Geschäfte führen bei der Anthroposophischen Gesellschaft
Alexander Thiersch, der langjährige Geschäftsführer der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, hat sich zum 1. Februar nach 16-jähriger Tätigkeit in den Ruhestand verabschiedet. Damit endet eine längere Periode in der Anthroposophischen Gesellschaft, die er sozial und strukturell maßgeblich mitprägte. Im Interview blickt er auf eine bewegte Zeit zurück und gibt Einblicke, wie er den Ruhestand „anpacken“ will.
Sebastian Knust: Wie wird man Geschäftsführer bei der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland?
Alexander Thiersch: Es war Anfang 2007. Ich war damals, nach eigener Kindergarten- und Schulkarriere in der Freien Waldorfschule am Kräherwald, in meiner „zweiten Karriere“ dort Geschäftsführer im Schulverein. Zeitlich lag diese Tätigkeit parallel zu meiner Aufgabe als ehrenamtlich tätiger Finanzbevollmächtigter des Großzweigs in Stuttgart, der „Anthroposophischen Gesellschaft Stuttgart“. Hartwig Schiller, damals Mitglied im Vorstand und designierter Generalsekretär, fragte mich, ob ich nicht die Aufgabe der Geschäftsführung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland übernehmen wolle.
Ich war in meiner Aufgabe am Kräherwald glücklich, liebte meine Tätigkeit und das Eingebundensein in den Schulorganismus – Kollegium, Vorstand, Schüler und Eltern. Ich wollte dort nicht weg!
Andererseits schien es mir aber unangemessen, eine solch möglicherweise schicksalshafte Anfrage an mich kurzerhand und nur über das Alltagsbewusstsein zu beantworten. Um in der Beantwortung der Frage weiterzukommen, stimmte das Arbeitskollegium meinem Vorschlag nach Kennenlernen von verantwortlichen Menschen, Themen und Tätigkeit innerhalb der AGiD zu, sodass ich in den nächsten neun Monaten an den AK-Sitzungen und auch manch anderen Zusammenkünften teilnehmen und mich selbst zur Anfrage nach meinem weiteren beruflichen Lebensweg gut befragen und prüfen konnte. Ich sagte nach diesem inneren und äußeren Anlauf für Anfang November 2007 nicht leichten Herzens meine verbindliche Mitarbeit in der AGiD zu und verließ die Waldorfschule nach gut neun Jahren überzeugt – und wehmütig.
Mir ist es wichtig, diese ausführliche Bemerkung zu machen, denn vermutlich treffen auf uns Menschen immer mal wieder unerwartet und auf den ersten Blick vielleicht unpassende Anfragen von außen, mit denen wir rational nicht viel anfangen können, wo deshalb das genaue Hinhören und Hinspüren Sinn macht: „Was könnte die Anfrage mit mir und meinem (zukünftigen) Leben ganz konkret zu tun haben, an welchem Punkt stehe ich im Moment, kann und darf ich die Anfrage ignorieren, das Angebot ablehnen …!?“
SK: Welche Arbeiten haben besondere Freude gemacht?
AT: Eine besondere Freude war mir immer die Arbeit mit dem Letzten Willen von Menschen, die der Anthroposophischen Gesellschaft oft große Teile ihres Vermögens vermachten. Zur großen Dankbarkeit der Unterstützung zukünftiger Projekte wegen gesellte sich auch meine Freude an der Umsetzung dieser Letzten Willen – und man kann, ja, man muss sagen, dass so manche strukturelle Verpflichtung der deutschen Landesgesellschaft ohne solchen Zufluss nicht hätte geleistet werden können. Am Ausbau des Zuflusses von Erbschaften, um damit Projekte der Gesellschaft zu fördern, nicht strukturelle Lasten zu bewältigen, könnte ich mir eine aktive Mitarbeit auch weiterhin vorstellen.
SK: Welche Herausforderungen sind Dir begegnet?
AT: Die Gestaltung der Geschäftsstelle, mit den Menschen, den Aufgaben, blieb bis zuletzt eine der großen, gleichzeitig auch wichtigen Aufgabe in der Geschäftsstelle, der wir alle große Aufmerksamkeit widmeten. Auch wenn wir im Grunde großes Glück in der Zusammensetzung der Kolleginnen und Kollegen im Arbeitszusammenhang hatten, gestaltete sich das menschliche Miteinander nicht in allen Fällen einfach – und solch menschlich-karmischen Schwierigkeiten folgten dann teilweise auch sachliche/fachliche Probleme, die sich z. B. an mangelhaften Schnittstellen der Übergabe von Arbeitsprozessen vom einen zum anderen oder an der Entstehung schwieriger Stimmungen zeigten. Für alles gab es aber schließlich Lösungen – auch wenn solche durchaus auch mal wörtlich zu nehmen waren.
SK: Welche aktuellen Entwicklungen siehst Du in der AGiD, was möchtest Du den Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben?
