25 Jahre interdisziplinärer christlicher Dialog
Wolfgang Kilthau vom Rudolf-Steiner-Haus Frankfurt hat vor mehr als 25 Jahren den Arbeitskreis Anthroposophie und Theologie mitbegründet. In regelmäßigen Abständen beschäftigen sich die Teilnehmer darin mit Fragen rund um das Verhältnis von Anthroposophie und Christentum. Der überregionale AK wird von den beiden Arbeitszentren Frankfurt und Stuttgart gefördert. Im Kurzinterview gibt WK einen Überblick über die Tätigkeitsfelder und aktuelle Fragestellungen.
Sebastian Knust: Mehr als 25 Jahre interdisziplinärer Dialog ist eine lange Zeit. Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Euch im Arbeitskreis eine Vielzahl an theologischen Fragestellungen vorgenommen habt. Kannst Du einen Einblick in Eure Arbeitsweise geben und einen groben Überblick über die Themen?
Wolfgang Kilthau: Unsere Arbeitsweise hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Als Ende der 90er-Jahre der AK ins Leben gerufen wurde, galt es, dialogbereite Theologen zu finden; es war eine Zeit, in der die Christlichkeit der Anthroposophie negiert bzw. massiv in Zweifel gezogen wurde. Seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts erschien eine ganze Reihe von Dissertationen und auch Habilitationen, die mehr oder weniger kritisch ausgelegt waren. Der Pfarrer Jan Badewien und andere reisten damals durch die Republik, um vor der unchristlichen Anthroposophie zu warnen. In diesem Umfeld schrieb Hellmut Haug, selbst evangelischer Theologe, der eine innere Beziehung zur Anthroposophie fand, das Buch „Wie christlich ist die Anthroposophie?“, zunächst unter dem Pseudonym Andreas Binder. So war auch unsere Arbeitsweise apologetisch geprägt, es ging um Versuche der Richtigstellung und Aufklärung vermeintlicher Missverständnisse.
SK: Wie kam es zur Gründung des AK?
WK: Mit der Vielzahl der akademischen Schriften entstand das Bedürfnis, diese Publikationen wahrzunehmen, zu sichten, die Kritik verstehen zu lernen und sich in die Denkvoraussetzungen der Theologie hineinzuversetzen, um mit dialogbereiten Theologen ins Gespräch zu kommen. Sehr hilfreich war der oben erwähnte Hellmut Haug, der aufgrund seiner zahlreichen Kontakte viel zur Konstitution des AK beitrug. Dialogbereit waren bis jetzt überwiegend evangelische Theologen, oft erst nach Aufgabe ihrer öffentlichen Ämter. Letzteres hatte den Vorteil, dass sie ungebundener an die Themen herangehen konnten.
SK: Welche Themen haben Dich besonders interessiert oder vielleicht auch betroffen gemacht? Kannst Du zwei oder drei Beispiele beschreiben?
WK: Ein zentrales Themenfeld war natürlich der theologische Grundgedanke von der Erlösung durch die göttliche Gnade und dem darin gründenden Vorwurf der „Selbsterlösung“. Man muss sich vergegenwärtigen, dass lutherische Kernelemente wie „allein durch Christus“, „allein durch Gnade“ jeden Dialog mitbestimmen. Jede Art willentlicher Mitwirkung an einer Höherentwicklung kommt da sehr leicht in den Verdacht der Selbstüberhebung, der „Titanik“ des Menschen, ja der Vergöttlichung des Menschen.
Die Rede vom Karma, von Ursache und Wirkung, verstärkt die Befremdlichkeit, erweckt den Eindruck, als sei das Schicksal berechenbar, kalkulierbar und würde die Kontingenz göttlichen Handelns, seine Allmacht, Offenheit und Unberechenbarkeit, beschneiden.
Besonders eindrucksvoll in ganz anderer Hinsicht, nämlich im Sinne der unvermuteten Ergänzung, war aber eine Sitzung mit dem katholischen Religionsphilosophen Thomas Schärtl (heute Professor für Fundamentaltheologie an der Universität München) zum Thema Auferstehung. Dessen Unterscheidung zwischen Leib und Körper läuft nämlich dezidiert auf ein nichtsinnliches Verständnis des Leibes hinaus und die Denkbarkeit einer Auferstehung im Tod. Ähnlich bilden Steiners Darlegungen über die Zusammengehörigkeit von Ich und Phantom die Grundlage für das Erfordernis einer Todesüberwindung auch des nichtmateriellen Leibes. Steiners Darstellungen aus „Von Jesus zu Christus“ und die rein denkerischen Vorstellungen Schärtls in der kritischen Auseinandersetzung mit analytischen Religionsphilosophen sind an diesem Tag geradezu ereignishaft aufeinander zugelaufen und haben sich getroffen. Wiederum sehr eindrucksvoll waren die Gespräche über ein Verständnis für die Höllenfahrt Christi, also der Befreiung der Verstorbenen am Karsamstag, mit dem evangelischen Theologen Felix Gietenbruch, dessen spannendes Buch dazu im kirchlichen Bereich kaum diskutiert wurde, aber fruchtbare Beziehungen zu manchen Äußerungen Steiners entdecken ließ.
