Interview mit Andreas Laudert zu seiner Steiner-Biografie „Unter den Augen des Himmels. Das Leben Rudolf Steiners“
Anlässlich des 100. Todesjahres von Rudolf Steiner wurden neue Biografien verfasst. In seinem Buch, das in Kürze unter dem Titel „Unter den Augen des Himmels. Das Leben Rudolf Steiners“ im Futurum-Verlag erscheinen wird, will Andreas Laudert die Zukunftsdimension Rudolf Steiners und seines Werks ins Zentrum rücken und mit unserer Gegenwart verknüpfen, auch mit im weitesten Sinne literarischen Elementen, in Imaginationen der erlebten Rede. „Andreas Laudert versucht in seinem Buch über Steiner sich weder den Fragen noch den Antworten zu entziehen, die sich in und aus dessen Leben und Wirken auftun, steht gewissermaßen mit dem Standbein in der Gegenwart und erkundet mit dem Spielbein Vergangenheit und Zukunft in erfrischender Sprache“, wie es im Klappentext heißt: „Was bleibt von Steiners Werk und Biografie, ihrem immer noch unausgeschöpften Potential? Es ist also die schöpferische Dimension des Menschen Rudolf Steiner und seines Werks, die ihn interessiert, alles andere kann heute bereits ChatGPT formulieren und repetieren.“ So ist eine neue Steiner-Biografie entstanden, die reich an Gegenwartsthemen ist und zugleich die Entscheidungen und Entwicklungen Steiners in den konkreten historischen Situationen als ständigen Kampf um das geistig Wesentliche erlebbar und nachvollziehbar machen möchte, wie Andreas Laudert im Gespräch mit Olivia Girard erläutert.

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Olivia Girard: Was hat dich motiviert, noch eine Steiner-Biografie zu schreiben?
Andreas Laudert: Es war ein Auftrag von außen. Nur von mir aus hätte ich Scheu gehabt, ein solches Vorhaben anzugehen.
OG: Was aus deiner Sicht „fehlte“ in den anderen Steiner-Biografien? Oder wie die Verlagsankündigung formuliert, was gibt es überhaupt noch Ungesagtes über Steiner?
AL: Auch hier würde ich mir nie anmaßen, sozusagen den Daumen zu heben oder zu senken. Anders gesagt: Nichts fehlt und alles. Ich glaube, jeder individuelle, persönlich verantwortete Blick, aus einer echten Beziehung zu Steiner heraus oder einem aufrichtigen Interesse, ist kostbar, ist „neu“ – und hat gefehlt.
OG: Was können die Leserinnen und Leser erwarten, wenn sie dein Buch lesen?
AL: Das Bemühen um eine weit geöffnete Perspektive. Verschiedenste Zugänge aus dem Resonanzraum des Jetzt, Stimmen aus der Literatur, von Jugendlichen, größere motivische Bögen. Zwischenräume, in denen eine freie Sprache erkundet, inwiefern wir die Aktualität und zugleich die grundsätzliche Dimension von Steiners Aufgabe erahnen können. Zugänge auch zu Ambivalentem. Ich versuche nachvollziehbar zu machen, mit welcher Herausforderung Steiner als Mensch, als Individualität, konfrontiert war. Indem sie ihm nach und nach bewusst wurde und er sie annahm, musste er biografisch permanente Gratwanderungen vollziehen. Dabei ging es ja im Kern um eines: den Menschen als geistiges Wesen verstehbar zu machen und dafür zeitgemäße Begriffe zu bilden. Aber auf diesem Weg entstanden auch viele Kompromisse, entstand Vorläufiges. Das Buch versucht demgegenüber das Zentrale im Blick zu behalten und es mit den Phänomenen von 2025 und der Suche vieler Menschen in Bezug zu setzen, gewissermaßen die Peripherie hereinzuholen – und sich z. B. nicht so sehr abzuarbeiten an den internen Spezialthemen. Vielmehr denkt der biografische Essay auch diese Dinge von ihrer Wirkung auf heutige Zeitgenossen her und macht ihnen an den Schlüsselstellen von Steiners Leben das Angebot, sich in die jeweilige Situation, in der er war, hineinzuversetzen, in den geschichtlichen Augenblick: Wie mag es gewesen sein, wenn er für einen schwierigen Vortrag ans Pult trat? Welche Abwägungen musste er immer wieder für sich vollziehen, bevor er einen weitreichenden Entschluss traf, gerade auch in den letzten Jahren? Das Stilmittel der erlebten Rede, dem man im Buch begegnet und was es von anderen Biografien unterscheiden mag, ermöglicht es, Abstand zu wahren, statt voyeuristisch zu spekulieren, und dennoch Steiner näher zu kommen.
