Anthroposophie im Politischen Diskurs
Nach einer Veranstaltung mit Martin Barkhoff im Rudolf-Steiner-Haus Hamburg wurde durch den Artikel „Falsch abgebogen – Barkhoff auf AfD-Kurs“ eine Debatte um sein 2021 erschienenes Buch „Volkstod und Volksauferstehung“ angestoßen. Im Interview beschreibt Gerhard Stocker, Generalsekretär der AGiD, seinen Blick auf gesellschaftspolitische Entwicklungen sowie auf neurechte Tendenzen innerhalb der anthroposophischen Bewegung.
Sebastian Knust: Wie ordnest Du für Dich die Wahlerfolge der AfD bei den Landtagswahlen ein? Was fällt Dir dabei auf?
Gerhard Stocker: Der Erfolg der AfD in den beiden zurückliegenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern mit einer Quote in Volkspartei-Stärke manifestiert für meine Begriffe eine gravierende Krise der Demokratie. Es entsteht die Frage: Wohin geht die Reise unserer Gesellschaft? Wie verändern sich die Verhältnisse? Gewohntes scheint nicht mehr tragfähig genug zu sein, Zukunft hingegen bedrohlich, beängstigend, irritierend. Die politischen Funktions- und Entscheidungsträger scheinen mir mehr reaktiv als proaktiv zu handeln. Dass dabei der Eindruck von Verschleierung und Aussitzen der Probleme entsteht, kann nicht verwundern. In dieser Situation bietet eine Partei eine Scheinalternative an! Ob nun aus Protest oder Zustimmung, immer mehr Wähler entscheiden sich für die AfD, eine Partei, die eine Perspektive anbietet für das angeschlagene Selbstbewusstsein eines Volkes, das neuerdings, so wird behauptet, in internationale Abhängigkeit geraten sei. Dann folgt das perfide Versprechen: endlich eine Identität als Gleicher unter Gleichen ohne Fremdes und Fremden in der Nachbarschaft.
SK: Wie wirkt sich aus Deiner Sicht diese gesellschaftliche Entwicklung auf die Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland aus?
GS: Der kometenhafte Aufstieg der AfD spiegelt meiner Ansicht nach die Angst vor der Auflösung und Transformation bisher gültiger Paradigmen wider. Sicherheit, Wohlstand, Freiheit, Aufstieg sind nur noch für immer weniger Menschen garantiert. Das weckt Argwohn, Neid, Wut. Die etablierten Kollektive geben immer weniger Halt und Orientierung. Das Versprechen der AfD hingegen bietet an: griffige Anhaltspunkte und verheißungsvolle Orientierung, Regeneration eines verlorenen Heimatgefühls, die Wiedergewinnung einer alten Identität für ein ganzes Volk.
Der Anthroposophischen Gesellschaft geht es im Gegensatz dazu um ein Verständnis des Menschen als Individuum, das in der Lage sein kann, aus eigener Erkenntnis zu handeln. Das bedeutet „ethischen Individualismus“ und damit eine radikale Selbstständigkeit des Menschen, der sich seiner selbst und seiner Verantwortung bewusst ist. Die Anthroposophie fokussiert das Ich des Menschen in voller Verantwortung für seine Mit- und Umwelt. Anthroposophie steht damit im Gegensatz zu einer Annäherung an Blut-und-Boden-Kollektivismen und wirkt dem entschieden entgegen. Ich sehe es als Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft an, dies deutlich zu machen.
Zugleich ist aber der „ethische Individualismus“ unbequem und anstrengend. Er erfordert von jedem Einzelnen große innere Anstrengungen. Populistische Ethiken hingegen versprechen ihrer Gefolgschaft, dass es im Schoße eines ideologischen Kollektivs sorgenfrei in die Zukunft ginge.
SK: Wie kommt es, dass die Auseinandersetzung mit dem Briefwechsel von Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld, der unter dem Titel „Volkstod – Volksauferstehung“ veröffentlicht wurde, jetzt relevant ist?
Das Buch hat inzwischeneinen gewissen Durchbruch erzielt. Es lag ja schon länger gewissermaßen unter dem Ladentisch. Durch Vorträge Barkhoffs in Hamburg – allerdings unter anderslautendem Titel – zog das als Briefwechsel inszenierte Buch die von den Autoren gewünschte Aufmerksamkeit auf sich. In der Zeitschrift „Info3“ hat Chefredakteur Jens Heisterkamp dann mit einem ausführlichen Artikel eine Debatte angestoßen. Die Veranstalter in Hamburg haben sich von Barkhoff distanziert und entschieden, ihn nicht mehr als Vortragsredner einzuladen. Eine kritische Rezension dieses Buches ist in Vorbereitung und soll in der Zeitschrift „DieDrei“ erscheinen.
SK: Was ist aus Deiner Sicht das Problem an dem Briefwechsel „Volkstod – Volksauferstehung“?
GS: In prägnantem, komprimiertem Duktus werden Ausführungen von R. Steiner zu Kulturentwicklung und Volkszusammenhängen referiert und in Barkhoffs Interpretation der gegenwärtigen und zukünftigen Verhältnisse der Deutschen eingebaut. Diese Komprimierung ist problematisch, weil zunächst nicht mehr unterschieden werden kann, was einerseits die Ansichten Steiners und andererseits diejenigen Barkhoffs sind. Und gerade die Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Volkseele“ braucht aus meiner Sicht im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine sachliche Einordnung.
