An welcher Zukunft bauen wir?
Gedanken aus dem Treffen des Arbeitskollegiums

Das Arbeitskollegium der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland traf sich Mitte April zum monatlichen Arbeitsgespräch in Stuttgart. Mit Monika Elbert, Antje Putzke und Christine Rüter waren erstmals alle drei neu kooptierten Arbeitskreis-Mitglieder mit dabei. Aufgrund der derzeitig aufgeworfenen Lage und der damit einhergehenden Verlangsamung konnten wir uns ausführlich mit der gegenwärtigen Krise und den Zukunftsaufgaben beschäftigen. Ich will gerne hier auf einige Aspekte eingehen. Was vorher nicht vorstellbar war, hat sich ereignet. Die fortrollende gesellschaftliche Automatik und Dynamik ist einmal angehalten. Die auferlegte soziale Distanzierung in diesem Ausmaß ist eine neue Erfahrung, sicherlich von vielen Menschen sehr schmerzlich erlebt. Gleichzeitig birgt sie die Möglichkeit innezuhalten, schweigsamer zu werden, mehr zu hören: sowohl die eigene tiefere Stimme als auch den Klang der Lebenswelt. Er kommt von außen, aus der Ferne wie scheinbar fremd, und ist doch Teil des eigenen Selbst. Denn eines ist sicher: Die Krise ist menschengemacht. Wer hätte denn nicht schon längst gespürt, geahnt, gewusst, dass es in vieler Hinsicht nicht in dieser Dynamik weitergehen kann und wird. Jetzt ist es etwas ruhiger geworden! Und der Ruf nach Veränderung ist nicht zu überhören. Im Irdischen dient die Ruhe dem Einschlafen, im Geistigen führt die äußere Ruhe zum Erwachen. Gedanken, die mich bewegen: Wir nehmen derzeit den neuen Virus in einer Art Tunnelblick nur als äußeren Feind wahr. Praktisch die ganze Welt, mit wenigen Ausnahmen wie Schweden, fügt sich dem Gedanken, es sei sinnvoll, den Virus außen vor zu halten. Wir verstecken uns gewissermaßen vor ihm. Das Einigeln beinhaltet als Geste eine Art Weltabkehr, die sich auch in dem von uns gemachten und allseits verwendeten Symbolbild des „stacheligen Virus“ wiederspiegelt. Es bleibt damit offen, ob nicht unsere Art zu reagieren zu einer Potenzierung der Probleme führt. Andererseits gilt es nicht zu unterschätzen, welche Warnungen, Aufforderung und Chancen für unsere Zukunftsausrichtung damit gegeben sind. Viren gehören zur Evolution des Menschen und den Übertragungen fremder Viren aus dem Tierreich muss sich die Menschheit immer wieder neu stellen. Die massive Vernichtung natürlicher Lebensräume der Tierwelt durch den Menschen führt zu einer immer noch größeren Bedrängung auf beiden Seiten.[1] Durch die andererseits ins Unendlich wachsende Massentierhaltung weltweit für die Billigfleischproduktion mithilfe aller nur denkbaren Manipulationen, einhergehend mit den entsprechenden Schlachtritualen unter schlimmster Todesangst der vorher eingepferchten Tiere, mutieren die Mikroben und werden immer aggressiver – wen wundert‘s? Alles nichts Neues! Der Klimawandel, wie wir in der Pflanzenwelt beispielsweise sehr anschaulich vorgeführt bekommen, tut mit der Wanderung von Krankheitserreger das Seine dazu. Ebenfalls nichts Neues, und dennoch, wir haben uns so eingerichtet. Die Denkverweigerungen zugunsten der Mechanismen sind enorm. Sollen wirklich weiterhin Kreuzfahrtschiffe mit Tausenden von Menschen beladen nach Alaska fahren um zu sehen, wie die Eskimos leben und um zu schauen, wie die Pole schmelzen? Wenn 2019 in jeder Sekunde des Jahres durchschnittlich zwei Millionen Menschen in Flugzeugen in der Luft waren, wäre es nicht an der Zeit, den Sinn des Lebens neu zu denken? Braucht die Menschheit wirklich eine Kerosin-Subvention für Inlands- und Billigflüge, für Reisewahn? Wer will verantworten, wenn Agenturen für Kreuzfahrtreisen jetzt mit Steuergeldern gerettet werden, bis der Zirkus wieder weitergehen kann? Es ist eine gute Zeit, die großen Fragen nah an sich heranzulassen, Zeit zum Hören, um sich zu öffnen für ein Miteinander. Es ist an der Zeit, die Zukunft neu zu denken, um sich nicht zu verlieren. Das am wenigsten anzustrebende Ziel wäre doch wohl ein „Weiter wie gehabt“, ein „Zurück in die kranke Normalität“. Corona macht krank und fordert Evolution. Das Virus hält uns den Spiegel vor und lässt Ohnmacht erleben. Damit ist ein guter Ausgangspunkt gegeben, aus Freiheit zu tun, was längst überfällig ist. Das eigene Denken stärker, weiter zu aktivieren, große Zusammenhänge konsequent zu denken, hat die Kraft, die Wirklichkeit zu verändern, neue Wirklichkeit zu erzeugen. Das sich daraus erschließende Gefühl wird Erkenntnis und beginnt auszustrahlen. Die Anthroposophie mit ihrem Menschheitsentwurf bietet einen Reichtum an Vertiefungspotential. Setzen wir doch dieser Pandemie der Viren eine Epidemie des Denkens entgegen, das keine Abkürzungen nehmen will und nicht die einfachen Wege sucht. Es sind inzwischen viele interessante Beiträge zu Corona in den anthroposophischen Zeitschriften erschienen. Das Thema ist facettenreich und birgt viel Bewusstseinspotential. Es geht nicht um die schnellen Antworten, vielmehr um die ansteckenden Denkbewegungen und deren hoffentlich sehr hohe Reproduktionszahl als Ideenschmiede für Veränderung. Wie schön, wenn jeder „seinen“ Corona-Text zu schreiben begänne. Aus diesen Vertiefungen, individuell wie auch als anthroposophische Organisation, hinter der viele Mitglieder und Menschen stehen, können wir uns mit den sichtbaren Pionieren und Akteuren für Systemveränderung vernetzen. In Arbeitsprozesse treten mit den Menschen, die mit ihrem Menschsein an einer neuen Welt arbeiten. Der für Juni 2020 geplante und nun auf 2021 verschobene Kongress „Soziale Zukunft“ will gerade hierfür umfängliche Arbeits- und Begegnungsräume bieten. Ein kleines Virus gibt ihm nun noch mehr Bedeutung. Die drei Tage der geplanten Zusammenkunft liegen in einem großen Spannungsbogen der Vor- und Nachbereitung mit den beteiligten Partnern. Die Kraftentfaltung ist lange schon in vollem Gange und wird sich hoffentlich in den daraus hervorgehenden Zukunftsprojekten dann auch weiter zeigen. Allgemein als auch individuell steht die Frage vor uns: Wie viel Starkmut für Veränderung und Erneuerung, wie viel Kreativität und geistigen Wirklichkeitssinn bringen wir auf? Wie viel Geistesgegenwart können wir leben, um Zukunft zu gestalten? Monika Elbert, geb. 1960. Verantwortlich tätig in der Stiftung zur Forschungsförderung; Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Anthroposophie“; kooptiertes Mitglieder im Arbeitskollegium der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Lebt in der Nähe von München.