Wissenschaft, Gesellschaft, Anthroposophie
Video-Beitrag von Dr. Jens Heisterkamp im Rahmen des Kolloquiums „Plurale Wissenschaft und Spiritualität im Fokus“ am 2. April 2022.
ZUM VIDEO-BEITRAG >
In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft, Gesellschaft und Anthroposophie heute? Jens Heisterkamp entwickelt dazu vier grundlegende Thesen:
1. Die naturwissenschaftliche Denkweise ist Steiner nicht fremd, sondern bildet für ihn eine Grundlage der Anthroposophie. Diese Haltung zeichnet sich dadurch aus, dass Tatsachen über Religion oder Ideologien stehen und das Kriterium der Schlüssigkeit von Aussagen sowie der Diskurs und die Freiheit höher bewertet werden als jede Form der Autorität. Steiner nennt diese Denkweise daher wertschätzend „ein Symptom“ der modernen Bewusstseinsverfassung.
2. Das Verhältnis von Rudolf Steiner und der Wissenschaft ist eine mehrschichtige Antwort. Sein Wissenschaftsbegriff umfasst weniger das empirisch erfassbare Wissen, sondern einen intuitiven Wissenszugang. Dieser Zugang muss allerdings derselben Nachvollziehbarkeit, Nachverfolgbarkeit und Systematik unterliegen wie das rein naturwissenschaftlich erfassbare Wissen.
3. Der Wissenschaftsbegriff heute unterliegt einer falschen Verkürzung. Unter anderem der Philosoph Holm Tetens kritisiert den heute gängigen, auf das empirisch Messbare reduzierten Wissenschaftsbegriff, da dieser bestimmte Formen der Wirklichkeit von vorneherein ausschließt. Man setzt voraus, dass die Wirklichkeit rein materieller Natur ist. Dieser problematische Reduktionismus kann vor allem den Menschen als bewusstes, reflektiertes Wesen nicht in sein Weltbild integrieren.
4. Die Wissenschaft wird mit falschen Erwartungen überladen und gerät immer mehr in die Gefahr einer Politisierung. Dies spiegelt sich in dem Ausdruck „follow the science“ wider, der eine stärkere Ausrichtung der Politik an der (reduktionistischen) Wissenschaft fordert. Die Wissenschaft sollte aber die Politik nicht leiten, sondern Teil eines pluralistischen politischen Geschehens sein. Schon die Philosophin Hanna Arendt bemerkte, Wahrheit sei nicht das Element des Politischen, in der Politik gehe es vielmehr immer um den Ausgleich von Interessen.
Wie kann also ein Ausweg aus diesem Dilemma aussehen? Die heutige Wissenschaft tritt mit einer Autorität auf, die an religiöse Machtstrukturen früherer Zeitalter heranreicht. Sie gibt vor, was diskutiert werden kann und untergräbt damit ihre eigene Basis – den freien Diskurs. Der zeitgenössische Philosoph Markus Gabriel bemerkt dazu sinngemäß: Der Versuch des wissenschaftlichen Weltbilds ist im 20. Jahrhundert gescheitert. Das liegt nicht an der Wissenschaft, sondern an der unwissenschaftlichen Auffassung, welche die Wissenschaft vergöttlicht und in die verdächtige Nachbarschaft zur ebenfalls falsch verstandenen Religion bringt. Nicht vergessen werden sollte, dass uns ja gerade diese reduktionistische Wissenschaft mit dem enormen Energieverbrauch und mit Erfindungen wie dem Kunstdünger, den Pflanzengiften, der Atomkraft und auch der Gentechnik in viele ökologische Katastrophen geführt hat. Die Anthroposophie muss solch einem fragwürdigen Wissenschaftsbegriff nicht hinterherlaufen. Sie bewegt sich vielmehr in einem Übergangsbereich. Aus der naturwissenschaftlichen Haltung kann sie allerdings den Selbstanspruch mitnehmen, die geistig erkannten Inhalte wirklich selbst zu überschauen und zu vertreten.
Dr. Jens Heisterkamp | geboren 1958 in Duisburg, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er studierte an der Ruhruniversität Bochum Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie und wurde 1988 zum Dr. phil. promoviert. Nach der Begegnung mit der Anthroposophie lernte er während seines Zivildienstes die Heilpädagogik kennen und arbeitete als Dozent in der Erwachsenenbildung, kurzzeitig auch als Waldorflehrer, dann als Herausgeber und Autor. Seit 1995 ist er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift info3 sowie Verleger und Gesellschafter im Info3 Verlag in Frankfurt am Main. Seine Themen sind Dialoge in Religion, Philosophie und Spiritualität, Offene Gesellschaft, Ethik.
Links: https://info3-verlag.de, http://www.jens-heisterkamp.de
Plurale Wissenschaft und Spiritualität im Fokus | Ein Kolloquium aus der Themenreihe „Anthroposophie im Fokus“ Die mediale Kritik an anthroposophischen Ideen und Praxis kann als Teil einer gesellschaftlichen Diskussion gewertet werden, in der wissenschaftlicher Methodenpluralismus in Frage gestellt wird und ein reduktionistisches Denken dominiert. In der Folge stellt sich einerseits die Frage, wie der umfassende Wissens- und Wissenschaftsbegriff Rudolf Steiners verstanden und eingeordnet werden kann. Andererseits möchten wir uns ein Bild des aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstands in Landwirtschaft und Medizin auf Basis der anthroposophischen Ideen machen.