Von der Fehlerfahndung zu einer Schatzsuche
Über die Karma-Tagung 2022 der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland.
Im Rahmen der Jahresversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland fand im Juni dieses Jahres in Kassel eine Karma-Tagung statt, die Michael Schmock über Jahre mit einer Gruppe von Menschen vorbereitet hatte, die sich auf übende Weise mit dem anthroposophischen Karma-Gedanken befassen. Im Zusammenspiel von Werkstattberichten, Erkenntnisarbeit und impulsgebender Selbsterfahrung entstand ein Hör- und Sprech-Raum, in dem die eigenen Fragen unbefangen sichtbar werden durften.
…im Verständnisse des fremden Wollens
Was nach meiner Wahrnehmung als Vorbereiterin und Mitgestalterin der Tagung entscheidend zum Gelingen des Projekts beigetragen hat, war die Tatsache, dass die Vorbereitungsgruppe selbst mit dem Karma-Gedanken ernst gemacht hat. Während der Vorbereitungstreffen wurden die Herangehensweisen ihrer Mitglieder in all ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen und gelten gelassen. Jeweils zwei oder drei von uns ließen die Kollegen in ihre Übungsansätze einsteigen und in konkreter Teilhabe hinterfragen. Das Sichtbarwerden über das eigene Werkschaffte eine angreifbare Verletzlichkeit, die Mut erforderte. Das Ideal des Karma-Gedankens, der Wille zu einem Miteinander und nicht zuletzt das Geschick von Michael Schmock, Menschen unterschiedlichster Art miteinander ins Gespräch zu bringen, ließ die Menschen achtsam füreinander werden und eine zunächst vorhandene Fremdheit überwinden.
Karma ist kein abgefahrenes Nischen Produkt (für Sonderlinge), sondern real erlebbar
Anliegen der Tagung war es, die Teilnehmenden zu ermutigen, ihre eigenen Möglichkeiten zu Wahrnehmungen karmischer Zusammenhänge zu entdecken und zu entwickeln. Neben Podiumsgesprächen, Impulsvorträgen, Werkstattberichten und sozialkünstlerischen Übungen im Plenum gab es zahlreiche Arbeitsgruppen zu alltagsnahen und praktikablen Erfahrungsmöglichkeiten – Üb-Wege, welche auf das eigene Leben anwendbar sind, die Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis bieten und eine Brücke zum anderen bauen können.
Die Themen reichten von der Frage, wie der eigenen Doppelgänger sichtbar werden kann, welche Möglichkeiten es gibt, festgefahrene Charaktereigenschaften beweglich zu machen oder das Entwicklungspotential im eigenen Unvermögen zu entdecken, bis hin zum phänomenologischen Betrachten der eigenen Mitwelt. Wie erkenne ich Lebensmotiv und wesenhaft Wirksames im eigenen Schicksal und im Schicksal des anderen? Im Betrachten meiner Selbst bin ich zunächst so befangen, so dass es schwerfällt, zu einem Erkennen durchzustoßen. Dem anderen gegenüber fällt das viel leichter. Doch wie gestalte ich ein solches Schauen, dass es anstatt zu einer Fehlerfahndung zu einer Schatzsuche wird? Auch die Frage nach der eigenen Bestimmung und der Möglichkeit, die eigenen Kräfte auf gute Weise zur Entfaltung zu bringen, war ein wiederkehrendes Thema. Lässt sich die eigene Biografie auf eine Weise anschauen, dass die Sinnhaftigkeit von Schicksalsereignissen näher rückt und zu einem neuen Handeln führt? Neben dem Blick auf die eigene Biografie standen aber auch weit gespannte Zusammenhänge im Fokus. Forschungsberichte ließen über mehrere Inkarnationen hinweg an dem Wirken historischer Persönlichkeiten anteilnehmen und ihre sich verwandelnden Lebensmotive nachvollziehen. Über den persönlichen Bezug hinaus entstand ein Bild des Karmas in ehrfurchtgebietender Größe.
Vieles lebt in den Zwischentönen
Durch die musikalische Begleitung von Steffen Hartmann gab es immer wieder Gelegenheit für einen Moment nachzuschmecken, zu verdauen und das Wahrgenommene sich zu eigen zu machen. Einen weiteren Höhepunkt stellten die szenischen Darstellungen aus den „Mysterien-Dramen“ Rudolf Steiners dar, die vom Dornacher Ensemble dargeboten wurden. Durch die lässigen Überleitungen zwischen den Szenen wurde erlebbar: diese wortgewaltigen Stoffe gehen mich etwas an, so etwas spielt sich auch im eigenen Leben ab, nicht zuletzt auch im Begegnungsraum der Pausen, der, angewärmt durch die aufeinander zu führenden Wahrnehmungsübungen, wie immer zu lebendigem Austausch genutzt wurde. Viele, das eigene Schicksal betreffende Frage konnte ich hören und einen Eindruck gewinnen, was sich die Teilnehmenden von einer Weiterführung wünschen. In der ausführlichen Reflexionsrunde am Sonntagmorgen im Plenum und in den Rückmeldungen im Anschluss an die Tagung wurden deutlich: Der Wunsch, im Zusammenhang zu bleiben und Raum zu erhalten, noch mehr als bisher mit erfahrenen Menschen über die eigenen Schicksalsfragen zu sprechen. Auch die Möglichkeiten der Teilnahme für junge Menschen durch entsprechende Rahmenbedingungen wie Kosten, Übernachtung und Fragestellung wurde besprochen. Schließlich wurde mehrfach betont, als wie hilfreich für ein gegenseitiges Einlassen die sozialkünstlerischen Übungen im Plenum empfunden wurden. Für Viele hatte das den Boden für ein „beschwerdefreieres Begegnen“ geebnet. Die Menschen sind bereit, sich einander zuzuwenden und greifen Anregungen gerne auf, die durch ein miteinander geteiltes Herzdenken die gewohnte Antwortkultur zugunsten einer fragenden Haltung erweitern.
„Ich sehe dich“
Wenn ich mich frage, was das Besondere dieser Tage war, scheint es für mich die Stimmung zu sein: 160 Menschen brachten sich in bemerkenswerter Offenheit miteinander in Beziehung. Anscheinend führte das Kontaktverbot infolge der Pandemie dazu, dass die Begegnungsräume nun umso mehr von Zugewandtheit und warmem Interesse geprägt waren. Was könnte es Echteres geben für eine Tagung, die sich mit dem Karma auseinandersetzt?!
Katja Schultz | geboren 1978, lebt mit ihrer Familie in Bochum. Ihren Abschluss zur Kunsttherapeutin BVAKT machte sie 2005 an der Kunstakademie in Hamburg, deren Leitung der Berufsausbildung Kunsttherapie sie in diesem Sommer übernimmt. In Seminaren mit den Schwerpunkten Karmapraxis, Sozialkunst, Kommunikation und Begegnung ist sie in verschiedenen Einrichtungen Deutschlands und Europa tätig. Seit 2020 arbeitet sie mit viel Herz für das Arbeitszentrum NRW in Bochum. Website: www.arsamorfatum.com