Aufbruchstimmung
Vom Treffen der Entwicklungskonferenz der Anthroposophischen Gesellschaft „Im herbstlichen Geflecht fließt weiter Leben!“, so lautete das Haiku von Jens Heisterkamp am Ende der Sitzung und kennzeichnete das Stimmungsbild, mit dem wir heiter auseinandergingen. Doch
von vorne geschaut: Schon seit einigen Jahren trifft sich das Arbeitskollegium der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland (im Folgenden AK genannt) zwei Mal jährlich im erweiterten Menschenkreis, um Intentionen, Initiativen, aber auch Krisen einen Reflexionsraum zu geben, eine inhaltliche Vertiefung und Beratung zu suchen. Das Arbeitskollegium (AK) und die „Entwicklungskonferenz“, wie sich der Kreis inzwischen nennt, haben sich am 9. November in Stuttgart dazu erneut getroffen; 14 Menschen waren angereist, um das AK zu erweitern: Florian Bruning (Architekt, Freiburg), Olivia Girard (Waldorflehrerin und AGiD-Mitarbeiterin, Berlin), Carl Hartmann (Jugendsektion in Deutschland), Jens Heisterkamp (Info3, Frankfurt), Wolfgang Kilthau (AZ Frankfurt), Sebastian Knust (AGiD-Projektentwicklung, Stuttgart), Aliki Kristalli (Priesterin der Christengemeinschaft, Stuttgart), Christine Lempelius (AZ Oberrhein, Freiburg), Matthias Niedermann (Projektentwicklung, Tübingen), Anke Steinmetz (AZ Nord, Bremen), Michael Toepell (emeritierter Professor für Grundschuldidaktik Mathematik an der Universität Leipzig), Claudius Weise (Verlag Freies Geistesleiben, Zeitschrift DieDrei, Stuttgart), Ulrike Wendt (Eurythmistin, Jena) und Florian Zebhauser (AZ München). Einige weitere mussten sich entschuldigen.
Um einen kurzen, aber prägnanten Eindruck zu vermitteln, möchte ich hier vor allem die wichtigsten Gesprächsaspekte nennen. Schon durch die Einleitung von Gerhard Stocker wurde deutlich, dass wir auch angesichts der zivilisatorischen Krisen vor größeren Herausforderungen in der Anthroposophischen Gesellschaft stehen, die darauf warten, als Chancen begriffen zu werden, und uns Risikobereitschaft abverlangen. Deutlich ausgesprochen wurde aus der Runde, dass es hier um mehr geht, als darum, das Bestehende in den nächsten kleinen überschaubaren Schritten weiterzuentwickeln. Vielmehr ist ein Neugriff unserer Binnen- und Außenverhältnisse gefordert. Wie kann eine freieste Gesellschaft, als die sich die Anthroposophische Gesellschaft verstehen will, in einer öffnenden Geste sich selbstbewusst wachhalten in dem Grenzbereich von Ideologiebildung auf der einen Seite bis hin zu Anthroposophie-Verlust auf der anderen Seite. Wie kann die Verantwortung für Freiheit als Gemeinschaftskraft in einem so großen Zusammenhang hier konkret gelebt werden? Denn die Anthroposophische Gesellschaft will eine Lerngemeinschaft sein, die das Risiko nicht scheut. Dazu kommt, dass der Lebensraum Erde eine Transformation fordert, die alternativlos ist: Wenn wir den Wandel nicht aktiv gestalten, wird er uns ungefragt ereilen.
Wenn es weiterhin eine Anthroposophische Gesellschaft geben soll, braucht sie eine besondere Aufmerksamkeit im Sinne eines, wie Steiner es öfters formulierte, „bewusstseinsdurchdrungenen gemeinsamen Willenszugs“. In der ausgesprochen guten und sensiblen Gesprächsstimmung wurde deutlich, dass mehr Mut noch für die Wendung von Fragen guttäte: Was braucht die Welt von der Anthroposophischen Gesellschaft? Wie wachsen wir über uns hinaus und schaffen neue Bedingungen im Vertrauen darauf, dass uns dann auch etwas entgegenkommen wird? In einem Beitrag wurde betont, wie wichtig die bei Steiner zu findenden Perlen und Schätze bezüglich des Umgangs mit den Verstorbenen sind. Diese auch für die Zukunftsentwicklung wichtige spirituelle Dimension will gelebt werden. Wie können wir dafür heute eine Sprache finden und eine Praxis kultivieren, um den Zugang zu diesen Perlen auch weitergeben und erhalten zu können?
