Zum Jahreswechsel 2020 – 2021
Eine Perspektive auf die Herausforderungen im Corona-Jahr
Ich erinnere mich noch gut an den Jahresbeginn 2020. Seit Anfang März war das Thema „Corona“ überall in den Medien anwesend. Der Lockdown kam für die Bürger überraschend. Dann die Verunsicherung, die vielen Zahlen, die drastische Einstufung als eine Jahrhundertkrise, die unterschiedlichsten Auflagen. Das hatten wir noch nicht erlebt: Geschlossene Geschäfte, keine Veranstaltungen mehr, überall Distanz und Masken…
Gleichzeitig gingen die Meinungen über die Pandemie auseinander, Fakten wurden angezweifelt, Verschwörungsmythen und -theorien machten die Runde, das Internet wurde hochgradig strapaziert, das Vertrauen schwand und keiner wusste mehr, wem er glauben kann: Sind die Intensivstationen wirklich überlastet? Gibt es eine überproportionale Sterblichkeit? Sind die Maßnahmen angemessen? Beraubt uns hier der Staat unserer Freiheitsrechte? Ist das eigentlich alles noch demokratisch zu rechtfertigen? Wird hier Angst geschürt? In den Kindergärten und Schulen bildeten sich Fraktionen. Die einen hielten alles für übertrieben und fragwürdig und wollten ihr Leben unbehelligt weiterleben. Die anderen drängten auf strikte Schutzmaßnahmen, man wurde zurechtgewiesen, mitunter sogar angezeigt. Vieles verschwand in den digitalen Raum. „Digital aufrüsten“ war die Devise des Corona-Jahres 2020.
Die Polarisierung in den Medien und im öffentlichen Leben machte auch vor der Anthroposophischen Bewegung nicht halt. Die Anthroposophie fand sich plötzlich am Pranger: Sie sei Nährboden für Verschwörungsmythen und Impfgegnerschaft, hieß es, wenn nicht sogar dem rechtsextremen Milieu nahe, weil unter den vielen Teilnehmern von Corona-Demonstrationen neben Anthroposophen auch Rechtsradikale ausgemacht wurden. Einige Medien nennen Esoteriker und Anthroposophen in einem Atemzug und sehen sie als abgedrehte „Spinner“ an. Wieder andere Artikel prangern eine suspekte, anthroposophische Alternativmedizin an, bei der angeblich mit „Sternenstaub“ Corona-Kranke geheilt werden sollen.
Tatsache ist, dass die Schere zwischen Verarmung (Krisenverlierern) und auf der anderen Seite Krisengewinnern – darunter Unternehmen wie Amazon und Netflix – in den reichen Industrie-Ländern mit einem Ruck weiter auseinandergeht. Dass sich die digitale Technik bis tief in den Zahlungsverkehr hinein durchsetzt. Dass Spiritualität als Esoterik-Bedrohung angesehen wird, dass die Kultur-Welt zum nicht wirklich systemrelevanten Freizeit-Hobby degradiert wird. Dass die Naturwissenschaft ihren Siegeszug fährt und dass Impfungen als ein wesentliches Heilmittel für eine gesunde Menschheit angesehen werden. Dass das Internet zur Meinungsbildungsplattform Top 1 geworden ist und viele der dort präsentierten „Informationen“ aus Fake-News, Aufmache und Meinungs-Populismus immer wieder die Gesellschaft spalten. Es ist nur konsequent, dass der Mangel an Kultur, an spiritueller und moralischer Auseinandersetzung in Amerika den „Trumpismus“ mit seiner Brutalität und Radikalität hervorbringt. Teile der Zivilgesellschaft werden mit ihren Ausschreitungen und Unberechenbarkeiten zur gesellschaftlichen Bedrohung erklärt. Vor diesem Hintergrund wird inzwischen hierzulande die Bürgerbeteiligung als „Direkte Demokratie“ mehr und mehr in Frage gestellt: Aus dem Grundsatzpapier der Grünen ist sie zum Beispiel 2020 verschwunden. Die Politik oder auch sozialen Medien sehen sich genötigt, zunehmend Inhalte im Internet zu löschen.
