Anthroposophie und Rassismus
Ein Beitrag aus der Goetheanum-Leitung (Peter Selg, Constanza Kaliks, Justus Wittich, Gerald Häfner)
Herausgegeben vom Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im Auftrag der Goetheanum-Leitung
Die Frage nach dem Umgang Rudolf Steiners, der Anthroposophen und der anthroposophischen Institutionen mit Fragestellungen des Rassismus und der Rassendiskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und der Intoleranz ist nach einem «genozidalen» Jahrhundert und angesichts extremer Ungleichheiten in der gegenwärtigen Welt sehr berechtigt. Rassismus, Rassendiskriminierung, Missachtung und zudem die Ausbeutung und Zerstörung der Lebensgrundlagen und des Lebens des Anderen und der Anderen bilden in der Gegenwart gewaltige Herausforderungen. Daher ist es wichtig und richtig, zu hinterfragen, welche Position Anthroposophen dazu beziehen.
Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, dass die Frage nach dieser anthroposophischen Position seit vielen Jahrzehnten – und in letzter Zeit wieder verstärkt – nicht aus Erkenntnisinteresse in der Öffentlichkeit aufgeworfen wird. Sie ist vielfach Teil eines polemischen Diskurses, einer Diffamierung Rudolf Steiners, der anthroposophischen Institutionen und der Anthroposophie selbst. Dass Rassismusvorwürfe als «unwiderlegbares moralisches Totschlagargument» (Ballard) benutzt werden, ist seit langem bekannt. Indem Rudolf Steiner, die Anthroposophie oder die anthroposophischen Initiativen damit assoziiert werden, sind sie gesellschaftlich stigmatisiert und marginalisiert. Differenzierte Stellungnahmen und sorgfältig erarbeitete Buchmonografien von anthroposophischer Seite haben an dieser Situation bis heute nichts geändert; sie gewinnen nicht annähernd die Öffentlichkeit und Verbreitung der plakativen Vorwürfe.
All dies sorgt für eine erhebliche Irritation, auch unter Menschen, die den anthroposophischen Tätigkeiten prinzipiell mit Interesse und Wohlwollen gegenüberstehen – sowie unter den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft selbst. In Anbetracht dieser Situation entschlossen wir uns zur Niederschrift eines Beitrages, der beiden Aspekten der Gesamtfragestellung – dem inhaltlich-berechtigten und dem strategischen Aspekt – zu entsprechen sucht. Wir entwickeln nachfolgend geschichtliche und ideelle Zusammenhänge in skizzenhafter Form, die uns für eine individuelle Beurteilung der erhobenen Vorwürfe von Bedeutung zu sein scheinen. Wir umreißen aber auch die Aufgabe und Herausforderung der Anthroposophischen Gesellschaft und der anthroposophischen Institutionen in einer Welt, die von Ungerechtigkeit und Diskriminierung gekennzeichnet ist. Die entschiedene Zurückweisung wahrheitswidriger Aussagen und Unterstellungen innerhalb einer publizistischen Auseinandersetzung ist sinnvoll und notwendig; die selbstkritische Hinterfragung der eigenen Haltung zum Ausmaß der Ungerechtigkeit in der Welt – sowie des eigenen Beitrags zu ihrer Überwindung – erscheint uns jedoch ebenso von Bedeutung zu sein. Nur durch beides entsteht unseres Erachtens eine Entwicklung zur Zukunft, auch innerhalb der anthroposophischen Zusammenhänge selbst.