SK: Gibt es eine Stelle im Buch, die für Dich besonders problematisch ist – gerade im Hinblick auf den Begriff Volksseele?
GS: M. Barkhoff räsoniert über die „eindrucksvolle Kampfkraft der deutschen Armeen in den letzten 160 Jahren“. Diese Kräfte finde man, so Barkhoff, „wenn man auf die Ich-Natur des Menschen baut“. Da plumpst aus meiner Sicht unversehens die Ich-Philosophie des deutschen Idealismus in die Niederungen militärischen Größenwahns und Zeiten menschenverachtender Barbarei. Da haucht mich der kalte Atem deutscher Stahlgewitter an. Die Adressaten dieses kulturellen Niveau-Shifts sind schnell auszumachen. Diese Kontextualisierung des anthroposophischen Ich-Begriffs zeigt mir an, dass sich der Autor damit auf ein falsches, abschüssiges Feld verirrt hat.
SK: Wie wertest Du den Veröffentlichungskontext?
GS: Die Widmung des Buches lässt kaum Zweifel daran, wes Geistes Kind es ist: Es ist Thor von Waldstein zugedacht, einem einflussreichen Vordenker der extremen Rechten. Das gilt ebenso für den Verlag Antaios in Schnellroda, in dem das Buch veröffentlicht wurde. Dieser wird vom Inlandsnachrichtendienst als sogenannter Verdachtsfall bezeichnet. Davon wird gesprochen, wenn „hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte“ für verfassungsfeindliche Bestrebungen erkennbar sind. Hinzu kommt: Die AfD und u. a. ihr thüringischer Fraktionsvorsitzender Björn Höcke verstehen Schnellroda als ihr intellektuelles Zentrum. Will M. Barkhoff damit den sog. Skeptikern und ähnlichen anthroposophiekritischen Gruppierungen eine Steilvorlage liefern, weil er nun als „Anthroposoph“ in einem zweifelsfrei außerhalb eines demokratiefreundlichen Kontextes stehenden Verlag veröffentlicht?
SK: Mit welchen Hoffnungen wird aus Deiner Sicht hier gespielt?
Diese Briefe legen den Finger in eine Wunde der Anthroposophie, die aus meiner Sicht darin besteht, dass viele dieser von Barkhoff bemühten Steiner’schen Forschungsergebnisse im Laufe des letzten Jahrhunderts nicht wirklich öffentlich – auch nicht innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft – diskutiert, sondern höchstens instrumentalisiert wurden, u.a. durch faschistische Ideologien. Nun kommen von der rechtsextremistischen Seite des gesellschaftlichen Spektrums sehr intellektuell gehaltene und daher in der öffentlichen Wirkung unverdächtige Annäherungen an die anthroposophische Philosophie. Das entspricht einer typischen Instrumentalisierungstaktik der „Neuen Rechten“. Dass sich dahinter über taktische Überlegungen hinaus ein echtes Interesse an der Anthroposophie verbirgt, bezweifle ich sehr.
SK: Welches Fazit ziehst Du?
GK: Wenn ein Repräsentant der Anthroposophie, der Themen wie „Michael“, „Christus“ und „Deutschtum“ aus seiner Sicht erklärt und dies in pädagogisch anmutende Briefe kleidet, sein Elaborat in einem politisch eindeutig rechtsnationalistisch orientierten Verlag veröffentlicht, dann muss ich sagen: Er provoziert und er spielt mit dem Feuer.
Es ist zu erwarten, dass Steiner in Zukunft vermehrt unabhängig von dem anthroposophischen Milieu gelesen und zugleich von unterschiedlichsten Richtungen vereinnahmt wird. 100 Jahre nach seinem Tod gehören Rudolf Steiner und die Anthroposophie der Welt! Daher ist es unsere Aufgabe als Anthroposophische Gesellschaft, sehr wach und aufmerksam zu verfolgen, wer sich mit welchen Motiven die Gedanken anthroposophischer Philosophie aneignet oder sie gar instrumentalisiert.
SK: Welche Möglichkeiten der Positionierung hat die AGiD und welche Schritte sind aus Deiner Sicht notwendig?
GS: Die AGiD mit all ihren Zweigen, Gruppen und Arbeitszentren ist auf dem oben erwähnten „ethischen Individualismus“ aufgebaut. Ich sehe daher überhaupt keine Berechtigung, diesen Prozess top-down zentral zu steuern. Das Arbeitskollegium hat kein Mandat, die Anthroposophie im politischen Spektrum zu positionieren.
Dennoch sehe ich die Notwendigkeit, problematische Entwicklungen zu benennen, einzuordnen und die öffentliche Reputation der Anthroposophie zu schützen bzw. weiterzuentwickeln. Zeitereignisse, wie etwa die Veränderungen der politischen Verhältnisse als Ausdruck einer demokratischen Krise, werfen Fragen auf, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden. Gerät die Anthroposophie in solch einen öffentlichen Diskurs, so hat das Arbeitskollegium der AGiD selbstverständlich die Aufgabe, sich als Anwalt der anthroposophischen Sache den Herausforderungen zu stellen.
Weitere Veröffentlichungen zu dem Thema
- Falsch abgebogen: Martin Barkhoff auf AfD-Kurs. Jens Heisterkamp, info3 9/2023
- Stellungnahme der Verantwortlichen
- Distanzierung des Rudolf Steiner Hauses Hamburg
- Anthroposophie im politischen Diskurs. Interview in voller Länge.