30 Jahre mit Parzival
Micaela Sauber beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Parzival Wolfram von Eschenbachs. Immer noch entdeckt sie Motive ganz neu, die bildhaft erzählen, was zeitlos ist, und vieles darstellen, womit wir individuell und gesellschaftlich zu tun haben. Die Autorin berichtet über ihre Erfahrungen als Erzählerin anhand eines Erzählteppichs, gibt wertvolle Hinweise zum Studium und zur Beschäftigung mit der Geschichte Parzivals, auch für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen. Sie analysiert außerdem eine Passage am Ende der Geschichte Parzivals mit interessanten Interpretationen.
Vor 30 Jahren weihte mich Prof. Christel Oehlmann, die in Hildesheim Sozialpädagogik lehrte, in einer einwöchigen Klausur bei sich zu Hause methodisch und inhaltlich in Wolfram von Eschenbachs Parzival ein. Christel Oehlmann hatte einen Teppich mit 16 Bildern entwickelt, um daran ihren Kindern die Geschichten der 16 Kapitel Wolframs zu erzählen. Die Inspiration hierzu gab ihr die tausendjährige bronzene Bernward-Tür am Hildesheimer Dom, an der in U-Form die Menschheitsgeschichte erzählt wird. Acht Bilder zeigen den Niedergang, acht Bilder die Heilsgeschichte von der Verkündigung des Engels an Maria bis zur Begegnung zwischen Maria Magdalena und dem Auferstandenen. Diese Struktur der bildnerischen Umsetzung für Wolframs Parzival zu übernehmen bietet sich an.
Die Begegnung Parzivals mit dem Einsiedler Trevrizent am Karfreitag im neunten Kapitel ist das Herzstück des Epos. Zuvor war es in der Abwärtsbewegung der Ereignisse in Kapitel acht zu einem Niedergang mit hinterhältigen Verleumdungen und einer aufgebrachten mordlustigen Volksmenge gekommen. Dann folgt die Wende und erst danach sind durch ein sakramentales und therapeutisches Gespräch mit Schilderungen von Zusammenhängen, tiefer Selbstreflexion und Schulderkenntnis Kräfte gewonnen, um weitere Abenteuer zu bestehen und das Ziel von Versöhnungen, Heilungen und Gralskönigtum zu erreichen.
Es verging kein Jahr, in dem ich nicht diesen Stoff vor Publikum erzählte, darunter unzählige Male in Slowenien für Miha Pogačnik, den Meisterviolonisten, in seiner Initiative „Terra Parzival“. Die Parzival-Erzählungen begleiteten seine Bach-Solosonaten. Wir reisten durch herrliche Landschaften zu Orten, die noch unter Zauberbann zu liegen schienen. Im Frühjahr 2022 erzählte ich zum letzten Mal den ganzen Parzival auf dem Demeter-Gut Breitwiesenhof im Südschwarzwald für ein Seminar von Magdalena Ries.[1] Nachfolge suchend, fand ich drei Damen, die sich den riesigen Stoff zunächst in Seminaren mit mir und dann als Team weiter erarbeiteten und bereits zweimal aufführten. Das dritte Mal wird im Herbst 2025 im Stuttgarter Rudolf-Steiner-Haus sein.
Parzival für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Für die elfte Klasse der Waldorfschulen gibt es die Angabe, das Gralsepos nach Wolfram von Eschenbach zu bearbeiten. Seit 2020 ist ein kenntnisreicher Kommentar des Waldorflehrers Heinz Mosmann zugänglich. Dieses Werk möchte ich allen ans Herz legen, die mit pädagogischem Ernst die Entwicklungen der Jugendlichen ins Erwachsenenalter begleiten wollen. Es erschließt auch Quellen von biografischen Bezügen und Metaphern für Erwachsene. Mosmann führt Parzival-Enthusiasten und Sinn-Suchende zu manch tiefgründigen Zusammenhängen. Zum Vorlesen oder Selbstlesen empfehle ich die Erzählung Parzival von Marit Laurin und die vollständige Reclam-Ausgabe.
