Gesundheit und Krankheit: Was haben sie mit uns zu tun?

Im Moment herrscht in Bezug auf Gesundheit und Krankheit eine allgemeine Verunsicherung; man hat das Gefühl, dass überall eine unsichtbare Gefahr lauert, derer man sich nicht erwehren kann und durch die man unweigerlich erkranken oder gar sterben könnte, käme man ihr zu nah. Sind wir Opfer eines Erregers oder gibt es auch Möglichkeiten, unsere Gesundheit zumindest teilweise selbst in die Hand zu nehmen? In alten Zeiten nahm man Krankheiten als gottgegeben hin. Es war Schicksal oder der strafende Gott, wenn man erkrankte oder starb. Auch Ärzte oder andere heilkundige Menschen arbeiteten im Einklang mit der göttlichen Welt. Mit dem zunehmenden Ergreifen der sinnlichen Welt wurden auch die Heilmethoden zunehmend aus dieser Welt geschöpft. Bis dahin, dass man immer mehr in die Lage kam, kleinste körperliche Vorgänge zu erforschen und aus dieser Forschung Behandlungsmethoden abzuleiten. Zu Robert Kochs Zeiten ging es im Wesentlichen darum, Erreger zu isolieren, ihre Natur zu verstehen, um sie in Folge mit einem Medikament bekämpfen zu können wie z.B. die Tuberkulose (Mykobakterien). Erreger wurden zu einem „Gegenüber“ des Menschen; sie gehörten nicht in einen Gesamtkontext, sie wurden zunehmend als Feinde betrachtet. Bis dahin, dass man sie als „Giftwesen“ betrachtete (lat. virus: Gift). Dieses Bild ist, wie man gerade weltweit sehen kann, immer noch sehr verbreitet. Durch die moderne systemische Biologie und Medizin weiß man mittlerweile, dass in jedem menschlichen Organismus überall Erreger zu finden sind, ja sie besiedeln ausnahmslos alle Zellen und Gewebe sowohl des Menschen als auch überhaupt die belebte Natur und haben dort wichtige Aufgaben für die Organismen (vgl. Thomas Hardtmuth: Die Rolle der Viren in Evolution und Medizin. In: Jahrbuch für Goetheanismus 2019). Man ging eine Zeit lang davon aus, dass es ausschließlich gute und ebenso schlechte Erreger gäbe. Also die guten, die z.B. unsere Haut- und Schleimhäute besiedeln und dafür sorgen, dass wir mit den Herausforderungen der Nahrungsverarbeitung und der Umwelteinflüsse zurechtkommen. Und die schlechten Erreger, die in uns eindringen und Krankheit erzeugen. Aber auch diese Sichtweise ist überholt. Man weiß, dass vermutlich alle Erreger und insbesondere die Viren gleichzeitig physiologisch vorhanden sind als auch pathogen wirken können. Ebenso ist deutlich geworden, dass Erreger nicht willkürlich mal hier und mal dort herumvagabundieren. Viren z.B. brauchen eine enge Beziehung zu ihrem Wirtsorganismus, um sich überhaupt entfalten zu können. D.h. Viren werden normalerweise in wirtsfremder Umgebung sofort vom Immunsystem abgetötet. Sie entwickeln sich also zusammen mit ihren Wirtsorganismen. Ebenso entfalten sie sich in unterschiedlichen Umgebungen zu verschiedenen Erkrankungen/Wirkungen. Die bei uns vorkommende Variante des Epstein-Barr-Virus ruft das Pfeiffersche Drüsenfieber hervor, in Afrika eine bösartige Lymphdrüsenerkrankung und in China Rachenkrebs. Wenn der Mensch eine Viruserkrankung durchgemacht hat, genießt er in der Regel einen lebenslangen Schutz. Man könnte auch sagen, dass wir etwas Neues und doch nicht völlig Fremdes von der Welt aufnehmen, bearbeiten und zuletzt in den Organismus integrieren. Man hat sich also in Folge ein kleines Stück der Welt zu eigen gemacht. An diesen kleinen Beispielen kann man vielleicht sehen, dass die Erscheinungen der Welt mehr im Zusammenhang stehen, als man zunächst meinen könnte; ja, dass Krankheit in der Natur mit einem Ungleichgewicht derselben und Krankheit eines Menschen mit ihm selber und seinem Verhältnis zur Umgebung zu tun hat. Es ist interessant, dass es Menschen gibt, die durch einen grassierenden Erreger gar nicht erkranken, andere nur wenig und wieder andere heftig. Wenn man die Frage nach dem Warum stellt, wird in der Regel mit den Schultern gezuckt und auf das Immunsystem verwiesen. Das Immunsystem des Menschen besteht aus den Organen des lymphatischen Systems sowie aus über tausend Milliarden Zellen, die vor allen Dingen im Lymphgewebe und im Blut auftreten. Von diesen