Auch die Wachheit gegenüber dem Zeitgeschehen wurde als wichtiges Thema benannt, die es nicht erlaubt, sich zu schnell auf Deutungen und Interpretationen festzulegen. Vielmehr gilt es hier, maßgeblich die eigene Kompetenz auszubauen. Manche Einrichtung – als Beispiel wurde eine Waldorfschule angeführt – bewegt sich in Sterbeprozessen, die wohl nicht aufzuhalten sind. Wie können wir solches Sterben verstehen und auch begleiten? Überhaupt entstand die Frage danach, wie wir Wärme an Vergehendes bringen, die – im Sinne eines Komposthaufens – zu neuen Dynamiken führen kann. Welche Strukturen wollen/sollten zu Ende gehen und wie lassen wir das zu? Wir brauchen andere Finanzierungen der anthroposophischen Arbeit, wenn sie weitergehen soll. Bei all dem „Nach-vorne-Gehen“ gilt es aber auch, liebevoll auf das Alte zu schauen.
Es kam die Anregung, einen Freundeskreis um die Anthroposophische Gesellschaft zu bilden für Initiativen und die Möglichkeit, sich frei und projektbezogen zu verbinden, statt auf die Steigerung der Mitgliedszahlen zu zielen. Dabei braucht es auch erhöhte Wachheit für die Peripherie und das uns Entgegenkommende. Wie können wir Bedingungen für diese Begegnungsebene bilden? Ein anderer Punkt: Vielfach wird eine „Geistesführerschaft Mitteleuropas“ heraufbeschworen. Stimmt das so noch? Braucht es nicht ganz neue Impulse für das Rechtsleben? Auch wurde über die unbewusste Furcht vor geistigen Zusammenhängen gesprochen, wie sie vielfach zu erleben ist. Wie bilden wir einen konstruktiven Bezug zur Wissenschaft, wie können wir die Bezüge unserer Mitglieder zu Universitäten aktiver einbeziehen? Auch in diesem Bereich könnte ein Freundeskreis gebildet werden.
Welche Räume brauchen Menschen, die der Anthroposophie neu begegnen? Produktiv könnte außerdem der Umgang mit der Frage sein: Was hat Bestand nach den wachsenden Krisen und daraus folgenden Eruptionen, aus denen es wohl kein Zurück zum Vorher geben wird, was auch nicht anzustreben wäre. Wie können wir eine neue Welt aufbauen und welche Werte können wir hinüberretten in die Zukunft? Was werden einst die Alternativen zum Heutigen sein? Ein weiterer Gesichtspunkt: Die Zeit der Leuchttürme“, also einzelne Pioniere und Pionierinnen, die die anthroposophische Bewegung durch ihre individuellen Fähigkeiten vorwärtsbringen, ist vorbei. Es kam der Aufruf: Lasst uns die Komfortzone verlassen und den Mut haben, der jüngeren Generation etwas zuzutrauen, auch wenn es uns fremd erscheint. Wir müssen voll auf sie setzen, ihr mehr echten Raum geben!
Sie sehen, liebe Leserinnen und Leser, die Liste ist lang und es wäre sinnvoll, dafür in eine Wochenklausur zu gehen, was einfach nicht leistbar ist. Aber wir nehmen sehr viel Anregungen aus diesem Treffen mit und sind gespannt auf den nächsten Schritt im März. Letztlich stellt sich die Frage auch an jeden Menschen, dem die Anthroposophie ein Anliegen ist: Was ist mein persönlicher Beitrag zu diesem Wandel? Welche Fragen sind an mich gestellt? Jeder von uns hat sich bewusst in dieser Zeit inkarniert und Impulse dazu mitgebracht. Wie ermutigen wir uns gegenseitig, diese Impulse auch wirklich einzubringen?
Wir als AK sind für diese Entwicklungskonferenz sehr dankbar, geben die Beteiligten doch Orientierung und Resonanz für unsere Arbeits- und Suchbewegung, anstatt dass „Wunder“ von uns erwartet werden. Wir nehmen erfreut die Stimmung mit, dass wir gemeinsam die „Last der Anforderung“ tragen, und gegebenenfalls auch das Scheitern. Ein Schlusssatz aus der Runde lautete: „Die Anthroposophische Gesellschaft hat ihre Berechtigung, solange sie wandlungsfähig ist. Wandlungsfähig ist sie, solange sie wahrnehmungsfähig ist.“
In diesem Sinne möchten wir auch Sie angeschlossen wissen an unsere hier beschriebenen Bewegungen.
Monika Elbert | AGiD, Vorstand und Generalsekretärin