OG: Der Titel „Unter den Augen des Himmels“ ist sehr schön. Wie bist du darauf gekommen?
AL: Er kam ganz zum Schluss, nicht durch Überlegungen. Er war auf einmal da, und dann erschien er mir stimmig, weil er eine doppelte Blickrichtung andeutet: Durch Steiners Werk berührt uns etwas Geistiges, schaut uns gewissermaßen der Himmel an. Aber auch er selbst, Steiner, steht unter den gütigen, hoffenden, helfenden Blicken geistiger Wesen.
OG: Was müsste aus deiner Sicht geschehen, damit Rudolf Steiner anerkannt wird von der breiten Öffentlichkeit für seinen Beitrag für die Menschheit, ganz objektiv?
AL: Jeder ist darauf angewiesen, von seiner Zukunft her gelesen zu werden, letztlich vom Tod her, wo alle Möglichkeiten, alles gewesene Ringen wieder in die Potenzialität „verschwindet“. Es hat mit Gerecht-Werden zu tun, der Achtung des Ur-Anliegens des Mitmenschen, seiner Vielfalt in einem unendlich tiefen Sinn. Dem steht aber immer so viel gegenüber, womit wir ein gelebtes Leben, das bürgerliche Ich einer bestimmten Zeit, vorschnell identifizieren, gerade bei Steiner. Es muss möglich sein, ihn einmal zu „trennen“ von den Stichworten, die ihn umgeben, den Milieus, den Reizthemen wie „Dornach“ oder „Esoterik“ – gerade damit es andere nicht tun, gerade damit man die Verbindung überhaupt wieder frei und individuell aufbauen kann. Die Anthroposophische Gesellschaft ist letztlich ein Gleichnis, ist der erste Versuch einer Form für das, was man als die spirituelle Aufgabe Steiners bezeichnen kann. Aber diese Gesellschaft oder Bewegung „ist“ nicht Steiner, und er „ist“ nicht sie. Es muss zunächst zu einer Bewegung in jedem selbst kommen.
OG: Möchtest du zum Schluss noch etwas ergänzen?
AL: Auch nach diesem Gedenkjahr, mit all den Festen und neuen Publikationen einschließlich der hier vorgestellten, wird keine große Veränderung im Urteil der Öffentlichkeit – in Richtung einer breiten intellektuellen Anerkennung, siehe deine obige Frage – zu erwarten sein. Es ist viel wichtiger, den Menschen zu erreichen, der mir gerade gegenübersteht, niedrigschwellig, in jedem Gespräch, jeder Begegnung. Ihn in der Seele, in seinem Ich zu berühren, ernst zu nehmen, ja geradezu erst zu ermöglichen. Sich auch selbst als Ich zu zeigen. Alles Gruppenhafte überwinden. Nicht „die“ Anthroposophie oder „Steiners Bedeutung“ eins zu eins vermitteln wollen. Unermüdliche Übersetzungsarbeit leisten – letztlich wie Steiner –, situationsangemessen, geistesgegenwärtig. Wie wirkt auf andere, was „uns“ doch so heilig ist? So wiederum auch Steiner gerecht zu werden hieße, mit dem sich einfühlenden Geist wirklich ganz hineinzugehen in die ihm selber oft voll bewusste Ambivalenz mancher Entschlüsse. Ihn nicht festzulegen. Er improvisierte schon als junger Mensch und blieb bis zuletzt in Entwicklung. Das ist ein Zug, den viele heute Lebende verstehen und aus ihrem beruflichen und privaten Alltag kennen: Wer sieht mich im Ganzen? Wer erkennt, wie ich ringe, und identifiziert mich nicht nur mit einzelnen Taten oder Worten oder äußeren „Merkmalen“? Ich glaube, wo ich in der Seele berührt und überrascht werde, wo mich etwas bewegt, öffne ich mich auch dem mir Fremden, mildere Vorurteile und extreme Meinungen ab. Die Demut undHumanität Steiners, die Treue zur Menschheit, lässt seine besondere Individualität und geistige Leistung nicht geringer erscheinen, ganz im Gegenteil treten sie so erst hervor.
OG: Vielen Dank für das Gespräch!