Schuld an der niedrigen Impfquote?
Die Maßstäbe sollten sich dringend wieder zurechtrücken. Eine kommentierte Presseschau.
Die Corona-Pandemie ist wieder massiv zurück und in Deutschland wird fieberhaft nach den Verantwortlichen für die niedrige Impfquote gesucht. Da kommen „die Anthroposophen“ so manchen offenbar wie gerufen: Sie sind gesamtgesellschaftlich gesehen eine marginale Randerscheinung, jedoch – so heißt es in einigen Medien und in einer jüngst erschienenen Studie - mit „starker Autoritätsskepsis“, einem „Hang zur Esoterik“ und ideelle Anstifter der Impfskepsis. Diese und ähnliche simple Schlussfolgerungen auf die komplexe Frage nach der deutschen Impfquote hat zu einer Reihe von einseitig-kritischen und zum Glück auch differenzierten Beiträgen in der Medienwelt geführt. Hier eine Auswahl:
Der Spiegel lässt den Autoren Tobias Rapp zu Wort kommen, der in einem autobiografischen Essay von seinen negativen Erfahrungen als Waldorfschüler berichtet und die Anthroposophie unter anderem mit der Sekte „Scientology“ vergleicht. Texte dieser Art, die vor allem aus polemischen Zuspitzungen und Falschaussagen (siehe Zitate von Rudolf Steiner) bestehen, helfen in den aufgeheizten Zeiten nicht weiter. Trotzdem bekam der Beitrag eine hohe Reichweite, gerade auch in sozialen Netzwerken wie Twitter, wo der Begriff „Rudolf Steiner“ zeitweise sogar einer der meistgeteilten war.
Prof. Oliver Nachtwey ist Gesellschaftswissenschaftler an der Universität Basel. Dort hat er schon im Januar dieses Jahr eine Studie zu den sozio-kulturellen Entstehungsursachen der Querdenkerbewegung in Baden-Württemberg veröffentlicht. Die „Anthroposophen“ nehmen darin eine herausragende Stellung ein. Nun hat er mit einer weiteren Studie nachgelegt und ist aktuell Ansprechpartner in verschiedenen Sendungen, wo er seine Thesen verbreitet. Es fällt auf, dass die Datenlage sehr dünn ist, was ihn aber nicht daran hindert, die Verbindung von Anthroposophen und Querdenkern überaus zugespitzt hervorzuheben.
https://www.deutschlandfunk.de/soziologe-nachtwey-zu-impfverweigerern-100.html
Das Magazin „Compact“ hat eine Reihe von Steiner- und Anthroposophie-freundlichen Artikeln veröffentlicht. Doch bietet Compact beispielsweise auch extrem-rechten, nationalistischen und völkischen Autor*innen ein verlässliches Sprachrohr und wurde daher auch schon vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft. Mit dieser Ausrichtung ist es völlig ungeeignet für die Verbreitung der kosmopolitischen anthroposophischen Ideenwelt, die auf eine immer individuellere und gleichzeitig gesamtmenschlich vereinte Zukunft hindeutet. Von diesen offenkundigen Vereinnahmungsversuchen distanziere ich mich und beobachte sie mit großer Sorge!
Florian Harms, Chefredakteur von T-Online.de, hat sich ebenfalls als Waldorfschüler geoutet. Jedoch waren seine Erfahrungen positiv. Er beschreibt unsere Gesellschaft als im „Panikmodus“, einem Zustand, bei dem man nach Sündenböcken sucht, die beispielsweise für politisches Versagen herhalten müssen. Er resümiert: „Der deutsche Rückstand beim Impfen hat viele Gründe, aber er liegt sicher nicht in erster Linie an der Geisteshaltung von Anthroposophen, Waldorfbewegten, Esoterikern oder einer sonstigen Bevölkerungsgruppe. Mit dem Finger auf Einzelne zu zeigen, bringt uns auch nicht schneller aus der Krise heraus.“
Heute.de, das Online-Magazin von ZDF, hat den Mediziner Stefan Schmidt-Troschke vom Dachverband Anthroposophische Medizin in Deutschland (DAMiD) zu Wort kommen lassen. Darin beschreibt er sehr sachlich die Position des Verbands, der die Impfung begrüßt, sich aber begründet sowohl gegen eine allgemeine Impfpflicht ausspricht als auch gegen eine Kinderimpfung. Er zitiert Rudolf Steiner mit den Worten: „Da muss man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. […] Es ist ein völliges Unding, so im Einzelnen fanatisch vorzugehen.“ (GA 314, S. 287, 22.4.1924)
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-anthroposophie-steiner-100.html
In einem pointierten Beitrag hat Jens Heisterkamp von Info3 die aktuelle Medienlage zusammengefasst und sieht die Anthroposophen einem ganz eigenen Verschwörungsmythos ausgesetzt: „Wie fast alle Verschwörungsmythen zielt auch dieser darauf ab, einen Sündenbock für gesellschaftliche Fehlentwicklungen – hier: die offenbar unbefriedigende Impf-Politik in Deutschland – auszumachen.“ Er fährt fort: „Hoffen wir, dass sich irgendwann nach Corona die Maßstäbe wieder zurechtrücken.“ Dieser Hoffnung schließe ich mich sehr an.
https://info3-verlag.de/blog/die-anthroposophen-verschwoerung/
Sebastian Knust | AGiD Öffentlichkeitsreferent