Wie mich die Weihnachtstagung begeisterte …
Es hat mich zunächst ein bisschen Überwindung gekostet, nach Dornach zu fahren. Für mich gab es so viel Anziehendes wie Befremdliches, was mich mit dem Ort und der Bewegung in Dornach verbindet. Dennoch war es mir schließlich ein Bedürfnis, gerade zum Jubiläum der Weihnachtstagung der Idee einer geisteswissenschaftlichen Hochschule und dem Goetheanum als Zentrum einer besonderen Gemeinschaft eine neue Chance zu geben. Rückblickend fühlt es sich so an, dass es gut war, dort gewesen zu sein!
Die Anthroposophie selbst war jedoch schon immer Teil meines Lebens. Als Kind mit einem Waldorfhintergrund, Schüler einer Waldorfschule sowie Student der Uni Witten/Herdecke und auch in meiner ärztlichen Laufbahn war ich durch das erweiterte Menschenbild schon immer inspiriert und halte insgesamt viel von der Integrativmedizin.
Um Dornach als Zentrum der anthroposophischen Bewegung und die Gesellschaft habe ich jedoch eher einen Bogen gemacht. Entweder sprach mich die architektonische Last des meist menschenleeren Goetheanums nicht an, oder ich war irritiert von einer gewissen Überheblichkeit und dem verklärten Blick einiger Personen, denen man dort begegnen konnte. So vertraut mir vieles war, so sehr befremdete mich auch das Neue, Unbekannte und Ungewöhnliche, das von der Anthroposophie ausgeht.
Insofern brauchte es zunächst eine Überwindung der Vorurteile und der eigenen Überheblichkeit, um schließlich nach Dornach zur Weihnachtstagung zu reisen.
Umso schöner war es dann, gleich zu Beginn der Weihnachtstagung vom Bach’schen Weihnachtsoratorium willkommen geheißen zu werden. Ein Werk, das mich seit meiner frühen Kindheit begleitet und immer wieder tief berührt. Ich habe das Oratorium als Kind einer Kirchenmusikerin regelmäßig in Kirchen und Konzertsälen während der Weihnachtszeit gehört. Wer hätte gedacht, dass diese so tief bewegende Musik einmal im Goetheanum erklingen und mich ergreifen würde? Ich habe nichts gegen moderne, abstrakte und pentatonische Musik, wie man sie gewöhnlich in anthroposophischen Zusammenhängen hört, doch spricht sie mehr meinen Verstand als mein Herz an. Für mich gehört jedoch das Gemüt genauso wie der Verstand zu einem vollständigen Kunsterlebnis. So wuchsen schon zu Beginn der Tagung für mich mit dem Weihnachtsoratorium im voll besetzten Saal des Goetheanums zwei Welten zusammen.
Was ich schon im Vorfeld mit der Weihnachtstagung verband, waren meine Großeltern, die meine Familie – von der Weihnachtstagung in Dornach kommend – im Anschluss über Neujahr häufig besuchten. Ich kann mich kaum an inhaltliche Erzählungen erinnern, aber spürte ihre innere Verbundenheit zur Weihnachtstagung. Bei der Beerdigung eines Angehörigen hörte ich einmal meinen Großvater am Grab den „Grundsteinspruch“ von Steiner sprechen, was mich sehr beeindruckte. Nun ist mein Großvater im Januar 2023 selbst mit 92 Jahren gestorben, und so war es mir letztendlich auch ein inneres Bedürfnis, ihn in Gedanken mit nach Dornach zu nehmen.
Ein ganz besonderer Moment der Weihnachtstagung war für mich, als Pim Blomaard und Rik ten Cate in ihrem Beitrag ganz überraschend einen neuen Grundsteinimpuls vollzogen. Sie demonstrierten einen neuen, mobilen Grundstein in Form eines doppelten Dodekaeders, das nun durch alle Institutionen und Initiativen der anthroposophischen Bewegung in der Welt reisen darf – auf dass es das Netzwerk der weltweiten anthroposophischen Initiativen festige und eine physische Verbindung zum Goetheanum als Zentrum der Bewegung herstelle. Was für ein Zufall, dass am gleichen Tag, 100 Jahre nach der Verlesung der Statuten der Freien Hochschule durch Rudolf Steiner, ein doppelbögiger Regenbogen über dem Goetheanum stand.
Man spürte auf der Weihnachtstagung ein lebendiges Interesse an der Anthroposophie. Es ist fast unglaublich, wie hier 100 Jahre nach der Gründung der Hochschule und Gesellschaft an dem Ort, der damals mehr oder weniger aus der Ruine des ersten Goetheanums bestand, nun über 1.000 Menschen aus fast 40 Nationen gekommen waren. Sie waren alle Teil dieses besonderen Moments, lauschten Vorträgen und erlebten die unterschiedlichen Qualitäten des Grundsteinspruchs in russischer, englischer, finnischer, italienischer und französischer Sprache oder eurythmisch dargestellt auf der Bühne. So erwachte der Ort über die Tage zu ganz neuem Leben.
In den Beiträgen wurde nicht nur an die Vergangenheit erinnert, auch der zukünftige Impuls einer neuen Generation junger Teilnehmenden war zu spüren. So beeindruckte mich der Beitrag von Nathanael Williams, dem Leiter der Youthsection, der ganz persönlich von seinen Fragen und Zukunftsmotiven berichtete: Wie finden wir Orientierung und mit welcher Haltung begegnen wir den Fragen der Gegenwart? Andrea de la Cruz, Assistentin bei der Allgemeinen Sektion, ergänzte mit dem Bild, dass die Zukunft zwar ein Echo der Vergangenheit ist, wir aber gleichzeitig das Gefäß darstellen, aus dem die Zukunft erklingen kann. Dabei sprühten aus ihrem Referat so viel Enthusiasmus und Zukunftsvision, dass beides sich nicht nur auf mich, sondern auch auf die ganze Gemeinschaft übertrug!
So scheint in den letzten 100 Jahren tatsächlich ein Fundament gereift zu sein, auf dem nun in den nächsten 100 Jahren neue und kraftvolle Blüten schlagen können! Es ist ein wirklich schönes Gefühl, Teil dieses besonderen Moments gewesen zu sein.
Demian B. | junger, anthroposophischer Mediziner | Bodensee