Öffentlichkeitsarbeit – von Innen gesehen
Sebastian Knust und Matthias Niedermann im Chat
Sebastian Knust | 16.04.21 | 11:51 h
Hey Matthias, Monika hat uns gefragt, ob wir für die nächsten Mitteilungen uns und unsere Arbeit vorstellen wollen ... Hast du Lust, dass wir uns gegenseitig dazu befragen?
Matthias Niedermann | 16.04.21 | 13:09 h
Ja, die Mail habe ich auch bekommen. Interessant: Ein Foto von dir flattert jeden Monat im Newsletter durch die E-Mail-Fächer der Bundesrepublik. Doch das ist ja nur die Oberfläche von dir – da kenne ich noch andere Seiten. Was hat dich zu der Herausforderung gebracht, die du mit deiner Arbeit zu lösen versuchst?
Sebastian Knust | 16.04.21 | 16:45 h
Ja, an das Foto kann ich mich noch erinnern: Es wurde vor ein paar Jahren im Jugendseminar gemacht. Da habe ich vor vielen Jahren bewusst Kontakt mit anthroposophisch orientierten Menschen aufgenommen, aber auch mit Studieninhalten wie den Grundwerken von Rudolf Steiner, z. B. der Philosophie der Freiheit ... Eine Erfahrung, die mein Interesse und später auch meine Verantwortung gegenüber Spiritualität, Geisteswissenschaft und praktischen Lebensansätzen der Anthroposophie geweckt hat. Seitdem arbeite ich eigentlich unermüdlich als „Sozial-Architekt“ (den Beruf des „normalen“ Architekten habe ich vor einem Jahr an den Nagel gehängt). Wie sieht es denn bei dir aus? Du bist ja vielen als „Mister Soziale Zukunft“ bekannt. Was treibt dich an?
Matthias Niedermann | 16.04.21 | 20:18 h
Uff! Ja, daran muss ich mich immer wieder gewöhnen. Einerseits der Blick von außen und das Urteil der anderen – wir alle tragen ja diese in uns. Es ist spannend wahrzunehmen, wie etwas, was man getan hat – in meinem Fall der Kongress „Soziale Zukunft“ 2017 und das unvollendete zweite Vorhaben –, etwas bei anderen Menschen bewirkt hat. Das ist ja nicht immer angenehm, manchmal aber auch wirklich berührend. Es ist alles vergangen und nicht so sehr bedeutend, auch wenn ich daran hänge.
Denn andererseits ist das, was mich antreibt, noch gar nicht da. Das ist eine Zukunft und ein Ideal des Menschen und der Erde. Ehrlich – ich kann es nicht mal zu Ende denken und ich bin total neugierig darauf, es zu entdecken. Ich bin einfach überzeugt, die Dinge und das Leben sind nicht nur gut, sondern sie haben gut zu werden – im edlen Sinne – und dafür werden wir Menschen gebraucht und ich als halb verrückter Anthroposoph eben auch :-). Der Gedanke gefällt mir. Hinzu kommt, dass ich nicht weiß, wie das gehen soll.
Manchmal macht mich das fast wahnsinnig, und wenn ich im Zug sitze, finde ich dann schnell Gesprächspartner, die ich befragen kann. Ja, das ist vielleicht die Innenseite, die noch nicht so viele kennen. Du sagst oft von dir, dass du gerne im „Maschinenraum“ das Kommando übernimmst und für die Details zuständig bist. Was ist dein Maschinenraum bei der AGiD und welche Details sind dir wirklich wichtig? Wo willst du eigentlich mit deiner Arbeit hin?
Sebastian Knust | 17.04.21 | 22:22 h
Ja, das mit dem Maschinenraum ist tatsächlich etwas mechanisch gedacht. Vielleicht kann man es eher „Herz“ nennen. Wo ich oft tätig bin, das sind Bereiche, in denen koordiniert wird. Es kommen also Ideen, Motive, Impulse aus verschiedenen Richtungen und ich hole sie runter, leite sie an die richtigen Menschen weiter, schaue, dass möglichst alle auch im Boot sind usw. Das habe ich schon als Architekt gemacht und auch seit acht Jahren beim „campusA Stuttgart“. Dort habe ich mit dafür gesorgt, dass viele Jahre lang anthroposophisch orientierte Bildungseinrichtungen in Stuttgart unterschiedliche Kooperationsprojekte miteinander eingegangen sind.
