Verantwortung für die Anthroposophie
Am 8. März fand im Rudolf-Steiner-Haus Berlin ein Thementag statt mit dem Titel: „Anthroposophie in Berlin – welche Verantwortung haben wir für die Welt?“. Das Treffen mit allgemeiner Aussprache wurde vom Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (AGiD) in Abstimmung mit dem Arbeitszentrum (AZ) Berlin geplant und durchgeführt. Vorausgegangen war eine mehrmonatige Auseinandersetzung um die öffentliche Ausrichtung des Rudolf-Steiner-Hauses Berlin sowie die soziale Gestaltung des Hauses. Julian Schily (Vorstand AGiD) fasst die Vorgänge sowie den Thementag im Interview mit Sebastian Knust zusammen.
Sebastian Knust: Welche Problemstellung und Aktivitäten haben zu dem Thementag im AZ Berlin geführt?
Julian Schily: Wir sind als Vorstand der AGiD von Mitgliedern aus Berlin und Vertretern anthroposophischer Einrichtungen angesprochen worden. Tenor war, dass man sich von der Ausrichtung der Arbeit im Rudolf-Steiner-Haus Berlin nicht mehr vertreten fühlte. Festgemacht wurde dies u. a. an Vorträgen von umstrittenen Rednern, aber auch an parteipolitischen Aktivitäten der Partei „Die Basis“, die in der Vergangenheit im Haus stattgefunden hatten. Uns wurde eine Atmosphäre im Rudolf-Steiner-Haus Berlin geschildert, die man nicht mehr unterstützen wolle, weil u. a. eine Abgrenzung zu rechtsradikalen Überzeugungen nicht mehr auszumachen sei.
SK: Wie habt Ihr als Arbeitskollegium (Vorstand der AGiD) darauf reagiert?
JS: Wir haben als Arbeitskollegium einen Brief an die Verantwortlichen vor Ort geschrieben, um ein Gespräch gebeten und deutlich gemacht, dass parteipolitische Veranstaltungen in Einrichtungen der Anthroposophischen Gesellschaft nicht mit der Satzung der AGiD vereinbar sind.
Das Gespräch hat zuerst im kleinen Kreis mit Mitgliedern des Vorstands und dem für das Programm in Berlin verantwortlichen „Initiativen-Kreis“ stattgefunden. Als Ergebnis des Gesprächs wurde der Thementag verabredet mit dem Ziel, die Aufgaben und die Ausrichtung des Rudolf-Steiner-Hauses Berlin vor dem Hintergrund der geschilderten Probleme zu thematisieren. Der Vertrag mit der Partei „Die Basis“ wurde von den Verantwortlichen vor Ort bereits im Vorfeld beendet.
SK: Dieses Vorgehen mag manchen als aufwendig erscheinen. Warum hat das Arbeitskollegium nicht einfach „klare Verhältnisse“ vor Ort geschaffen?
JS: Ich kann nur nochmal wiederholen, was wir auch schon in Berlin gesagt haben und Gerhard Stocker schon im November 2023 hier im Interview gesagt hat:
Die AGiD mit all ihren Zweigen, Gruppen und Arbeitszentren ist auf den Konzepten des „ethischen Individualismus“ Steiners aufgebaut.Wir bauen darauf, dass die Menschen und Verantwortlichen wirklich Verantwortung tragen und nicht politisch, aus Machtinteressen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten agieren.Ich sehe daher, genauso wie Gerhard Stocker, überhaupt keine Berechtigung, diesen Prozess top-down zentral zu steuern, solange eine Einsicht möglich erscheint. Das Arbeitskollegium (Vorstand) hat kein Mandat, die Anthroposophie im politischen Spektrum zu positionieren, genauso wenig wie die Untergliederungen dieses Mandat haben.
Dennoch sehe ich die Notwendigkeit, problematische Entwicklungen zu benennen, einzuordnen und die öffentliche Reputation der Anthroposophie zu schützen bzw. weiterzuentwickeln. Dies ist z. B. nötig, wenn Untergliederungen der AGiD die Anthroposophie im rechten Bereich der Politik positionieren bzw. sich mit den oben beschriebenen politischen Strömungen verbünden. Gerät die Anthroposophie in solch einen öffentlichen Diskurs, so hat das Arbeitskollegium der AGiD selbstverständlich die Aufgabe und auch die Pflicht, sich als Anwalt der anthroposophischen Sache den Herausforderungen zu stellen.
SK: Wie lief der Thementag ab, welche Ziele wurden verfolgt?
JS: Es ging hier in erster Linie um ein Verständigungstreffen, weil im Rudolf-Steiner-Haus Berlin und in dessen Umfeld unterschiedliche Konflikte und zum Teil diametrale Ansichten über die Arbeit vor Ort herrschen. Die Frage war daher: Können sich die unterschiedlichen Parteien überhaupt zuhören, sich über die Positionen austauschen und versuchen, ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln? Es war gut, dass die Einladung zur Veranstaltung vom Vorstand der AGiD und dem „Initiativen-Kreis“ des AZ Berlin ausging. Unter anderem deswegen sind viele Menschen gekommen. Die Gesprächsatmosphäre vor Ort war konzentriert und ein sachlicher Ablauf wurde durch die professionelle Moderation von Ingo Krampen gewährleistet.
Der Thementag wurde durch vorbereitete Beiträge von unterschiedlichen Personen eröffnet, die die jeweiligen Blickwinkel auf die Problemstellungen beleuchteten. Anschließend fanden zwei Gesprächs- und Austauschrunden statt.
SK: Welche Ansichten und Haltungen vertrittst Du in diesem Kontext?