Zellen können sich rund 10 % täglich erneuern. Das Immunsystem ist jedoch nicht in sich abgeschlossen, sondern steht in vielseitiger Wechselbeziehung mit dem Hormon- und Nervensystem. Außerdem ist das Immunsystem Bestandteil eines übergeordneten Regelwerkes, das von Gedanken und Gefühlen stark beeinflusst wird. In meiner Praxis hat sich gezeigt, dass seelischer Stress durch zu hohe Anforderungen, anhaltenden Ärger, Enttäuschungen, Angst, Trauer und Kummer, Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühle und Scham wesentliche Bedingungen für Erkrankungen sind. Dass hingegen Bejahung des Lebens, Integrität, Zuversicht, Dankbarkeit, Produktivität und Liebe wichtige Grundlagen für Gesundheit darstellen. Viele Menschen meinen, dass ihr Kummer etc. von außen käme, dass sie Opfer von zu viel Arbeit und Angst seien. Das stimmt einerseits, aber man hat dennoch die Möglichkeit, durch die Arbeit an der eigenen Seele die Gesundheit zu verbessern. Krankheiten weisen uns auf einen Arbeitsbedarf an unserer Seele hin. Hier sei als Anregung eine einfache Übung beschrieben, die helfen kann, Herr und Meister der eigenen Gefühle zu werden. Es ist das Üben der Freude. Freude ist die Grundlage für alle Gefühle im Menschen. Durch das Üben der Freude erweitern und kultivieren wir unseren Gefühls- und Seelenmenschen. Um Freude zu üben, richtet man zunächst das eigene Bewusstsein auf einen Freudegrund. Also z.B. auf einen Sonnenstrahl, der durch die Wolken bricht. Dann führt man innerlich das Bewusstsein für den Freudegrund in die physische Herzgegend und verweilt dort einen Moment. Zwei- bis dreimal täglich kann man das üben. Nach einiger Zeit wird man bemerken, dass das Bewusstsein für die eigenen Gefühle geschärft wird. Man wird aufmerksamer, mit welchen Gefühlen man es selber zu tun hat. Später bemerkt man schon im Aufsteigen des Gefühls, dass man sich ärgert, freut oder ängstlich ist. Übt man noch weiter, wird man die eigenen Gefühle im Aufsteigen abschwächen oder verstärken können und weiterhin lernt man, sie hervorzubringen, weil man sie hervorbringen will. Wenn man genau hinschaut, übt man dadurch alle drei Teile der Seele: Das Denken durch das Richten des Bewusstseins auf einen Freudegrund; die Gefühle durch das Üben der Freude und die Handlungsfähigkeit durch das Aufbringen der Übdisziplin. In Folge kann man immer besser an das eigene Innere oder auch das eigene Ich anschließen und erwirbt damit ein Handwerkszeug, mit dem man in die Lage kommt, die eigene Gesundheit und damit das eigene Leben immer selbständiger gestalten zu können. Und das alles durch das Üben der Freude! Sie sehen, liebe Leser*innen, eine kleine Übung kann eine große Wirkung haben, so, wie ein kleiner Virus in einem großen Kontext steht. Er steht im Zusammenhang mit uns und unserer Entwicklung und wir sind dadurch verbunden mit der Entwicklung der ganzen Welt. In diesem Sinne sind Gesundheit und Krankheit im Grunde genommen keine Gegensätze, sondern ein feines Gefüge, das uns unser Verhältnis zu unserer eigenen Entwicklung und der Entwicklung der Welt anzeigen kann.
Es wird dahin kommen, dass man auf dem Gebiet der Krankheiten und Gesundheiten die Relativität entdeckt und wahrnimmt, dass die Krankheiten von heute die Gesundheiten von morgen sein können, und dass nicht immer das Gesundbleiben das untrüglichste Symptom für Gesundheit ist.
(Hermann Hesse) Christine Rüter - Geboren 1962 in Bremen. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Nach ihrem Erstberuf als Eurythmistin ist sie derzeit tätig als Heilpraktikerin in eigener Praxis auf einem Demeterhof in Norddeutschland. Ihre Schwerpunkte in der Praxis: anthroposophische Medizin, klassische Homöopathie, Erziehungsberatung und Lebensberatung auf Grundlage der jeweiligen Konstitution. Quellen: Thomas Hardtmuth: Die Rolle der Viren in Evolution und Medizin – Versuch einer systemischen Perspektive. In: Jahrbuch für Goetheanismus 2019. HG: Naturwissenschaftliche Sektion am Goetheanum, Freie Hochschule Stuttgart. Willibald Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. Ein medizinisches Nachschlagwerk. Verlag De Gruyter.