Kathedrale und Herzraum
Aus meiner Vertrautheit mit Chartres und in der Arbeit mit Wolfram von Eschenbachs Epos erschien mir sein Werk durchstrukturiert wie eine Kathedrale, versehen mit zahllosen Bildern voller Weisheit und Sinn, einer Architektur, die zum Himmel strebt und dabei irdische Materie verwandelt. Schweres wird leicht, Wände werden durchsichtig, farbige Bilder leuchten wie Edelsteine und erzählen Geschichten.
Wolfram schrieb seinen Parzival in etwa derselben Zeit, in der der heutige Bau von Chartres entstand, am Anfang des 13. Jahrhunderts. Rudolf Steiner erkennt diesen Dichter als einen vollkommen Eingeweihten (GA 92, 1.7.). Er spiegelt uns in archetypischen Motiven, in Bildern und Urbildern, nicht nur die eigenen Lebensrätsel und die Not unserer Zeit. Er zeigt uns auch den langen Weg zum heilenden Wort, der die Menschen, die ihn gehen, zu Liebenden macht. Joseph Campbell, ein amerikanischer Forscher, nennt das Epos „Kathedrale der Liebe“.[2]
Die junge Anthroposophin Magdalena Ries setzt sich in ihren Seminaren für das Öffnen von Herzräumen ein und erlebt bestimmte Augenblicke als Kathedralen, die entstehen können zwischen den Menschen, die sich miteinander auf einen Weg machen und das Aufeinander-Hören üben. Da kann sich verwandeln, was quälend war. Ein Lauschen und Sehen mit dem Herzen kann geübt werden. Das Parzival-Epos bietet sich in wunderbarer Weise dafür an.
Hier soll noch ein Motiv aus dem 13. und 14. Kapitel in Kürze behandelt werden.
Das Hindernis vor dem Ziel ‒ eine Episode in Gralsnähe
Das Ende der Erzählung ist nah, Unglaubliches ist geleistet worden, das große Fest nach der Befreiung des Zauberschlosses durch den edlen Artusritter Gawan wird schon vorbereitet. Parzival ist auch wieder aufgetaucht, einsam und unbesiegbar in allen Kämpfen, im Herzen ein Liebender. Er ist nicht mehr weit entfernt vom Ziel seines Strebens, was er selbst aber noch nicht weiß. Doch dann kommt einer und will mit Macht einen Unheil versprechenden Racheakt durchziehen. Eine vermeintliche Nebengeschichte entfaltet sich breit. Warum nur bringt Wolfram von Eschenbach diesen Konflikt mit dem hochmütigen, starrsinnigen und selbstzufriedenen König Gramoflanz ausgerechnet jetzt, in der Endphase seiner Komposition? Will der Dichter uns zeigen, dass auch der unbesiegbare, reine und liebende Held Parzival immer noch einen Rest von Hochmut und Eitelkeit besitzen könnte, aus dem er allein nicht herauskommt? Könnten wir gar uns selbst und unsere Umwelt in so einem Ereignis spiegeln?
