„Der Wolkendurchleuchter“: Eine Freiburger Gruppe zeigt Friedrich Doldingers Widerstandsdrama im Goetheanum
Deutschland in den 1930er-Jahren – Menschen in der Krise: Eine Frau, die ihren Arbeitsplatz an einen „Automaten“ verloren hat, sucht neue Wege. Ein Staatsanwalt wird an seiner Tätigkeit für einen immer übergriffiger werdenden Staat psychisch krank und flüchtet sich in ein Sanatorium. Ein heilpädagogischer Lehrer bereitet die Mitglieder seiner „Michaelsbewegung“ auf schwere Zeiten vor, während ein seelenpflegebedürftiges Mädchen das Böse sieht und fühlt. Aufgebrachte Arbeitslose, im Boxverein organisiert, stürmen ein Lokal und verprügeln Menschen bei der Heileurythmie. Unruhige Menschenmassen begeistern sich für eine Technik-Show: Lichtprojektion auf Wolken, von unten.
Helfrid Foron hat mit seiner Freiburger Spielergruppe ein herausforderndes Stück neu belebt, das zwar neunzig Jahre lang vergessen war, aber in vielem noch immer ins Schwarze trifft. Dieses ungewöhnliche Bühnenstück erinnert mit seinem Collagenstil und der Atmosphäre beunruhigter Vorahnung an den Expressionismus; sein Autor war selbst eine Ausnahme: Friedrich Doldinger, der 25-jährig einer der Gründungspriester der Christengemeinschaft geworden war. Doldinger war ein vielseitig begabter und extrem kreativer Mensch, er liebte die Improvisation und das Provisorium. Der Priester und Seelsorger seiner Freiburger Gemeinde betätigte sich zugleich als Dichter, Schriftsteller, Komponist und Maler. Seine Zeitgenossen schätzten Doldinger als freien Geist – er konnte Erstarrtes in Bewegung bringen. Andere empfanden seinen unkonventionellen, eigenwilligen Gestus mitunter als Zumutung.
Das Theaterstück „Der Wolkendurchleuchter“ schrieb Doldinger 1930, in der Endphase der Weimarer Republik mit ihren sozialen und ideologischen Zuspitzungen. Das Stück entstand für eine überregionale Sommertagung der Christengemeinschaft, die der 33-jährige Doldinger in Freiburg organisierte. Ein konkretes Vorbild für einen der Handlungsorte hatte Doldinger mit dem Sanatorium Wiesneck in Buchenbach bei Freiburg vor Augen. Mit dem anthroposophischen Psychiater Friedrich Husemann und dessen Sanatorium war Doldinger über Jahre als Seelsorger verbunden, Husemann spiegelt sich in der Figur des „Arztes“. In die Figur des heilpädagogischen „Lehrers“ hat Doldinger sicher Aspekte seines eigenen großen Lehrers Rudolf Steiner aufgenommen – ein wenig aber könnte der Autor sich auch selber in dieser Gestalt gesehen haben. Auch Züge des historischen Husemann könnten auf den „Lehrer“ eines esoterischen, inneren Widerstands übergegangen sein – so interpretiert es jedenfalls Forons Inszenierung. Letztlich bleiben alle Figuren des Stücks überpersönlich – keine von ihnen trägt einen richtigen Eigennamen.
Die Züge der damaligen Gegenwart porträtiert Doldinger so humorvoll wie scharf. Er nimmt in fast erschreckend zutreffender Weise vieles vorweg, was erst in den folgenden Jahren des Nationalsozialismus Wirklichkeit werden sollte – von perfiden Strategien der Macht und des Bösen über die tragische Dynamik des Mitläufertums bis zur Idee der Tötung „lebensunwerten Lebens“ durch Giftgas, die tatsächlich im Stück vorkommt. Auch hier ist es Doldinger gelungen, über die konkrete historische Situation hinauszugreifen und tiefer liegende Tendenzen zu erfassen.
Der titelgebende „Wolkendurchleuchter“ tritt im Stück wirklich auf, auch wenn Doldinger keine Regieangaben zu seiner Erscheinung machte. Foron entschied sich gegen eine äußerliche Sichtbarkeit, kein Deus ex Machina erscheint hier zur Rettung; und auch Michael, der „Wächter des Wolkentores“, wird nicht sichtbar gemacht. In einem Stück im Stück – der kranke Staatsanwalt hat es zu seiner Selbstheilung verfasst – ist es „der Mensch“, der sich einem „Wolkentribunal“, einem inneren Gerichtsverfahren, zu stellen hat. „Wenn alles zusammenbricht, ist das Ich des Menschen das Einzige, was noch besteht“, formuliert an anderer Stelle der „Lehrer“. Sein nicht korrumpierbares Festhalten am inneren Aufrechtsein bezahlt er schließlich mit dem Leben.
Eine Ausnahme war Friedrich Doldinger auch in seinem Sprachgebrauch. Er hat nicht nur politisch klar gesehen, was im Kommen war, sondern auch darauf verzichtet, die Dinge mit Vokabeln der politischen Oberfläche zu beschreiben, die selber Teil des manipulativen Spiels waren und sind. Keine „Nationalsozialisten“ sind erwähnt, nicht einmal die Begriffe „rechts“ und „links“ werden verwendet. Der Blick geht auf den Kern der Sache – und das macht dieses Stück so durchscheinend auch für heutige Verhältnisse.
Doldinger hat es sich auch nicht nehmen lassen, in der Christengemeinschaft und in der Anthroposophischen Gesellschaft zu Hause zu sein – und in Letzterer mit beiden damaligen Seiten in gutem Kontakt zu stehen, mit Albert Steffen ebenso wie mit Ita Wegman. „Ehrlich ist der Mensch, der sich der unerhörten Spannung zwischen seiner niederen Wesenheit und seinem hohen Ich bewusst wird, sie erträgt und unablässig danach ringt, so lange nach der Katastrophe immer wieder aufzustehen, bis das Aufstehen einmal ein endgültiges ist“, lässt er den „Lehrer“ im Stück sagen.
Am Sonntag, 23. Februar 2025, wird Doldingers „Wolkendurchleuchter“ vom Colmarer Regisseur Helfrid Foron und seiner engagierten Laientruppe aus dem Freiburger Raum auf die Bühne des Grundsteinsaals im Goetheanum gebracht, unterstützt von Studierenden des Eurythmeums in Aesch. Am historischen Ort des Geschehens, in der Friedrich-Husemann-Klinik in Buchenbach bei Freiburg, kann das Stück am Sonntag, 16. Februar 2025, um 16 Uhr in einer öffentlichen Generalprobe erlebt werden.
Julia Selg