AT: Ich möchte gerne etwas genauer über Bestrebungen zu sogenannten Schein-Selbständigkeiten bei verschiedenen Zweigen eingehen. In den letzten Jahren haben einige wenige Zweige und Gruppen die seit Jahren geübte Praxis infrage gestellt, wonach die Beiträge in unserer Gesellschaft gleich einer Kaskade verteilt werden. Es ist die Regel, dass das Mitglied den Monatsbeitrag an den Zweig überweist, dieser behält seinen Anteil ein, überweist den mit dem Arbeitszentrum vereinbarten Beitrag dorthin – das AZ wiederum behält seinen Anteil ein und überstellt der deutschen Landesgesellschaft den mit ihr vereinbarten Beitragssatz, diese wiederum behält ihren Teil ein und überweist den pro Mitglied mit dem Goetheanum vereinbarten Beitrag von 125 Schweizer Franken. Solange dieser über Jahre geübte Weg beschritten wird, stehen den einzelnen Ebenen planmäßig Mittel zur Verfügung, über die sie sowohl ihre inhaltliche Arbeit als auch die Verwaltung bestreiten können – die über die Beiträge zur Verfügung gestellten Mittel ermöglichen also die anthroposophische Arbeit.
Das Gefüge beginnt dann aus den Fugen zu geraten, wenn einzelne Glieder beschließen, einseitig von solchen gemeinsam beschlossenen Vorgehensweisen abzuweichen, z. B. weil sie der Ansicht sind, für den geleisteten Beitrag an die nächste Eben keine adäquate Leistung zu erhalten – hier wird also von erwarteter Leistung ausgegangen, nicht mehr von der Ermöglichung anthroposophischer Tätigkeit untereinander.
In der Folge werden Versuche unternommen, sich anderen Gliederungen anzuschließen, z. B. schließt sich ein Zweig der Landesgesellschaft direkt an, um den Beitrag ans Arbeitszentrum einzusparen. Die Frage, wer dann die nötige verwaltende Arbeit übernehmen wird, wurde im letzten Fall so beantwortet: „Das ist doch klar, das ist Sache der Landesgeschäftsstelle – die Mitarbeitenden dort sind doch sowieso da.“ Dass solche „Schein-Selbständigkeiten“ innerhalb eines komplexen Zusammenhangs nicht funktionieren, scheint allen, fast allen, klar zu sein – ich führe die Grundlage hierzu gemäß Beschluss im Arbeitskollegium und der Bestätigung des Sachverhaltes in der Gesamtkonferenz aber hier gerne noch kurz an:
- Eine gemeinsame Arbeit und Verwaltung von zwei oder mehr Gliederungen muss von allen Teilen eindeutig gewollt sein, gleich einer menschlichen Beziehung – ein einseitig gewollter Anschluss einer Gliederung an eine andere ist in der AGiD nicht möglich.
- Darüber hinaus gibt es in der Landesgesellschaft keinen „Beitrags-Tourismus“, das meint: Durch den Anschluss an eine andere Gliederung können keine Beitragsteile eingespart werden.
- Was aber geht, und das steht explizit in der Satzung der AGiD: Jeder Zweig, jedes Arbeitszentrum kann sich rechtlich selbstständig machen, komplett in eigener Verantwortung handeln, Beiträge beschließen und Geldströme organisieren – in echter Selbstständigkeit!
Grundsätzlich lässt sich durch die oben genannten Problemstellungen die Entwicklung hinter diesem Phänomen, die Entwicklung der Individualisierung hin zu selbst entwickelten Strukturen, gut beobachten und verfolgen.
SK: Wie geht Dein Leben im Ruhestand weiter?
AT: Die ersten Wochen in meiner dritten, jetzt angebrochenen Lebensphase habe ich gut verbracht, mich ohne großen Termindruck durchaus treiben lassen, dabei viele Begegnungen und Kulturelles genossen, wie die eben zu Ende gegangene musikalische „Bachwoche Stuttgart“. Vielleicht liegt es an meinem einfachen Naturell, dass ich mich in neuen Situationen immer gut zurechtfinde – jedenfalls bin ich dankbar, dass es so ist. Ganz bewusst habe ich für mich noch keine inhaltlichen Festlegungen getroffen, die nächsten Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre betreffend – ich werde sehen, was mich findet, mich ergreift. Durch eine Erfahrung in den letzten beiden Jahren weiß ich, dass durchaus Unerwartetes, gleichzeitig aber für uns Vorgesehenes von vorn auf uns Menschen zukommen kann – dafür würde ich gerne frei sein, zur Verfügung stehen ...
Abschließend möchte ich mich bei allen herzlich bedanken, mit denen ich in den letzten gut 16 Jahren zusammenarbeiten durfte. Ganz besonders danke ich denjenigen, die sich die konstruktive Mühe machten, mich mit meinen Unzulänglichkeiten zu konfrontieren – obwohl wir alle unsere Baustellen kennen, sind solche Hinweise für den weiteren Lebensweg wichtig und große Hilfen!
SK: Vielen Dank!