Bei der AGiD bin ich ja auch immer an einer Schnittstelle der „Öffentlichkeiten“. Da gibt es die Öffentlichkeit der Mitglieder, diejenige der anthroposophischen Bewegung und auch die Öffentlichkeit, die gelegentlich schon einmal etwas von Anthroposophie oder den „Waldis“ gehört hat, mit mehr oder weniger Distanz ... Wohin will ich mit meiner Arbeit? Bei der Öffentlichkeitsarbeit in der AGiD geht es mir kurz gesagt darum, die verschiedenen Öffentlichkeiten in einen produktiven Dialog zu bringen, damit alle, die das möchten, etwas mehr über den anderen und über sich selbst herausfinden können!
Du bist ja auch mit der Öffentlichkeit beschäftigt. Da sollte es mit dem von dir geplanten Kongress „Soziale Zukunft“ 2021 ein großes Festival der Zivilgesellschaft geben – und plötzlich steckst du in der Krisenkommunikation. Ein ganz schöner Umschwung. Wie kam es dazu?
Matthias Niedermann | 23.04.21 | 01:05 h
Ja, ich setze mich viel mit dem Thema Öffentlichkeit auseinander, denn der Umgang damit erfordert ein sehr differenziertes Verständnis. Wenn ich das so reflektiere, dann merke ich, das Thema zieht sich durch all meine Aufgaben hindurch. Und gerade die Corona-Zeit ist in dieser Hinsicht extrem lehrreich: Von wo aus spreche ich? Mit wem spreche ich? Worüber wird mit wem gesprochen – und worüber nicht?
Es lassen sich viele »Öffentlichkeitsschichten« entdecken, die auch ineinander übergehen und sehr dynamisch sind: interne oder externe Öffentlichkeit, dann aber auch der Unterschied zwischen einer spezifischen Fachöffentlichkeit oder einer allgemeinen. Das erinnert mich an die Gesteinsschichten und Felsformationen im Alpstein – wo ich als Kind oft wandern war – mit ihren vielfältigen Formen. Die Kunst ist es in meinen Augen, einerseits die Identität und die Intentionen zu erfassen, die sich in der Anthroposophie und der Bewegung ausdrücken. Wahre Begriffe, lebendige Worte und sprechende Bilder zu finden, die dies ausdrücken und in der entsprechenden Öffentlichkeitsschicht Sichtbarkeit bzw. Verständnis ermöglichen.
Das war auch schon eine Herausforderung bei der Planung des Kongress-Festivals „Soziale Zukunft“, das ja für 2020 geplant war. Es musste wegen Corona verschoben werden und wird so auch dieses Jahr nicht stattfinden können. Seit letztem Herbst wird die Anthroposophie in den Leitmedien vielfach kritisiert und als Gesamtbewegung zu Unrecht in die rassistische, rechtsextreme und antisemitische Ecke gestellt.
Hinzu kommt, dass im Zuge der Corona-Krise – was für alle sozialen Krisensituationen typisch ist – die Ambiguitätstoleranz gegenüber der Meinungsvielfalt sich drastisch reduziert hat und die Positionen sich polarisieren. In der sozialen Dynamik durchaus nachvollziehbar, doch – so meine Überzeugung – auf lange Sicht nicht zielführend. Das ist ein echter Stresstest für die Menschen, für unsere Organisationen sowie für die gesamte Gesellschaft und birgt die Gefahr, die eigene Identität und Aufgabe aus dem Blick zu verlieren.
Seit Januar können wir dank der Beziehungen, die im Laufe der Kongressvorbereitungen entstanden sind, gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten – das nennen wir dann Krisenkommunikation. Sebastian, welche Früchte deiner Arbeit würdest du in zehn Jahren gerne sehen? Welche Zukunft siehst du für die Anthroposophische Gesellschaft?
