Angela Merkels Ansprache am 18. März 2020
...mit Ergänzungen, die sie leider (noch) nicht ausgesprochen hat

Die Ergänzungen stammen von Hans Supenkämper, Biologisch-Dynamischer Landwirt bei Wala und sind in Rot hervorgehoben. Bei Bedarf können die bekannten Teile der Rede zu Beginn auch übersprungen werden. „Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
das Coronavirus verändert zurzeit das Leben in unserem Land dramatisch. Unsere Vorstellung von Normalität, von öffentlichem Leben, von sozialen Miteinander - all das wird auf die Probe gestellt wie nie zuvor. Millionen von Ihnen können nicht zur Arbeit, Ihre Kinder können nicht zur Schule oder in die Kita, Theater und Kinos und Geschäfte sind geschlossen, und, was vielleicht das Schwerste ist: uns allen fehlen die Begegnungen, die sonst selbstverständlich sind. Natürlich ist jeder von uns in solch einer Situation voller Fragen und voller Sorgen, wie es weitergeht. Ich wende mich heute auf diesem ungewöhnlichen Weg an Sie, weil ich Ihnen sagen will, was mich als Bundeskanzlerin und alle meine Kollegen in der Bundesregierung in dieser Situation leitet. Das gehört zu einer offenen Demokratie: dass wir die politischen Entscheidungen auch transparent machen und erläutern. Dass wir unser Handeln möglichst gut begründen und kommunizieren, damit es nachvollziehbar wird.
Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als IHRE Aufgabe begreifen.
Deswegen lassen Sie mich sagen: Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.
Ich möchte Ihnen erklären, wo wir aktuell stehen in der Epidemie, was die Bundesregierung und die staatlichen Ebenen tun, um alle in unserer Gemeinschaft zu schützen und den ökonomischen, sozialen, kulturellen Schaden zu begrenzen. Aber ich möchte Ihnen auch vermitteln, warum es Sie dafür braucht, und was jeder und jede Einzelne dazu beitragen kann.
Zur Epidemie - und alles was ich Ihnen dazu sage, kommt aus den ständigen Beratungen der Bundesregierung mit den Experten des Robert-Koch-Instituts und anderen Wissenschaftlern und Virologen: Es wird weltweit unter Hochdruck geforscht, aber noch gibt es weder eine Therapie gegen das Coronavirus noch einen Impfstoff.
Solange das so ist, gibt es nur eines, und das ist die Richtschnur all unseres Handelns: die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen. Zeit, damit die Forschung ein Medikament und einen Impfstoff entwickeln kann. Aber vor allem auch Zeit, damit diejenigen, die erkranken, bestmöglich versorgt werden können.
Deutschland hat ein exzellentes Gesundheitssystem, vielleicht eines der besten der Welt. Das kann uns Zuversicht geben. Aber auch unsere Krankenhäuser wären völlig überfordert, wenn in kürzester Zeit zu viele Patienten eingeliefert würden, die einen schweren Verlauf der Coronainfektion erleiden. Das sind nicht einfach abstrakte Zahlen in einer Statistik, sondern dass ist ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen. Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt.
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit zu aller erst an alle wenden, die als Ärzte oder Ärztinnen, im Pflegedienst oder in einer sonstigen Funktion in unseren Krankenhäusern und überhaupt im Gesundheitswesen arbeiten. Sie stehen für uns in diesem Kampf in der vordersten Linie. Sie sehen als erste die Kranken und wie schwer manche Verläufe der Infektion sind. Und jeden Tag gehen Sie aufs Neue an Ihre Arbeit und sind für die Menschen da. Was Sie leisten, ist gewaltig, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür.
Also: Es geht darum, das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen. Und dabei müssen wir, das ist existentiell, auf eines setzen: das öffentliche Leben soweit es geht herunterzufahren. Natürlich mit Vernunft und Augenmaß, denn der Staat wird weiter funktionieren, die Versorgung wird selbstverständlich weiter gesichert sein und wir wollen so viel wirtschaftliche Tätigkeit wie möglich bewahren. Aber alles, was Menschen gefährden könnte, alles, was dem Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft schaden könnte, das müssen wir jetzt reduzieren.
