Prüfstand“ hat die AGiD am 2. April 2022 in das Rudolf Steiner Haus in Stuttgart eingeladen, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Das Kolloquium bildete den Auftakt zu einer Reihe weiterer geplanter Veranstaltungen, auf denen die fachliche Auseinandersetzung jeweils mit einem „heißen Eisen“ in der Anthroposophie stehen soll.
Mitgewirkt haben sechs Referenten in inhaltlichen Beiträgen und einem Podiumsgespräch.
Den Anfang machte Michael Esfeld, Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne, der sich in seinem Beitrag mit der Methode sowie den Grenzen der Wissenschaft auseinandersetzte. An René Descartes‘ Begriffsklärungen in dessen Schrift „Discours de la méthode“ von 1637 verdeutlichte Esfeld das neuzeitliche Wissenschaftsverständnis, dem auch er sich verpflichtet fühlt. Wissenschaft konzentriere sich auf Objektives, d.h. auf das Aufdecken von Fakten. Sie könne daher weder bewerten noch Normen aufstellen. Das war in der antiken Wissenschaft noch anders, etwa bei Platon, der von einer auf Ideen basierenden Wissenschaft ausging. Die Grenzen der neuzeitlichen Wissenschaft liegen darin, dass sie prinzipiell nicht das Subjekt und sein Denken erkennen kann. Der Weg zur Erkenntnis ist methodischer Skeptizismus. Daran geschultes, eigenständiges Denken schafft Sicherheit.
Demgegenüber hat sich im Szientismus heute eine Auffassung durchgesetzt, als sei das Wissen der Naturwissenschaft unbegrenzt und könne auf gesellschaftliche Fragen und politische Entscheidungen übertragen werden. Esfeld kritisierte das Motto „Follow the Science!“, das z.B. bei den staatlichen Corona-Maßnahmen leitend war, scharf als antiwissenschaftlich und als einen Missbrauch der Wissenschaft, die heute wie eine Religion behandelt werde. Früher waren Menschen durch die Rolle der Religion entmündigt und der Wissenschaft kam die Aufgabe zu, das eigene Denken anzuregen. Heute werden Menschen durch die Wissenschaft entmündigt. Wissenschaftliche Hypothesen müssen mit methodischem Skeptizismus behandelt werden, aber nicht zu einem politischen Programm gemacht werden. „Indem Wissenschaft sich anmaßt, Politik zu beraten, hat sie sich zerstört“. Normen müssten demokratisch geregelt werden.
Im anschließenden Podiumsgespräch des Referenten mit dem Publizisten Wolfgang Müller wurde zur Sprache gebracht, wie ein Gegenpol zur (Natur-)Wissenschaft durch eine Erkenntnis auch des Subjektiven aussehen müsste. Naturwissenschaft kann weder das Lebendige noch das Geistige begreifen. Dafür braucht es andere Methoden. Die Aufgabe der Anthroposophie bestehe u.a. darin, verständlich zu machen, dass man hier mit großer Klarheit vorgehen könne.
Der nächste Beitrag von Jens Heisterkamp, Buchautor und leitender Redakteur von „Info 3“, widmete sich dem Thema „Wissenschaft, Gesellschaft und Anthroposophie“ von verschiedenen Blickrichtungen aus. Zunächst ging es ihm darum, Naturwissenschaft als eine exemplarische Haltung in der Moderne zu betrachten – eine Haltung, die von Rudolf Steiner als tief emanzipatorisch sehr geschätzt wurde. Steiner habe aber nicht den Anspruch gehabt, mit Anthroposophie Naturwissenschaft im klassischen Sinn zu betreiben, eher dem methodischen Ideal der Nachvollziehbarkeit treu zu bleiben auch in Bereichen intuitiven Wissens. Im Weiteren blickte Heisterkamp auf den gegenwärtigen Wissenschaftsbegriff und kritisierte zum einen dessen falsche Verkürzung auf das, was überhaupt Gegenstand von Wissenschaft werden könne, nämlich nur Materielles. Zum anderen mahnte er an, dass Wissenschaft heute mit falschen Erwartungen überladen werde und damit in die Gefahr der Politisierung gerate – ein Gedanke, der auch von Esfeld hervorgehoben wurde. Heisterkamp zitierte an dieser Stelle den Bonner Philosophen Markus Gabriel, der den Versuch des wissenschaftlichen Weltbildes im 20. Jahrhundert für gescheitert hält, denn es sei vieles wahr, was sich naturwissenschaftlich nicht untersuchen lasse. Einen Ausweg sieht Heisterkamp in einem Pluralismus von Wissenskulturen. Abschließend fragte er, was der Ort der Anthroposophie in einer offenen Gesellschaft sein könnte, die nicht von einem dominanten Wissenschaftsbegriff geprägt sei. Ein Versuch, dies zu benennen: innere Prozesse mit einer gewissen methodischen Schlüssigkeit gehen, keine autoritären Voraussetzungen machen, auf Überschaubarkeit achten, auch wenn ich mit geistigen Inhalten umgehe.