Sebastian Knust | 24.04.21 | 19:23 h
Matthias, das ist eine große Frage. Die kann ich dir hier sicher nicht ausreichend beantworten. Ich versuche trotzdem eine schnelle Skizze. Ich denke, dass es zwei große Tendenzen gibt, die sich verstärken werden: Einerseits werden wir bei der Anthroposophischen Gesellschaft einen starken Schrumpfungsprozess begleiten, der in einigen Jahren noch viel deutlicher sichtbar sein wird. Das ist einfach durch die Altersschichten unserer Mitglieder vorhersehbar. Andererseits wird in der anthroposophischen Bewegung die Frage, was genau eine „anthroposophische Institution“ ausmacht, sicherlich immer dringlicher. Das, was man bisher als „anthroposophische“ Arbeit oder Haltung verstand, verschwindet zusehends.
Die große Frage, die meiner Ansicht nach dahintersteht, lautet: Wie kann eine zeitgemäße Anthroposophie aussehen, was muss sie leisten und von welchen Formen muss sie sich auch lösen? Wenn eine genügend große Anzahl Menschen überzeugende Antworten auf solche Fragen finden kann, dann sehe ich uns in zehn Jahren zwar deutlich geschrumpft, aber gleichzeitig gestärkt mit neuen geistig-zeitgemäßen Qualitäten kräftige Schritte machen. Dass die Welt visionäre und ganzheitliche Ideen, Methoden und Menschen braucht, wird mit jedem Tag offensichtlicher. Die Frage wird sein: Werden wir Anthroposophen auch einen Beitrag liefern? Hast du eine Zukunftsvision, Matthias?
Matthias Niedermann | 24.04.21 | 22:11 h
Nein, wer Visionen hat, soll ins Krankenhaus – hat doch mal jemand Berühmtes gesagt oder? Im Ernst, bei mir funktioniert das nicht über Visionen. Es ist vielmehr eine Art Ahnung. Das klingt zwar verrückt, aber man kann den Moment wahrnehmen, bevor sich etwas ereignet, und kann auch bewusst dort hingehen. Das fühlt sich an wie der Augenblick, bevor der Gletscher unter den Fü.en nachlässt – ich habe das schon mal wirklich erlebt – und die Zeit kurz stehenbleibt, schwebend. Es ist ein sehr lyrischer Augenblick, fast wie in einem Film von Tarkovsky. Gelangt man an diesen „Nicht-Zeit-Ort“, dann kommt einem die Zukunft entgegen – geheimnisvoll und lebendig pulsierend.
Aber erst dann kommt der entscheidende Schritt. Diese Art von Zukunft verwirklicht sich, wenn man an ihr dranbleibt und zu ihr eine aktive Beziehung mit offenem Herzen entwickelt. Es erfordert auch Mut und die Bereitschaft, das, was man besitzt – geistig und sozial –, zu verschenken.
Bei der Anthroposophischen Gesellschaft und in der anthroposophischen Bewegung entsteht dort Zukunftsfähigkeit, wo das Alte sich liebevoll Neuem zuwendet und ihm von dem etwas schenkt, was es sich wirklich zu eigen gemacht hat.
Sebastian Knust | geb. 1982, Waldorfschüler aus Vaihingen an der Enz bei Stuttgart. Nach dem Zivildienst in einer brasilianischen Favela studierte er am Freien Jugendseminar Stuttgart. Studium Architektur und Städtebau an der Universität Stuttgart und in São Paulo. Parallel Arbeit in einem Architekturbüro bei Stuttgart und Mitgründung und Aufbau des „campusA Stuttgart“, einer Kooperation anthroposophischer Ausbildungsstätten. Seit 2020 in der Öffentlichkeitsarbeit der AGiD tätig.
Matthias Niedermann | geb. 1984, Kindheit in St. Gallen und St. Prex, Schweiz. Ausbildung und Mitarbeit in der Camphill Schulgemeinschaft Brachenreuthe, Freiwilligendienst in Georgien und später Studium Philosophie, Kulturreflexion und kulturelle Praxis an der Universität Witten-Herdecke. Seit 2016 tätig im Kontext der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland: Koordination der Kongresse „Soziale Zukunft“ 2017 und 2020, seit 2018 Vernetzung anthroposophischer Verbände in Deutschland. Seit 2021 Redakteur bei der Zeitschrift „Erziehungskunst“.