SK: Wie arbeitet Ihr gerade mit Themen, die im Verhältnis zu einem kirchlichen Christentum zu Kontroversen führen? Ich denke da z. B. an Reinkarnation und Karma oder auch an eine geisteswissenschaftliche Annäherung an die geistige Welt etc.
WK: Wir stellen die Anthroposophie nicht als „Geisteswissenschaft“ dar, sondern nehmen Werke Steiners direkt von solchen Inhalten her, die sich theologischen Werken gegenüberstellen lassen. Der Reinkarnationsgedanke ist dabei weniger problematisch als der Karmagedanke. Der Theologe Christoph Gestrich, der einige Jahre mit uns zusammengearbeitet hatte, konnte kurz vor seinem überraschenden Tod noch ein Buch über die Seele veröffentlichen, das ein ausführliches freundliches Kapitel über die Anthroposophie enthielt. Sein Problem mit der Reinkarnation war die Frage nach der Identität des Menschen über mehrere Erdenleben hinweg. Beim Karma gilt es vor allem die Komplexität des Karmabegriffs Steiners sichtbar werden zu lassen, da problematische Verflachungen das Feld bestimmen. Es ist ja nur eine kleine Teilwahrheit, dass das, was gesät wurde, auch geerntet werden muss. Karma ist aber nicht nur vergangenheitsbezogen; das zeigt z. B. die eindrückliche Szene der Ehebrecherin im 8. Kap. des Johannesevangeliums; ihre Schuld wird in die Erde geschrieben, aber Christus verurteilt sie nicht und entlässt sie mit den Worten: „Gehe hin und sündige fortan nicht mehr.“ Damit wird ein Zukunftsraum menschlichen Handelns eröffnet. Über diese rätselhafte Szene kann man lange auf Augenhöhe mit den Theologen reden.
SK: In der Theologie gibt es ja immer auch die Tendenz zur Objektivierung der Religion. Anthroposophie möchte aber auch hineingehen ins Geistige. Wie geht Ihr speziell mit solch einem Gegensatz um?
WK: Unsere Erfahrung mit der Theologie hat uns die erstaunliche Vielschichtigkeit theologischer Ansätze und eine unübersehbare Entwicklung im letzten Jahrhundert gezeigt, vor allem was die Interpretationen der Evangelien angeht. Auch die sogenannte dogmatische oder systematische Theologie (das ist ein Zweig der Theologie) ist in Bewegung. Gleichwohl gibt es hier grundlegende Voraussetzungen. Diese Tatsache habe ich ja schon mit dem Verdacht auf die Selbsterlösung angedeutet. Und gerade zuletzt hat ein Theologe – aufgrund des vertrauensvollen Verhältnisses, das sich in vielen Jahren gebildet hat – die Frage gestellt, ob denn der Weg in die höheren Welten nicht nach das Streben nach einer gottähnlichen Vollkommenheit bedeute.
Wenn man frühe Äußerungen Steiners hört, wie z. B. die bekannte Antwort auf einem Fragebogen: „An Gottes Stelle den freien Menschen“, kann man sie leicht missverstehen. Der Mensch wird einmal Gott ersetzen? Diese Art der Selbstüberhebung und eine vermeintliche Vergöttlichung in diesem Sinne müsste für jeden Anthroposophen ein erschreckender, ja absurder Gedanke sein. Eher könnte man wieder johanneisch antworten: Das Ziel menschlicher und geistiger Entwicklung wäre, eine „Rebe am Weinstock“ zu werden. Außerdem gilt der Grundsatz: Jede Höherentwicklung kann nur geschehen, wenn man durch das Tor der Demut geht. Im Übrigen dient ein Satz eines Mitglieds unseres AK als Gesprächsgrundlage: „Christus schenkt die Kraft der Selbsterlösung.“
SK: Welche Themen bewegen Euch aktuell und was habt Ihr in der kommenden Zeit vor? Kannst Du einen Ausblick geben?
