Anthroposophie, Frauen und Geschlechtlichkeit – gediegen und reichhaltig
„Frauen und Anthroposophie“ – einige waren lange gereist, um an dem Thementag am Samstag, 13. Juli 2024, im Rudolf Steiner Haus Berlin teilzunehmen. Den Auftakt und Schluss bildeten Lieder der noch nicht lange wiederentdeckten Komponistin Fanny Mendelssohn-Hensel (1776–1835), gesungen von Judith Kamphues und am Flügel begleitet von David Menge.
Birgit Grube-Kersten (Berlin) ging in ihrem Einführungsvortrag der Frage nach, wie sinnliche und geistige Liebe zueinanderstehen. Sie verband diese Frage mit Rudolf Steiners Aussagen über eine zukünftige „Kunst des Sozialen“ und mit den Aufgaben des Bewusstseinsseelen-Zeitalters. Anschaulich schilderte sie die Vereinbarkeit von sinnlicher Geschlechterliebe und vergeistigter christlicher Liebe anhand von Romanen des Mittelalters und besonderen Erläuterungen Rudolf Steiners auch zu Goethes „Faust“.
Martina Maria Sam (Dornach) überraschte mit Rudolf Steiners Kontakten zur Ersten Frauenbewegung um 1900: Rosa Mayreder, Gabriele Reuter, Berta Fanta, Helene Stöcker, Hedwig Dohm und Bertha von Suttner. Über seine Auffassung der Frau als einer freien Individualität konnte Steiner sich mit ihnen sehr gut verständigen. Dem Zauberwort Gleichberechtigung blieb er bis ans Lebensende treu, zum Beispiel in der paritätischen Besetzung des Vorstandes bei der Weihnachtstagung.
Die Gleichberechtigung der Priesterin war bei der Begründung der Christengemeinschaft durch Rudolf Steiner veranlagt worden, so Ute Lorenz (Frankfurt) in ihrem Vortrag. Jedoch sollten die Priesterinnen laut Steiner ihre weiblichen Qualitäten (auch eine spezifisch anders geartete weibliche Begriffsbildung) bewusst in den bisher von Männern geprägten Beruf einbringen. Dies gelang zunächst nur teilweise, wie Ute Lorenz an Marta Heimeran, einer der ersten drei Priesterinnen aus dem Gründerkreis, aufzeigte.
Im Podiumsgespräch und an der Aussprache zum Abschluss nahmen neben den drei Rednerinnen auch Barbara Messmer (Frankfurt, Frauenrat der Anthroposophischen Gesellschaft) und Carlotta Brissa (Uni Witten-Herdecke) teil. Es wurden die Themen Aktualität der Frauenfrage, die zweite Frauenbewegung der 1970er-Jahre, die nicht binäre Geschlechtlichkeit sowie ein konstruktiver Umgang mit der Polarität von Frau und Mann angesprochen.
Gemeinsames künstlerisches Üben (Kanon-Singen, Eurythmie mit Margit Gunkel) brachte die Teilnehmenden in eigene Aktivität. Für den sorgfältig gestalteten Tag und ihre mutige Initiative waren alle Birgit Grube-Kersten sehr dankbar. Sie hatte bereits für Freitagabend Martina Maria Sam zu einem öffentlichen Vortrag über Anna Eunike und Rudolf Steiner gewinnen können, der großen Zuspruch fand. Der Samstag verlieh dann einem – in anthroposophischen Kreisen immer noch wenig behandelten – Thema Gewicht und Stimme.
Barbara Messmer | Arbeitszentrum Frankfurt