Mein persönliches Corona-Erlebnis
Wie die eigene Erkrankung meinen Blick auf Covid-19 verändert hat
In diesem Beitrag beschreibt Christine Rüter, Vorstandsmitglied der AGiD, ihre einschneidenden Erlebnisse während ihrer Corona-Erkrankung. Wir, die Newsletter-Redaktion, möchten gerne weitere individuelle Erlebnisberichte von Menschen veröffentlichen, die durch die Corona-Erkrankung gegangen sind oder nahe Erlebnisse mit Erkrankten hatten. Wir freuen uns daher über Zusendungen nach Rücksprache unter: aktuelles@anthroposophische-gesellschaft.org.
Vor gut einem Jahr ging die Nachricht von einem sehr ansteckenden, unter Umständen tödlichen Virus in China durch die Presse. Gibt es nichts anderes zu berichten als über verschiedene Grippeformen, so fragte ich mich damals? Warum kommen in regelmäßigen Abständen Berichte über Erkrankungen wie den Rinderwahn, die Vogel- und die Schweinegrippe, die, so hieß es, z. T. auch auf den Menschen übertragbar seien? Und jedes Mal kannte ich niemanden, der von diesen Krankheiten betroffen war. Einige Monate später verbrachte ich einen Urlaub in Spanien. Es hieß, dass um Madrid herum und in Italien viele Menschen erkrankt seien. „So ist das“, dachte ich, „Menschen leben, Menschen sterben, und zwar nicht nur an einem Virus. Warum ist das plötzlich so besonders?“
Zwei Tage nach unserer Rückkehr wurde der erste Lockdown ausgerufen. "Wie verrückt ist das?“, fragte ich mich. Bis dahin konnte ich durch die unterschiedlichen Berichterstattungen in verschiedenen Medien zu eigenen Einschätzungen kommen. Dies schien mir in der Zeit des ersten Lockdowns nicht mehr möglich. Beim Versuch, Pandemie-Berichte auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, stieß ich überall auf dieselben, gleichförmigen Nachrichten, die mir keine Tiefenperspektiven zeigten. In meinem Bekanntenkreis befragte ich Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger. Berichtet wurde von leeren Kliniken: Die normale Arbeit konnte nicht gemacht werden, weil man alles für die Corona-Kranken freigeräumt hatte. Diese gab es, aber viel weniger als erwartet. Dann starb der Bruder einer Freundin und ein um mehrere Ecken bekannter Arzt an oder mit Corona. Im direkten Umfeld gab es aber niemanden, der an diesem Virus erkrankt war. Konkret und greifbar wurde dieses Thema für mich immer noch nicht.
Das Jahr ging dahin: Es gab Lockerungen; es gab neue Maßnahmen. Viele Menschen in meinem Umfeld fragten sich, was es wohl mit dieser Pandemie auf sich habe. Jeder hatte seine Meinung dazu. Den einen war klar, dass es sich um einen gefährlichen Virus handele, vor dem man sich schützen müsse. Die nächsten meinten, es handelt sich um eine gewöhnliche Grippe, durch die Menschen u. U. auch sterben würden, wie das bei Grippen immer der Fall sei. Wieder andere fragten sich, ob es verhältnismäßig sei, die wirtschaftliche Grundlage vieler Existenzen zu zerstören, die Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken und Menschen einsam sterben zu lassen. Nicht zuletzt gab es auch diejenigen, die um ihre Freiheit bangten.
Meine Hauptfrage war: Was hat das alles mit mir und meinem Leben zu tun?
Vor Weihnachten stand der zweite Lockdown bevor. In meinem Umfeld gab es immer mehr positiv getestete Menschen, u. a. in der Firma meines ältesten Sohnes. „Na ja“, so dachte ich mir, „wo gibt es keine positiv Getesteten? Aber gibt es auch Kranke?“
Mein Sohn bekam ein heißes Knie – dann kam Fieber dazu. „Wieder ein Rheumaschub?“, fragte ich mich. Nach Weihnachten besuchten uns Verwandte. Einen Tag später bekamen alle anwesenden Familienmitglieder die bekannten "Corona-Symptome": das jüngste Enkelkind hatte eine Nacht Fieber, das andere fühlte sich einen Tag nicht gut, meine Tochter litt zwei Tage an Fieber und Geruchsverlust und mein Mann an Gliederschmerzen und Geruchsverlust. Ich selbst hatte neun Tage sehr hohes bis hohes Fieber, die Schleimhäute trockneten aus. Die Organe hatten zunehmend Mühe, ihre Funktion auszuüben.