Wir müssen das Risiko, dass der eine den anderen ansteckt, so begrenzen, wie wir nur können.
Ich weiß, wie dramatisch schon jetzt die Einschränkungen sind: keine Veranstaltungen mehr, keine Messen, keine Konzerte und vorerst auch keine Schule mehr, keine Universität, kein Kindergarten, kein Spiel auf einem Spielplatz. Ich weiß, wie hart die Schließungen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben, in unser Leben und auch unser demokratisches Selbstverständnis eingreifen. Es sind Einschränkungen, wie es sie in der Bundesrepublik noch nie gab.
Lassen Sie mich versichern: Für jemandem wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen. Sie sollten in einer Demokratie nie leichtfertig und nur temporär beschlossen werden - aber sie sind im Moment unverzichtbar, um Leben zu retten.
Deswegen sind seit Anfang der Woche die verschärften Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen zu einigen unserer wichtigsten Nachbarländer in Kraft.
Für die Wirtschaft, die großen Unternehmen genau wie die kleinen Betriebe, für Geschäfte, Restaurants, Freiberufler ist es jetzt schon sehr schwer. Die nächsten Wochen werden noch schwerer. Ich versichere Ihnen: Die Bundesregierung tut alles, was sie kann, um die wirtschaftlichen Auswirkungen abzufedern - und vor allem um Arbeitsplätze zu bewahren.
Wir können und werden alles einsetzen, was es braucht, um unseren Unternehmern und Arbeitnehmern durch diese schwere Prüfung zu helfen.
Und alle können sich darauf verlassen, dass die Lebensmittelversorgung jederzeit gesichert ist, und wenn Regale einen Tag mal leergeräumt sind, so werden sie nachgefüllt. Jedem, der in den Supermärkten unterwegs ist, möchte ich sagen: Vorratshaltung ist sinnvoll, war es im Übrigen immer schon. Aber mit Maß; Hamstern, als werde es nie wieder etwas geben, ist sinnlos und letztlich vollkommen unsolidarisch.
Und lassen Sie mich auch hier Dank aussprechen an Menschen, denen zu selten gedankt wird. Wer in diesen Tagen an einer Supermarktkasse sitzt oder Regale befüllt, der macht einen der schwersten Jobs, die es zurzeit gibt. Danke, dass Sie da sind für ihre Mitbürger und buchstäblich den Laden am Laufen halten.
Jetzt zu dem, was mir heute das Dringendste ist: Alle staatlichen Maßnahmen gingen ins Leere, wenn wir nicht das wirksamste Mittel gegen die zu schnelle Ausbreitung des Virus einsetzen würden: Und das sind wir selbst. So wie unterschiedslos jeder von uns von dem Virus betroffen sein kann, so muss jetzt auch jede und jeder helfen. Zu allererst, indem wir ernst nehmen, worum es heute geht. Nicht in Panik verfallen, aber auch nicht einen Moment denken, auf ihn oder sie komme es doch nicht wirklich an. Niemand ist verzichtbar. Alle zählen, es braucht unser aller Anstrengung. Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsames Handeln uns schützen und gegenseitig stärken können.
Es kommt auf jeden an. Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen. Wir haben ein Mittel dagegen: wir müssen aus Rücksicht voneinander Abstand halten. Der Rat der Virologen ist ja eindeutig: Kein Handschlag mehr, gründlich und oft die Hände waschen, mindestens eineinhalb Meter Abstand zum Nächsten und am besten kaum noch Kontakte zu den ganz Alten, weil sie eben besonders gefährdet sind.
Ich weiß, wie schwer das ist, was da von uns verlangt wird. Wir möchten, gerade in Zeiten der Not, einander nah sein. Wir kennen Zuwendung als körperliche Nähe oder Berührung. Doch im Augenblick ist leider das Gegenteil richtig. Und das müssen wirklich alle begreifen: Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge.