Wir sind kurz vor dem Höhepunkt der Wege und Aufgaben Parzivals angekommen, der bald und endlich zum Gralskönig ausgerufen werden wird. Da blockiert diese unsympathische Gestalt alles. Einst hat er einen liebenden Ehegatten ermordet, um dessen schöne Frau zu besitzen, und damit eine endlose Kette von Gewalt und Leid ausgelöst. Obendrein hält er sich für den Tugendwächter der Menschheit und steckt doch tief in den Fängen des mächtigen Zauberers Klingsor, des Meister der Illusion, Verführung und Menschenverachtung, des Gegners des Grals. Doch Gramoflanz hat trotz allem ein Geheimnis. Mitten in der größten Rachegier und im Bedürfnis, seinen ungeheuren Reichtum vor großem Publikum protzig darzustellen, schickt er ein Liebesgedicht an eine Dame. Wir staunen darüber, dass er ihr noch nie von Angesicht zu Angesicht begegnet ist. Und doch haben die beiden ihre Liebe heimlich wachsen lassen und gepflegt. Königin Itonje ist die Schwester Gawans und war bis zur Befreiung des Zauberschlosses durch ihren Bruder eine Gefangene Klingsors. Jetzt will ihr Geliebter Gramoflanz mit ihrem Bruder auf Leben und Tod kämpfen. Der Grund dafür ist, dass Gawans inzwischen verstorbener Vater den Vater des Gramoflanz getötet haben soll. Das ist Blutrache über Generationen. Wie ist es möglich, dass dieser Mann im Begriff ist, seiner Liebsten durch seinen eigenen oder den Tod ihres Bruders ein solches Leid anzutun? Sie sandten einander Botschaften, ein Ringlein wanderte hin und her, ein Falke flog zum Geliebten. Und mitten im Aufruhr lesen wir dieses Liebesgedicht, ein wahres Meisterwerk. Es ist frei von aller Eitelkeit, Überheblichkeit und Kampfesgier. Wir erfahren, dass eine bescheidene weibliche Gestalt, Bene, die Tochter des Fährmanns, diese Liebe angezettelt hat. Nomen est omen bei Wolfram, meist ist es mehrdeutig, hier aber steht es eindeutig für die Eigenschaft „gut“. Bene dient den Menschen in ihrem Umkreis, die alle unter dem Einfluss des Zauberers stehen und kein normales soziales Leben führen können. Und siehe da – es entsteht ein geistig-seelisches Gewebe zwischen dem Wüterich und der Königin, in dem dieser Mann sich überraschend im Innern verwandelt. Die Kraft und Schönheit des Wortes in seinem Liebesgedicht bringen dieses Wunder ans Licht und durch diplomatisches Geschick im Umkreis kann er jetzt seine martialischen Absichten ohne Gesichtsverlust fallen lassen. Er wird sogar ein helfendes Glied in der königlichen Artus-Gesellschaft.
Hier ist Böses gutgeliebt worden! Ein Geflecht von Beziehungen und Heilungen wird offenbar und bildet den Boden für weitere Schritte zum allseitigen guten Ende.
Vor 700 Jahren hat Wolfram von Eschenbach seinen Parzival erdichtet, aus dem hier eine gern übersehene Episode behandelt wurde, die, wie das ganze Epos, Urbilder auch für unsere Zeit liefert.
Die Wirkung dieser Geschichten, besonders durch mündliches Erzählen, trifft die Menschen in ihren eigentlichen Wegen und Sinnfragen. Das ist meine Erfahrung bis heute, und ich bin dankbar, dass weitergeht, was ich aus Altersgründen nicht mehr so pflegen kann wie bisher. Mein Artikel, so hoffe ich, gibt eine bescheidene Anregung, dass Sie innerhalb der vorhandenen Gralsliteratur, vor allem aber bei Wolfram von Eschenbach selber finden und forschen, was Ihre eigenen Lebensfragen betrifft und erhellt, und vor allem, was in der Not unserer Zeit zu tun ist.
Micaela Sauber, Erzählerin, Hamburg
www.micaela-sauber.de
www.erzaehler-ohne-grenzen.de
Literatur:
STIL – Goetheanismus in Kunst und Wissenschaft, Ostern 2024, „Wege zum Gral“, 5 Vorträge, Kooperative Dürnau/Stil; abo.stil @goetheanum.ch
Heinz Mosmann: Der Parzival Wolframs von Eschenbach, Verlag Freies Geistesleben, ISBN 978-3-7725-2958-0
Wolfram von Eschenbach/Marit Laurin: Parzival, Verlag Freies Geistesleben, ISBN 978-3-7725-2690-9
Wolfram von Eschenbach: Parzival, Band 1 und 2, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch (Prosa), Reclam, ISBN 3-15-003681-X
Barbara Nordmeyer: Mitten hindurch – Schicksalsbilder aus der Gralssage, Verlag Urachhaus, ISBN 978-3-87838-167-0
Georg Kühlewind: Der Gral oder Was die Liebe vermag, edition tertium, ISBN 978-3-930717-51-4
Magdalena Ries, www.magdalena-ries.eu
[1] Magdalena Ries, www.magdalena-ries.eu
[2] Bruce Donehower in der Zeitschrift Stil, s. u.