Wird Anthroposophie in Georgien in Zukunft noch möglich sein?
In Georgien fanden vor einigen Wochen Parlamentswahlen statt. Damit wurde ein Regierungskurs bestätigt, der einen deutlich russlandfreundlicheren Kurs für das Land eingeschlagen hat. Eine der umstrittensten politischen Initiativen ist ein Gesetz nach russischem Vorbild, durch das vom Ausland finanzierte Organisationen sich registrieren und zunehmende Repressionen fürchten müssen. Das hat möglicherweise existenzielle Auswirkungen auf die anthroposophischen Einrichtungen in Georgien, die unter anderem Kontakte nach Deutschland und Europa unterhalten und vom „Westen“ auch finanziell unterstützt werden. Nikoloz Kanchaveli, der zusammen mit vielen Gleichgesinnten in Georgien und mit Unterstützung von Mitgliedern der AGiD die anthroposophische Jugendinitiative „Youth Society Parzival“ aufgebaut hat, berichtet vom aktuellen Zustand des Landes und den Auswirkungen auf die eigene Initiative.
Sebastian Knust: Georgien erlebt aktuell einen starken politischen Umbruch. Kannst Du beschreiben, was gerade passiert?
Nikoloz Kanchaveli: Ich habe vor zwei Wochen begonnen, Deine Fragen zu beantworten, und dachte, dass sich nicht so viel ändern würde, aber heute ist der 9. Dezember 2024 und derzeit verschlechtert sich die politische Situation in Georgien von Tag zu Tag. Deshalb musste ich viele Dinge korrigieren und fast neu schreiben.
Zunächst will ich die Folge der Ereignisse beschreiben: Nachdem die Regierungspartei „Georgischer Traum“ im Frühjahr das Gesetz zu „ausländischer Einflussnahme“ eingeführt hatte, wurde die politische Situation angespannt, da dieses Gesetz genutzt werden kann, um Kontrolle über alle Organisationen zu erhalten, die aus dem Ausland finanziert werden. Wenn sie mehr als 20 % ihres Einkommens aus dem Ausland beziehen, werden Organisationen – in der Hauptsache NGOs – als „ausländische Agenten“ deklariert, die im Interesse nichtgeorgischer Akteure handeln.
Wir hofften auf eine Veränderung in der Regierung durch die Wahlen am 26. Oktober 2024, doch die alte Regierung wurde bestätigt. Die Opposition spricht von Wahlfälschung und auch internationale Beobachter zweifeln am Ausgang der Wahl. Völlige Frustration und Nihilismus machten sich daraufhin bei uns breit. Wir dachten zunächst, es würde nichts Neues passieren, doch schon bald verkündete unser Premierminister, dass er die Verhandlungen mit der Europäischen Union bis 2028 einstellen werde. Außerdem entschied die neue Regierung, alle literarischen Werke, die mit Aufständen oder Konflikten Georgiens mit Russland in Zusammenhang stehen, aus dem Bildungssystem zu entfernen.
Die Erklärung des Premierministers stieß auf große Empörung. Seit dem 28. November finden in verschiedenen Städten (insbesondere in Tiflis) täglich große Demonstrationen statt. Bis zu 200.000 Bürgerinnen und Bürger kommen täglich auf die Straße und fordern Neuwahlen, um Bidzina Iwanischwili (den informellen Oligarchen-Herrscher des „Georgischen Traums“) loszuwerden, denn die Mehrheit der Bevölkerung sieht sich als Teil Europas: Die Geschichte und der spirituelle Hintergrund Georgiens sind eng mit Europa verbunden.
Die Demonstrationen, die bereits den zwölften Tag andauern, werden fast täglich von gewalttätigen Polizisten mit Gas- und Wasserwerfern aufgelöst. Wir sind mittlerweile so an Tränengas gewöhnt, dass wir keine Reaktion mehr zeigen. Gleichzeitig verhafteten die Behörden bisher etwa 500 Demonstranten, überwiegend junge Menschen. Dabei bedeutet Verhaftung, gewaltsam in ein Auto gezerrt und von Spezialeinheiten geschlagen zu werden. Darüber hinaus bildeten sich in den Straßen von Tiflis informelle, wahrscheinlich angeheuerte Gruppen, die die aktiven Teilnehmenden der Demonstrationen körperlich angreifen.
Jetzt scheint es, als hätten die georgischen Behörden es eilig, Georgien unter den vollständigen Einfluss Russlands zu bringen. Es gibt eine sehr starke Propaganda, mit der versucht wird, die Demonstranten für die Gewalt verantwortlich zu machen und so immer autoritärer werdende Maßnahmen zu etablieren. Georgien steht derzeit vor einer wirklich großen Prüfung! Eigentlich neige ich nicht zu radikalen Einschätzungen, aber es scheint mir offensichtlich zu sein, dass Russland durch den „Georgischen Traum“ eine (bisher noch) nichtphysische Eroberung Georgiens begonnen hat.
SK: Welchen Einfluss haben die politischen Entwicklungen auf die Youth Society Parzival und die gesamte anthroposophische Bewegung in Georgien?
NK: Während der Legislaturperioden des „Georgischen Traums“ gelang es ihnen Schritt für Schritt, alle wesentlichen Bereiche des Staates (Wirtschaftsbereich, Kirche usw.) unter ihre Kontrolle zu bringen. Ungehorsam sind nur jene zivilen öffentlichen Gesellschaften, die nicht unmittelbar auf staatliche Förderung angewiesen sind und überwiegend über Mittel aus dem Ausland verfügen. Deshalb hat das Parlament bereits im August das „Agent of Foreign Influence“-Gesetz erlassen. Dadurch ist die Regierung in der Lage, alle diese Organisationen zu unterwerfen. In diesem Bereich finden sich nahezu alle anthroposophischen Initiativen Georgiens.