Der gutgemeinte Besuch, die Reise, die nicht hätte sein müssen, das alles kann Ansteckung bedeuten und sollte jetzt wirklich nicht mehr stattfinden. Es hat seinen Grund, warum die Experten sagen: Großeltern und Enkel sollten jetzt nicht zusammenkommen. Wer unnötige Begegnungen vermeidet, hilft allen, die sich in den Krankenhäusern um täglich mehr Fälle kümmern müssen. So retten wir Leben. Das wird für viele schwer, und auch darauf wird es ankommen: niemanden allein zu lassen, sich um die zu kümmern, die Zuspruch und Zuversicht brauchen. Wir werden als Familien und als Gesellschaft andere Formen finden, einander beizustehen.
Schon jetzt gibt es viele kreative Formen, die dem Virus und seinen sozialen Folgen trotzen. Schon jetzt gibt es Enkel, die ihren Großeltern einen Podcast aufnehmen, damit sie nicht einsam sind.
Wir allen müssen Wege finden, um Zuneigung und Freundschaft zu zeigen: Skypen, Telefonate, Mails und vielleicht mal wieder Briefe schreiben. Die Post wird ja ausgeliefert. Man hört jetzt von wunderbaren Beispielen von Nachbarschaftshilfe für die Älteren, die nicht selbst zum Einkaufen gehen können. Ich bin sicher, da geht noch viel mehr und wir werden als Gemeinschaft zeigen, dass wir einander nicht allein lassen.
Ich appelliere an Sie: Halten Sie sich an die Regeln, die nun für die nächste Zeit gelten. Wir werden als Regierung stets neu prüfen, was sich wieder korrigieren lässt, aber auch: was womöglich noch nötig ist.
Dies ist eine dynamische Situation, und wir werden in ihr lernfähig bleiben, um jederzeit umdenken und mit anderen Instrumenten reagieren zu können. Auch das werden wir dann erklären.
Deswegen bitte ich Sie: Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen, die wir immer auch in viele Sprachen übersetzen lassen.
Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung. Dies ist eine historische Aufgabe und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen.
Dass wir diese Krise überwinden werden, dessen bin ich vollkommen sicher. Aber wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren? Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand. Wir können jetzt, entschlossen, alle miteinander reagieren. Wir können die aktuellen Einschränkungen annehmen und einander beistehen.“
Die Corona Pandemie zeigt uns, dass sie keinen Halt macht vor Grenzen, vor Systemen, vor Diktaturen, Monarchien oder Demokratien, vor jung oder alt, vor arm oder reich, sie zeigt uns eindrücklichst, dass wir alle auf einer Welt leben, auf einer Erde! Sie zeigt, wie sensibel und gefährdet das Leben auf unserem Planeten ist. Das gilt es zu schützen, überall und immer.
Deshalb gilt es von nun an, und das zeigt die Krise sehr aktuell, dass wir es können, wenn wir nur wollen, von nun an gilt es Menschenleben zu retten. Das hat oberste Priorität in allen Lebensfeldern.
Alles, was bisher normal war, kann von jetzt an nicht mehr gültig sein und muss geändert werden. Jetzt gibt es die Chance, wirklich aus der Corona Krise zu lernen und von nun an anders zu handeln!
Von nun an geht es nicht mehr, dass nur ein Gramm Gift auf unsere Felder gespritzt wird: Wir vergiften unsere Erde und alles Leben.
Es geht nicht mehr, dass die Böden überdüngt werden, insbesondere durch Massentierhaltungen und überhöhte Kunstdünger-Gaben, so dass unser Grundwasser nicht mehr trinkbar ist oder bald sein wird.
Es geht nicht mehr, dass wir uns nicht kümmern um den Erhalt der Schöpfung und dass wir selbstverständlich die Lebensräume von Millionen von Tieren zerstören und ganze Tierarten aussterben. Tiere haben auch eine Würde, die geschützt und geachtet werden muss.
Von nun an geht es nicht mehr, dass wir nicht sofort Ernst machen mit Feinstaubbelastungen, sie muss reduziert werden, so schnell wie möglich. Da gibt es keinerlei Ausreden oder Vorbehalte, die jetzt noch verhindern können, dass der Himmel wieder blau wird und die Luft sauber.
Von nun an geht es nicht mehr, dass der CO2-Ausstoß nicht sofort reduziert wird. Es gibt kein Verständnis mehr, dass diese lebensnotwendigen Entwicklungen und Veränderungen nicht sofort umgesetzt werden, sondern über viele Jahre hinausgeschoben werden.
