Karma-Erkenntnis – eine individuelle und eine Menschheitsaufgabe
Über das Projekt Karma-Tagung 2022. Der Artikel erschien zuerst in der Weihnachtsausgabe der "Mitteilungen".
Die gegenwärtige Zeit macht uns deutlich, was Menschheits-Karma ist. Das sehen wir in der Corona-Pandemie, das sehen wir in den eruptiven Klima-Flut-Katastrophen, das sehen wir auch in den vielen Vulkanausbrüchen. Immer sind individuelle Menschen betroffen, verlieren ihre Gesundheit, ihre Häuser, ihr Hab und Gut. Es sind Vorgänge, die menschheitlich wirken, die Menschheits-Karma aufzeigen, auch wenn es dann einzelne, konkrete Menschen betrifft.
Eine etwas andere Qualität hat das persönliche Karma. Hier geht es um individuell verursachte Folgen bestimmter Begegnungen, bestimmter Taten, um Glück und Leid einzelner Menschen, mit denen ich etwas zu tun habe. Hier stellt sich die Frage nach Ursache und Folgen des individuellen Handelns, nach meiner eigenen Fähigkeit oder Fehlbarkeit, nach meiner seelischen Disposition, vielleicht auch nach den nicht gewollten Schmerzen, die ich anderen zugefügt habe, aber auch nach der Möglichkeit, die Folgen meiner Handlungen selbst zu übernehmen und in meinem Seelenleben die Schichten ins Bewusstsein zu bringen, die eben bislang unterschwellig gewirkt haben. Hier liegen zentrale menschliche Erkenntnis- und Handlungsaufgaben, die auch mit Heilung, mit Zukunftsfähigkeiten oder „Wiedergutmachung“ zu tun haben. Hier liegt ein Schlüssel zur sozialen Zukunftskompetenz von individuellen Menschen, Menschengruppen oder auch der Menschheit.
Ein erster Schritt ist es, überhaupt zu sehen und zu akzeptieren, dass durch mich an dieser oder jener Stelle ein Problem, eine Verletzung, ein Schaden entstanden ist. Entweder bringen wir das noch in unserem Leben ins „Reine“ oder wir nehmen es mit in den nachtodlichen Bereich. Dann aber begegnen wir – so Rudolf Steiner – den Menschen, mit denen wir im Leben etwas zu tun hatten, was eben einen Ausgleich fordert, was im Welten-Geschehen so nicht stehen bleiben kann. Viele Menschen sehen das heute auch im Bereich des Gesamt- Menschheitlichen. Was wir hier in Europa durch unser Kaufverhalten bewirken, das betrifft Menschen in anderen Kontinenten. Wir sind Verursacher der Not in vielen Ländern der sogenannten dritten Welt. Eine Initiative in Deutschland nennt das „Karma-Konsum“ und spielt damit auf unsere Verantwortung für die Folgen unserer Taten an. Mit dem Klima ist es ähnlich. Erst wenn ich eingestehe, dass die damit verbundenen Katastrophen menschengemacht sind, und ich mich mitverantwortlich fühle, ändert die Menschheit ihren Kurs.
Unsere Überlegungen im Vorstand der AGiD gehen dahin, dass das Thema Karma innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft und im Umfeld auf die Tagesordnung gehört, dass es besprechbar, erfahrbar und handhabbar werden kann. Immerhin ist es mitunter das zentrale Thema der Anthroposophie und macht in Steiners Werk einen großen Umfang aus. Nun ist es eine wichtige Voraussetzung, dass es gründlich studiert wird. So sind die Karma- Vorträge nach meiner Einschätzung die meistgelesenen Vorträge in den Zweigen der Anthroposophischen Gesellschaft. Noch konkreter wird es aber, wenn wir nach einem möglichen Schulungsweg suchen, um dieses Thema innerlich zu durchleben, und einen übenden Zugang entwickeln wollen. Es entsteht die Frage nach meiner innerseelischen und geistigen Disposition, nach meinem Schatten- bzw. Doppelgänger-Wesen, nach meinem Verhältnis zu anderen Menschen in Konflikten, nach meiner Möglichkeit zu verzeihen, nach der inneren Verbindung mit meinem Gegenüber und letztlich nach der verzeihenden und heilenden Geste im Zwischenmenschlichen.