Andererseits habe ich selten so besonnene, ehrliche, ernsthafte Begegnungen und Versammlungen erlebt. Das Fragen und Suchen nach der eigenen, inneren „Standhaftigkeit“, nach der selbstverantworteten Urteilsbildung, nach der Substanzialität des Gedachten und Erlebten, nach der Echtheit der menschlichen Tiefe, der sozialen Nähe und Glaubhaftigkeit nehmen zu. In Gesprächen wird weniger „drumherum-palavert“. Begegnungen sind kostbar geworden und die Suche nach Krisenfestigkeit zeigt sich auch im seelisch-geistigen Leben jedes Einzelnen.
Deutlicher geworden ist, dass die Gesellschaft und die Erde als Organismus eine riesige Komplexität haben und es keine einfachen, gradlinigen Antworten gibt. Deutlich ist auch geworden, dass alles mit allem „hypervernetzt“ und verflochten ist. Dieser systemische Zusammenhang in einem Organismus komplexer Wechselwirkungen verstärkt die Risiken und die Anfälligkeiten unseres Planeten, aber auch der Wirtschaftssysteme und unserer sozialen Verbindung. Wir haben jetzt umso mehr die Chance, ein Bewusstsein zu entwickeln, das diesem Gesamtorganismus Rechnung trägt, oder wir analysieren immer nur einzelne Symptome und stellen fest, dass sich Ursachen und Wirkungen nicht mehr eindeutig aufeinander beziehen und wir aus dem „Schubladendenken“ oder „Silodenken“ austeigen müssen. In einer solchen Welt helfen Grenzschließungen und territoriale Abriegelungen nur noch sehr rudimentär. In dem „lebendigen Netzwerk“ braucht es ein „lebendiges Bewusstsein“ und „lebendige Begriffe“. Was Dr. Stefan Ruf, Facharzt für Psychotherapie, mit dem Begriff „Klimapsychologie“ beschreibt, kommt dem vielleicht schon sehr nahe. Ihm geht es um ein „atmosphärisches Bewusstsein“ als Weg aus der Krise.*
Das Jahr 2021 könnte Türen öffnen, Akzente setzen in Richtung dieses neuen Bewusstseins. Die bisherige Erwartungssicherheit fällt weg. Mein Beruf, mein Einkommen, meine uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, mein Urlaub und auch meine Denkgewohnheiten sind unsicher geworden. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ebenfalls. Die Frage ist: Wo entsteht eine neue, innere Sicherheit? Worauf kann ich wirklich bauen? Vielleicht brauchen wir den Mut, uns einzugestehen, dass Esoterik nicht nur mit abstrusem „Abdriften“ zu tun hat, dass der Organismus von Mensch und Erde eine ganzheitliche Symbiose bildet, dass Begegnungen im Sozialen die Keimkräfte für das jeweilig Neue, Einmalige sind, dass die digitale Welt ausschließlich die Vergangenheit abbildet, wir Menschen aber Zukunftswesen sind, dass die Vitalkräfte und die Gesundheit des Menschen aus lebendigen Prozessen bestehen, und letztlich, dass wir tatsächlich weitgehend übersinnliche Wesen sind und ein Bewusstsein und eine Verantwortung für alle anderen Wesen auf und um den Erdorganismus tragen: Der Mensch als erkennender „Kreator von komplexen, lebendigen Wechselwirkungen“ ist schöpferisch und mächtig! Wäre das jetzt ein Verschwörungsmythos? Oder einfach eine Zeitnotwendigkeit?
Michael Schmock | Generalsekretär der AGiD
*Dr. med. Stefan Ruf, Klimapsychologie, Info3-Verlag, Frankfurt am Main, 2019