Der darauffolgende Beitrag von David Hornemann von Laer, Kunsthistoriker an der Uni Witten-Herdecke, stand ganz im Zeichen der Wahrnehmung: Von der Welt als Vorstellung zur Welt als Wahrnehmung. Der Referent veranschaulichte zunächst an zahlreichen Bildern, wie sehr Rudolf Steiner in seinem immensen Gestaltungswillen nicht nur Wissenschaftler, sondern „geborener Künstler“ war – so eine Formulierung Marie Steiners. Zugleich machte er auf den tiefen Paradigmenwechsel aufmerksam, den Rudolf Steiner untergründig in die Wissenschaft gebracht habe, auch wenn das nicht unbedingt in der Wissenschaftswelt bemerkt wurde: Die beiden Grundsäulen des menschlichen Geistes, Beobachten und Denken, müssen in der Wissenschaft zusammengebracht werden. Während das Denken in der Wissenschaft geschult werde, erfolge dies für das Beobachten aber nicht in gleicher Weise, so Hornemann von Laer. Und um diesen vernachlässigten Teil ging es ihm im Weiteren. Durch verschiedene Experimente im Bereich des Wahrnehmens regte er die Zuhörer an, die Aufmerksamkeit auf das eigene Beobachten zu lenken.
In den letzten beiden Beiträgen ging es um das Thema Wissenschaft und biologisch-dynamische Landwirtschaft. Zunächst gab Michael Olbrich-Majer, Agraringenieur und Chefredakteur von „Lebendige Erde“, einen Überblick über die Entwicklung der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und ihr Verhältnis zur Forschung. Bereits während Rudolf Steiners Vorträgen zum Landwirtschaftlichen Kurs 1924 hatten einige der Anwesenden einen Versuchsring gegründet, um erste Erprobungen anzustellen. So ist die Biodynamik von Anfang an auch mit Forschung verbunden. Die Fragestellungen sind dabei intrinsisch und gehen nicht aus der Suche nach Problemlösungen (z.B. Nitratproblematik, Artensterben etc.) hervor. Über die aktuelle Situation in der Forschung bei Demeter berichtete im Anschluss Christopher Brock, Bodenforscher und Forschungskoordinator im Demeter e.V. Seit den 2000er Jahren erscheinen Forschungen zur Biodynamik auch in klassischen wissenschaftlichen Journalen, z.B. zu Kupferchlorid-Bildern. Darin zeigt sich, dass in der klassischen Forschung die Biodynamik durchaus anerkannt wird, auch wenn nicht alles erklärbar ist. Die Probleme, nicht ernst genommen zu werden, entstehen außerhalb der wissenschaftlichen Community. Eine Systemstudie kommt zu dem Schluss, dass in biologisch-dynamischen Betrieben ein großes Potential für die Nachhaltigkeit liege.
So wurden auf diesem Kolloquium bereits einige wichtige Aspekte zusammengetragen und damit ein vielversprechender Anfang für „Plurale Wissenschaft und Spiritualität auf dem Prüfstand“ gesetzt, der gerne noch weitergeführt und vertieft werden könnte.
Angelika Sandtmann | AGiD, Vorstandsmitglied