JS: Ich bin der Ansicht, dass Anthroposophie der Würde aller Menschen dient und sich nicht mit völkischen, identitären oder rechtsextremen Überzeugungen vereinbaren lässt – auch dann nicht, wenn diese nicht explizit ausgesprochen werden.
Meine grundsätzliche Haltung ist, dass Funktionsträger für ein Rudolf-Steiner-Haus – in diesem Fall die Geschäftsführung des Berliner Hauses sowie die Mitglieder des „Initiativen-Kreises“ – eine übergeordnete Verantwortung für die Anthroposophie, die Anthroposophische Gesellschaft und die anthroposophische Bewegung haben und eigene, private Interessen zurückstellen müssen.
Einrichtungen der Anthroposophischen Gesellschaft wie die Rudolf-Steiner-Häuser sind offene Einrichtungen, die für alle Menschen da sind. Parteipolitik hat da nichts zu suchen, da sie mit den semantischen Unterscheidungen ‚dafür‘ und ‚dagegen‘ arbeitet. Entlang dieser Unterscheidung bilden sich in der Regel Überzeugungen, politischen Meinungen und Positionen heraus, die wiederum Gruppenbildungen hervorrufen. Das widerspricht aus meiner Sicht den Idealen und der Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft und der Anthroposophie, die die Erkenntnisbildung und die Entwicklung der gesamten Anthroposophie in der Gegenwart zur Aufgabe hat. Die Anthroposophische Gesellschaft sollte somit immer die Würde und die Humanität aller Menschen in den Blick nehmen.
Daher müssen wir aus meiner Sicht als Gesellschaft mit polemischen, demagogischen oder polarisierenden Rednern und Veröffentlichungen sorgfältig umgehen, um diese Erkenntnisbildung zu schützen. Ansonsten befürchte ich, wird im Namen des „freien Geisteslebens“ das Gegenteil bewirkt – Erkenntnisfragen werden politisiert und politische Meinungen zu scheinbaren Erkenntnisfragen hochstilisiert.
Konkret bedeutet dies aus meiner Sicht: Ein Buch aus dem neurechten „Antaios-Verlag“ hat auf einem Büchertisch in einem Rudolf-Steiner-Haus nichts zu suchen, denn es ist nicht die Aufgabe anthroposophischer Einrichtungen, publizierte Ansichten dieses Verlags weiterzuverbreiten oder im schlimmsten Fall den Anschein zu erwecken, dies sei eine „wahre Anthroposophie“.
SK: Was ist Dir an Deiner Haltung wichtig?
JS: Es ist meines Erachtens nicht hinnehmbar, wenn sich Menschen im Rahmen der Anthroposophischen Gesellschaft und im Namen des „freien Geisteslebens“ mit Parteien, Menschen und Gruppierungen verbinden, die andere Menschen ausgrenzen (z. B. mit der rechtsextremen „Identitären Bewegung“) und das Rechtsleben und Wirtschaftsleben mit Füßen treten.
Mir geht es nicht um die Einschränkung von individuellen Menschen. Jeder kann seine jeweilige inhaltliche Ausrichtung betreiben, aber nicht im Rahmen eines Rudolf-Steiner-Hauses. Jeder kann z. B. ein Institut gründen, eine Veranstaltung durchführen oder im privaten Rahmen seinen Interessen nachgehen. Aber eine solche Verbrüderung gehört nicht in den Kontext der Anthroposophischen Gesellschaft und nicht in ein Rudolf-Steiner-Haus – auch nicht als „private“ Veranstaltung. Hier muss die Verantwortung der Funktionsträger eines Hauses greifen. Ich bin überzeugt, wir haben als Gesellschaft eine Verantwortung für die inhaltliche Qualität der Anthroposophie und damit für die geistigen Grundlagen der anthroposophischen Praxis. Diese Verantwortung teilen wir mit vielen anderen. Anstelle skurriler Anbiederungen an rechtsextreme Strömungen sollte diese Verantwortung aktiv ergriffen und gefördert werden.
SK: Welches Fazit ziehst Du aus der Veranstaltung?
JS: Es war gut, dass das Treffen stattgefunden hat. Ich wünsche den Berlinern sehr, dass sich viele unterschiedliche Menschen finden, die das Rudolf-Steiner-Haus Berlin als einen lebendigen und offenen Ort weiterentwickeln wollen, zu einem Ort, an dem das Ringen um Verständnis für die Welt nicht mit Parteipolitik oder Meinungshoheit verwechselt wird. Ich sehe außerdem einen dringenden Handlungsbedarf darin, dass diese Fragen, aber auch interne Konflikte vor Ort gelöst werden, um wieder für die Anthroposophie arbeitsfähig zu sein.
SK: Welche Konsequenzen folgen aus dem bisherigen Prozess?
JS: Ich bin der Überzeugung, dass Verantwortliche der Anthroposophische Gesellschaft – und ich meine nicht nur das Arbeitskollegium (AGiD-Vorstand) – für ihre Arbeit ein klares Unterscheidungsvermögen im Umgang mit neurechten Überzeugungen benötigen. Zum Glück ist dies auch überwiegend vorhanden. Aber diese Aufgaben müssten aktiver in der Vernetzung und Zusammenarbeit mit anthroposophischen Initiativen und Einrichtungen vor Ort begriffen werden. Hier liegt noch eine Aufgabe vor uns.
Dies ermöglicht einerseits ein tiefer gehendes Verständnis für die echten Herausforderungen der Zeit und andererseits kann durch eine solche Zusammenarbeit die Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft selbst neu gegriffen und vertieft werden. Wir werden als Arbeitskollegium in diesem Sinne die Arbeit fortsetzen.