WK: Schon seit Längerem haben wir uns von der Apologetik, von Angriff und Verteidigung verabschiedet. Vielmehr geht es um ein gemeinsames Arbeiten, das nicht in ein einziges Ergebnis münden muss, nicht in einen finalen Konsens, das aber wohl für alle Beteiligten neue Anstöße oder Klärungen erzeugt. Dass die Denkvoraussetzungen von Anthroposophie und Theologie sehr verschieden sind, ist nicht problematisch, wenn man sich diese Voraussetzungen als solche bewusst machen kann. Unser Ziel besteht heute darin, durch das Gegenüber einen Sinn für die uns jeweils prägenden unterschiedlichen und nie völlig bewusst gemachten Verständnishorizonte zu schaffen. Auf dieser Grundlage suchen wir der Gefahr des Dogmatisierens oder Systematisierens zu entgehen. Dabei ist die hermeneutische Philosophie Hans Georg Gadamers sehr hilfreich, denn sie schult den „hermeneutischen“ Umgang mit Werken, sei es der Umgang mit den Evangelien, mit deren sehr unterschiedlichen theologischen Interpretationen oder mit den Werken Rudolf Steiners. Hier handelt es sich um den Eintritt in die Tätigkeit eines Verstehens, das immer auch sich selbst beobachtet und sich von vorschnellen Erklärungen oder von unfruchtbarem Systematisieren oder erkenntnistheoretischen Forderungen freihält.
So haben wir in den letzten drei Jahren bis heute schwerpunktmäßig an der ersten Hälfte des Johannesevangeliums gearbeitet und sie miteinander ergebnisoffen erkundet. Zuletzt wurde dieses Vorgehen an dem 10. Kap. über den Blindgeborenen praktisch erprobt und anhand des neuen Buches von Jörg Ewertowski „Blindgeboren. Zwischen Fundamentalismus und Relativismus“ intensiv erarbeitet. Das Buch interpretiert freilich nicht nur das Johannesevangelium, sondern es zeigt auch einen neuen Weg zum Umgang mit dem Werk Steiners auf, was in diesem Kreis jetzt nicht thematisiert wurde, aber vielleicht den Dialog erleichtert hat. – Beim nächsten Kolloquium werden wir uns mit dem neuesten Buch von Günther Dellbrügger, „Was wir den Engeln geben können. Wege eines lebendigen Zusammenwirkens“ sowie einer wissenschaftlichen Veröffentlichung von Felix Gietenbruch über die Geistleiblichkeit von Verstorbenen in Nahtodeserfahrungen beschäftigen („Leibhaftige Gestalten. Berichte über Begegnungen mit Verstorbenen und außerkörperliche Erfahrungen in leibphänomenologischer Perspektive“). Angedacht ist für die Zukunft, das hiermit verflochtene Thema „Anthropologie“ im Vergleich theologischer und anthroposophischer Werke zu bearbeiten.
Der Interviewtext ist unter redaktioneller Mitarbeit von Jörg Ewertowski entstanden.
Zur Zeit arbeiten in dem AK mit: Dr. Günther Dellbrügger (Christengemeinschaft), Dr. Jörg Ewertowski (bis Mai 2024 Bibliothekar im Rudolf-Steiner-Haus Stuttgart), Dr. Ruth Ewertowski (Redaktion der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“), Philipp Fürdens (Waldorflehrer), Frank Hörtreiter (früherer Öffentlichkeitsbeauftragter der Christengemeinschaft), Dr. David Marc Hoffmann (Rudolf-Steiner-Archiv Dornach), Wolfgang Kilthau (Rudolf-Steiner-Haus Frankfurt), Johannes Roth (jetziger Öffentlichkeitsbeauftragter der Christengemeinschaft) / von theologischer Seite: Gerhard Maag (Koordinator der evangelischen Religionslehrer an Waldorfschulen in der Landeskirche in Württemberg), Prof. Christoph Führer (christ-katholische Kirche), Felix Gietenbruch (evangelisch-reformierte Kirche), Dr. Friedrich Hertel (evangelische Kirche), Andreas Oelze (Weltanschauungsbeauftragter der evangelischen Landeskirche in Württemberg), Helmut Weingärtner (evangelische Kirche).
Wolfgang Kilthau: geb. 1956, Studium der Germanistik und Geschichte in Trier und Heidelberg, rege Mitarbeit in anthroposophischen, auch überregionalen, Studentengruppen, Mitte der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre Mitarbeit am Friedrich-von-Hardenberg-Institut, seit 1985 für die Anthroposophische Gesellschaft in Frankfurt tätig, zuerst für das Arbeitszentrum Frankfurt, ab 2000 für das Rudolf-Steiner-Haus Frankfurt, Mitarbeit im berufsbegleitenden Seminar für Waldorfpädagogik Frankfurt.