Aufgrund der aktuellen Zeitsituation, aber auch aufgrund der zunehmenden Fragen nach ehrlicher Substanz im Miteinander und nach dem Ernst-Nehmen der Anthroposophie haben wir uns entschlossen, das Thema Karma in diesem kommenden Jahr ins Zentrum unserer Arbeit zu stellen. Es geht uns um konkrete, praktische, übende Zugänge im Verständnis der Karma-Frage. Es geht uns auch um einen originären Beitrag, den die Anthroposophie in der heutigen Kulturwelt leisten kann – gerade angesichts der Fragen und Probleme, die wir als Menschheit miteinander teilen. Wie ist das karmisch zu verstehen? Was kann ich konkret tun, um selbst Erkenntnisschritte auf diesem Felde zu gehen? Was kann ich in dem Zusammenhang von anderen Menschen lernen? Wie kann ich dadurch die Welt, mich selbst und den anderen Menschen besser verstehen? Was kann ich beitragen zur Heilung der sozialen Konflikte im persönlichen Leben, in Gemeinschaften und in der Welt?
Wir haben damit begonnen, Menschen in der anthroposophischen „Landschaft“ zu suchen, um mit ihnen in ein gemeinsames „Karma- Forschungs-Erfahrungsfeld“ einzusteigen. In bereits fünf Kolloquien sind die Zugänge einzelner Menschen sichtbarer und deutlicher geworden. Martin Schlüter (Dozent am Lehrerinstitut in Witten-Annen) beschäftigt sich mit der Erweiterung des Ich-Begriffs und dem Ursache-Wirkungs-Prinzip, Alexander Schaumann (Künstler und Dozent aus Bochum) mit der Menschenbetrachtung als Grundlage für Karma-Erkenntnis, Jaak Hillen (plastischer Künstler aus Belgien) mit Schicksals-Erfahrungen in künstlerischen Prozessen, Nothart Rohlfs (Dozent und Berater aus Berlin) mit biografisch auftretenden übersinnlichen Erfahrungen, Katja Schultz (Sozialkünstlerin aus Bochum) mit Begegnungsfähigkeit als Tor zur Karma- Erkenntnis, Andre Bartoniczek (Waldorlehrer und historische Forschungen, Tübingen) mit Karma-Erkenntnissen in geschichtlichen Ereignissen, Hans Supenkämper (Landwirtschaftsberater und Dozent) mit Schicksalslernen, Corinna Gleide (Dozentin und Beraterin, Heidelberg) mit dem Doppelgänger-Wesen, Eva Kleber (Leiterin der Akademie Vaihingen) mit der Heilung durch Karma-Erkenntnis und Steffen Hartmann (Musiker und Dozent aus Hamburg) mit Metamorphosen der Entwicklung der Anthroposophen im 20. und 21. Jahrhundert.
Diese konkreten Menschen und noch viele weitere stellen ihren Zugang zur Karma-Erkenntnis in einer geplanten Karma-Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland vom 24. bis zum 26. Juni 2022 zur Verfügung. Gegenwärtig entsteht ein erstes Tagungsprogramm. Ab Februar 2022 wird dann die vollständige Einladung veröffentlicht. Wir haben bisher schon viel auf diesem Felde gelernt und den Eindruck gewonnen, dass ein solches – mitunter auch sehr sensibles und persönliches Thema – durchaus in einem größeren Konferenz- Tagungskreis erschlossen werden kann. Die Tagung wird in Kassel stattfinden. Wir laden hiermit schon einmal alle Karma- Interessierten sehr herzlich ein und freuen uns, wenn Sie an diesem Ereignis teilnehmen wollen. Irgendwie ist es eine individuelle, aber gleichzeitig auch eine Menschheitsaufgabe, die da zum Thema gemacht wird. Letztlich ist hier ein Lern- und Entwicklungsschritt in der Menschheit veranlagt, der durch das Christuswesen möglich wurde. Wir alle sind Lernende auf diesem Karma-Erkenntnis-Praxis-Feld und laden Mit-Lernende herzlich ein.
Michael Schmock | Mitglied des Arbeitskollegiums und Generalsekretär der Landesgesellschaft