Die Situation aller frei denkenden Organisationen wird unter dieser Regierung deutlich schwieriger sein. Vor allem, wenn man eine andere Meinung öffentlich äußert, fürchten wir, dass die Existenz und Arbeit der entsprechenden Organisation durch verschiedene Mechanismen sehr einfach gestoppt werden kann. Ich schließe nicht aus, dass eines Tages der Begriff „Anthroposophie“ zum Problem und aus diesem Grund begonnen wird, gegen anthroposophische Initiativen zu kämpfen. Schon jetzt ist es unter den zunehmend autoritären Bedingungen schwierig, eine Arbeit zu pflegen und weiterzuentwickeln, die ihrem Wesen nach Freiheit impliziert.
Derzeit gibt es viele anthroposophische Initiativen, die nicht im Rahmen des bestehenden Gesetzes registriert wurden, auch wir nicht. Dies bedeutet, dass wir jetzt mit Bußgeldern und einer anschließenden Registrierungspflicht rechnen müssen.
SK: Ihr seid auch politisch aktiv. Wie geht Ihr vor, welche Erfahrungen macht Ihr?
NK: Trotz dieser politisch kritischen Situation laufen die Aktivitäten in der Youth Society Parzival gut. Es ist schwierig, in dieser Situation zu handeln, da wir viel Energie in politische Themen und Aktivitäten investieren. Unabhängig davon geben wir unser Bestes, nicht mit unserer Arbeit aufzuhören, damit wir trotz der schweren Zeiten unser inneres Gleichgewicht bewahren und die begonnene Arbeit weiterbringen können. Denn diese ist von großer Bedeutung für die Zukunft.
Auch das ist eine Erfahrung: Wir müssen uns der realen Zukunftsgefahr stellen und die Angst überwinden. Wir denken und handeln nach Möglichkeit im Bewusstsein verschiedenster Konsequenzen, damit diese Krisensituation unserer Initiative keinen großen Schaden zufügt. Generell hat die Krise auch in der Gesellschaft viele gesunde Sozialformen herausgebildet. Vor allem bei jungen Menschen gibt es eine andere Art von Empathie und gegenseitiger Unterstützung, die zur Grundlage des zukünftigen gesellschaftlichen Lebens zu werden scheint.
Vor diesem Hintergrund wird uns immer deutlicher bewusst, wie wichtig die Existenz anthroposophischer Jugendinitiativen nicht nur in Georgien, sondern weltweit ist. Sie hilft, dass solche Überbleibsel der Vergangenheit – in diesem Fall der bolschewistischen Vergangenheit – überwunden werden. Wenn wir den Prozess mit einem spirituellen Blick betrachten, müssen wir in diesem Moment körperlich gegen die Kräfte kämpfen, die nicht wollen, dass der Mensch in der Gegenwart bleibt und in die Zukunft geht. Dies sind Kräfte, deren Präsenz die Entwicklung einer gesunden Gesellschaftsform in der Zukunft direkt bedroht und die keine Mühen scheuen.
SK: Wie können wir in Deutschland die Herausforderungen in Georgien und speziell bei der Youth Society Parzival positiv begleiten?
NK: Es ist wichtig, uns zunächst die Chance zu geben, anderen Menschen unsere aktuelle Situation deutlich zu machen. Vielen Dank also für die Gelegenheit, unsere Lage zu schildern. Die kommenden Tage werden mehr darüber verraten, wie die weitere Entwicklung unserer Situation und die nächsten Schritte aussehen werden.
Was wir in diesem Moment brauchen und was für Organisationen wie unsere immer wichtig ist, ist, dass wir die menschliche und geschäftliche Verbindung zu Europa und den Menschen dort nicht vergessen. Wir brauchen die ständige Zusammenarbeit mit Menschen, die unsere Seelenverwandten sind. Es ist wichtig, dass wir, die „Jugendgesellschaft Parzival“, immer eine lebendige Beziehung und Kommunikation mit Euch haben, auch wenn unsere Regierung die Beziehung zu dieser Welt immer mehr behindert. Das ist es, was wir wirklich brauchen!
Zudem benötigen wir Eure Unterstützung, wenn wir mit bestimmten finanziellen Sanktionen (Bußgeldern) konfrontiert werden.
Das Problem, das sich heute in politischer Form manifestiert, ist nicht nur das Problem unseres Landes oder nur das Problem von „Parzival“, es ist die aktuelle Epochenfrage, und es fühlt sich an, als stecke die ganze Welt in einer Krise. Deshalb ist es in dieser Zeit wichtig, gemeinsam und kooperativ Wege zu finden, damit die rohen, radikalen Kräfte der Menschheit nicht völlig aus dem Ruder laufen und wir den nötigen Schwung für die Zukunft bewahren.
SK: Vielen Dank für das Interview und viel Kraft für die kommende Zeit!
Wenn Sie die Arbeit der Youth Society Parzival unterstützen möchten, können Sie der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland eine Spende zukommen lassen. Wir leiten sie dann nach Georgien weiter:
Spendenkonto:
IBAN: DE51 4306 0967 0010 0845 05
Bank: GLS-Bank
Spendenziel: Youth Society Parzival