Es geht überhaupt nicht mehr, dass es in Deutschland keine effektive Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen und Landstraßen gibt, die nicht nur CO2 einspart, sondern Menschenleben rettet.
Es darf nicht mehr sein, dass die extrem ungleichen Lebensverhältnisse oder schreckliche Kriege oder die katastrophalen Folgen des Klimawandels Menschen zwingen, ihre Heimatländer zu verlassen und sich auf eine ungewisse, oft tödliche Flucht begeben sind absolut ungewisse und unsichere Verhältnisse voller Unmenschlichkeit und Würdelosigkeit.
Von nun an muss es vorrangig sein, dass jeder junge Mensch wirklich freien Zugang zu Bildung hat. Und das gilt für die gesamte Erde, für allem Menschen auf der Welt.
Von nun an soll wirkliche und wahrhaftige Pluralität auf der ganzen Welt leben können. Die volle Anerkennung, Achtung und Würde jedes Menschen haben höchste Priorität in allen Entscheidungen des Lebens. Das muss von jetzt an die höchste Priorität haben, insbesondere auch in allen politischen Entscheidungen. Das muss für die ganze Welt gelten ohne Ausnahme!
Es geht nicht mehr, dass Menschen in existenz-bedrohende Situationen fallen, ohne dass sie selber dafür aktiv Verantwortung tragen. Das Leben hat höchste Priorität und auch damit verbunden, die Notwendigkeit, dass die Gesellschaft, ja die ganze Welt, dafür sorgen muss, dass jeder Mensch eine gesicherte Grundversorgung bekommt, und zwar ohne Bedingungen, einfach weil sie oder er „Mensch“ ist.
Es darf nicht mehr sein, dass die Erde, so wie wir sie jetzt in ihrer Verletzlichkeit erleben und damit verbunden auch unsere Lebensqualität, dass diese Erde benutzt wird, um sich persönlich zu bereichern. Es ist absolut klar, dass die Erde aus allem Spekulieren heraus genommen werden muss, und zwar sofort. Dafür gibt es keinen Grund, auch nur einen Tag länger mit unserer Erde Profit machen zu wollen und zu können.
Es wird deutlich, wie noch nie zuvor, was exponentielles Wachstum heißt und im Leben bedeutet. Es bedeutet Krankheit, so wie uns die Ausbreitung des Virus es uns gerade in erschreckender Weise zeigt. Von nun an darf Wachstum in der Wirtschaft, in Wirklichkeit exponentielles Wachstum, nicht mehr die oberste Maxime unseres wirtschaftlichen Handelns sein.
Es darf nicht mehr sein, dass alle diese Themen dem Interesse des Kapitals oder des Systems oder der politischen Macht und Egoismen untergeordnet werden. Die ganze Erde fordert uns auf, alles in Frage zu stellen und ganz klar die Aufgaben der Zeit zu sehen: Leben retten!*
„Diese Situation ist ernst und sie ist offen. Das heißt: Es wird nicht nur, aber auch davon abhängen, wie diszipliniert jeder und jede die Regeln befolgt und umsetzt. Wir müssen, auch wenn wir so etwas noch nie erlebt haben, zeigen, dass wir herzlich und vernünftig handeln und so Leben retten. Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“
Das gilt insbesondere auch für uns Politiker und Menschen in politischen Verantwortungspositionen. Unsere Aufmerksamkeit, unsere Energie und unsere Maßnahmen fordern uns auf, höhere Ziele in den Blick zu nehmen, nämlich den Blick auf die ganze Erde, auf das Wohlergehen der ganzen Natur und aller Wesen, dem Wohlergehen der ganzen Menschheit.
Wir schaffen das! Corona zeigt uns, dass wir es schaffen können, wenn wir es wirklich wollen und konsequent sind in unseren Willen und unseren Herzenskräften und unserem ehrlichen, aufrichtigen und wahrhaftigen Bewusstsein. Wir schaffen das!
„Passen Sie gut auf sich und auf Ihre Liebsten auf. Ich danke Ihnen.“
Ansprache im Wortlaut >