Mir ging es so schlecht, dass ich eines Nachts die Frage hatte, ob mein Leben an dieser Stelle beendet sein könnte. Am folgenden Tag fiel das Fieber. Zum Glück gab es den befreundeten Arzt, der mich durch die Krankheit begleitet sowie meine Familie, die mich gepflegt hat. Für mich war es nicht nur wichtig, die akuten Symptome zu behandeln, sondern ich musste noch eine ganze Weile arbeiten, bis meine Kraft wiederhergestellt war, musste meinen Körper wieder aufbauen, wieder lernen, mich zu konzentrieren und folgerichtig zu denken. „Sollte ich eine beginnende Demenz haben?“, fragte ich mich zwischendurch. Nun, auch das verschwand durch entsprechende Behandlung wieder. Von einer Erkrankung zu genesen, ist meistens der natürliche Gang der Dinge und gleichzeitig auch ein Wunder!
Durch meine eigene Erkrankung wurde für mich das Thema konkret.Ich habe erlebt, dass es Corona gibt; dass es sich um eine besonders ansteckende Erkrankung handelt. Alle meine Familienmitglieder und fast alle Weihnachtsbesucher erkrankten. Auch die Reaktionen in meinem sozialen Umfeld waren sehr unterschiedlich. Das Spektrum reichte von einem erschrockenen Sprung rückwärts als ich schon längst wieder gesund war, bis hin zu der Frage, ob man vorbeikommen könne, um sich anzustecken, damit man das "Corona-Thema" vorerst abhaken könne. Außerdem musste ich erkennen, dass sich das Bewusstsein der Menschen von der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit sowie zwischen Leben und Tod im vergangenen Jahr verändert hat. Ich musste lernen, an dieses neue Bewusstsein meine eigenen Verhaltensweisen anzupassen.
An mir selber konnte ich beobachten, wie bei einem geschwächten Immunsystem – ich war vor Weihnachten völlig überarbeitet – Krankheiten heftiger ausfallen können. Eine fast noch wichtigere Entdeckung war, wie enorm seelische Faktoren, etwa Sorgen, Ärger, Enttäuschungen, Ängste, die Intensität des Krankheitsgeschehens beeinflussen. Und nicht zuletzt die Frage, ob das eigene Leben vielleicht zu Ende sein könnte. Nun, mein Leben ist nicht beendet und es warten neue Aufgaben. Eine sehe ich darin, zur Konkretisierung des Corona-Gespräches beizutragen. Merkwürdigerweise spricht man in der öffentlichen Diskussion über Infizierte, Verstorbene, Geimpfte – aber über Menschen, die die Krankheit durchgemacht haben und wieder in ihrem Leben stehen, spricht man selten. Warum?
Mir ist die Konkretisierung der Fragen rund um Corona und damit um unser derzeitiges gesellschaftliches Leben wichtig geworden. Ich möchte dazu beitragen, dass wir in die Lage kommen, nicht mehr nur durch die „Entweder-Oder-Brille“ zu schauen, sondern eine ausgewogene Sichtweise zu entwickeln, in der jeder individuelle Mensch seinen Platz finden kann. Damit möchte ich der drohenden Spaltung in die eine Gruppe, für die die Betrachtung der physischen Ebene der richtige Blickwinkel ist, und die andere, für die die spirituellen Ebene am wichtigsten ist, ein klares „Sowohl, als auch!“ entgegenbringen. Es gibt bei Corona wie bei anderen Krankheiten auch eine körperliche, eine seelische und eine spirituelle Ebene, und es ist nicht an mir zu entscheiden, was für andere der tragende Gesichtspunkt sein soll. Gleichzeitig ist mir wichtig, meinen Blickwinkel vertreten zu dürfen.
Ich habe bei Krankheiten, so auch bei Corona erlebt, dass der betroffene Mensch einen wichtigen Beitrag zur eigenen Gesundung leisten kann. Ich denke, dass diese Gesundungskräfte auf das soziale Miteinander übertragbar sind, das im Moment einer harten Prüfung ausgesetzt ist. Das Soziale setzt sich zusammen aus individuellen und gemeinschaftlichen Faktoren; aus dem Abwägen zwischen der Freiheit des Einzelnen und den Regeln für ein funktionierendes Gemeinschaftsleben. Für mich hat Corona bewirkt, dieses Verhältnis in ein neues Gleichgewicht zu bringen.
Christine Rüter, AGiD Vorstandsmitglied